Fingerzeige aus Wien



Da wurde uns doch immer Österreich als das Musterländle präsentiert, von dem man lernen solle, um die eigenen Probleme zu meistern. Eine florierende Wirtschaft mit drei Prozent Wachstum, Konkurrenzfähigkeit der Industrie, relativ niedrige Arbeitslosigkeit von 6,1 Prozent – das klang gut, war aber offenbar nicht die ganze Wahrheit. Denn all das kam vor allem den Begüterten zugute, und die sind eben immer noch eine Minderheit, mit der man Wahlen nicht gewinnen kann.
Die Mehrheit der Österreicher jedoch macht eine andere Rechnung auf. 54 Prozent konstatierten schon vor der Wahl, dass es ihnen schlechter gehe, seit ÖVP-Chef Schüssel regiert. Zwar haben viele Arbeit, aber dieses Kriterium taugt immer weniger als Wohlstandsnachweis in einer Zeit, in der immer häufiger Niedrigstlöhne gezahlt werden. Die mehren zwar die Gewinne der Unternehmen, nicht aber die Einkommen der Beschäftigten. Auch in Österreich sank der Anteil der Löhne am Volkseinkommen von 65 auf 58 Prozent, und eine Million Österreicher gelten heute als arm.

Sie haben die ÖVP und Schüssel abgewählt, auch wenn sie sich von einer schwankenden SPÖ wenig erhoffen mögen. Und sie setzen damit einen europäischen Trend fort, bei dem in Wahlen jene gnadenlos abgestraft werden, die beim Regieren nicht nur ihre Versprechen, sondern auch ihre ureigene Wählerklientel vergessen. Wer regiert und nichts für die Mehrheit der Menschen tut, so lautet die Botschaft aus Wien, wird deren Vertrauen und damit die Regierungsmehrheit verlieren.
Aber noch etwas anderes zeigt der Wahlgang in Österreich: Rechte Parteien werden vor allem dann stark, wenn die so genannten Demokraten deren Forderungen und Parolen übernehmen und damit salonfähig, ihre Erfinder aber zugleich wahlfähig machen. Schüssel hat in seiner Koalition mit dem FPÖ-Ableger BZÖ die Haider-Neugründung nicht nur gewähren lassen, er versuchte sie teilweise sogar rechts zu überholen. Das brachte nicht nur dieser Splittergruppe ein gutes Resultat, sondern machte die FPÖ selbst zur drittstärksten Partei. Auch das überrascht nicht, war doch schon anderswo zu beobachten, dass rechtsradikale Sprüche der »Demokraten« Wähler nicht von Neonazi-Parteien wegholen, sondern im Gegenteil zu deren Wahl ermutigen; man wählt lieber das Original und nicht die Kopie.