Es ist gerade einen Monat her, da hat der Theologe Richard Schröder, der von den Mainstream-Medien gern als ostdeutsches Sprachrohr ihrer eigenen Ansichten genutzt wird, auf dem Evangelischen Kirchentag in Schwerin eine Rede gehalten, in der er sich »Über Deutschland« auslässt. Eine Rede also, die gut zum heutigen Tage passt, weshalb der Anlass genutzt werden soll, einiges dazu noch nachträglich anzumerken.
Schröder stellt durchaus richtig fest: »Wir haben uns vereinigt. Nicht einmal die PDS fordert die Wiederherstellung der DDR. Sie hat auf ihre Weise eine Vereinigung vollzogen. Die Mehrzahl ihrer Bundestagsabgeordneten sind jetzt Westdeutsche.« Und zutreffend beschreibt er auch, dass Deutschland schon immer durch markante Unterschiede geprägt wurde und es gelernt hat. mit ihnen zu leben. Seiner Aufzählung von Differenzierung zwischen Nord und Süd oder nach ideologischer Sicht, wirtschaftlicher Situation ist kaum zu widersprechen. Aber hier beginnen auch die Differenzen mit ihm, denn von seiner politischen Position her sieht er alles, was sich seit der Vereinigung in Deutschland ereignete, grundsätzlich positiv. Zwar moniert er einige kleine Unzulänglichkeiten, aber auch die begründet er sogleich und stellt sie mithin als ziemlich unabänderlich dar.
Von dieser Position her stellt er alle Kritiker des Einigungsprozesses in die Ecke. Sie gingen, so Schröder, von falschen Maßstäben aus. Er sagt: »Westdeutsche pflegen zu fragen: warum sind die Ostdeutschen immer noch so anders als wir? Und Ostdeutsche fragen: warum haben wir noch immer die höhere Arbeitslosigkeit, niedrigere Einkommen und längere Arbeitszeit? Beide vergleichen sich an einander – und sind unzufrieden. Beide übersehen das Ausmaß der Aufgaben, die mit dem Ende des Sozialismus gestellt waren, politisch, wirtschaftlich und mental. Deshalb übersehen sie auch, was bisher Beachtliches geleistet worden ist.«
Als erstes nennt er die Herbstrevolution und den von ihr ausgelösten Elitenwechsel, der Kennzeichen jeder Revolution sei. Doch seine Verkürzung dieses Elitenwechsels auf den Einzug von Pfarrern und anderen Kirchenvertretern in staatliche Funktionen greift bei weitem zu kurz; der wurde auch in der noch existierenden DDR nicht in Frage gestellt. Was Unmut auslöste – und das angesichts der Qualität der neuen »Eliten« oftmals zu Recht – war die Übernahme fast aller wichtigen und vor allem gut dotierten Stellen durch Westdeutsche. Das gab es in den anderen osteuropäischen Ländern, mit deren Entwicklung Schröder oft gern jene in der Ex-DDR vergleicht, nicht, und sie fühlen sich daher auch weit weniger fremdbestimmt. Der Theologe erwähnt zwar den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik ohne Wenn und Aber, dazu aber fällt ihm nichts weiter ein.
Was er über die DDR-Wirtschaft sagt, ist in vielem zutreffend, doch die Gründe für unzureichende Investitionen, was die DDR in vieler Hinsicht vom Weltmarkt abkoppelte, lagen vor allem in der völlig anderen Zielstellung, die sich die DDR-Ökonomie gab. Ihr ging es nicht um Profit um jeden Preis, sondern die Gewinne sollten dazu dienen, hohe soziale Standards zu finanzieren. Später kommt Schröder darauf noch einmal zurück, als er von der »verdeckten Arbeitslosigkeit« in der DDR spricht; sie gehörte eben zu diesem sozialen Anspruch, den sich der DDR-Staat selbst gesetzt hatte. Man kann sagen, dieses utopische Modell ist gescheitert, aber es ist nicht zu diffamieren, weil es eben den Menschen und seine Bedürfnisse viel mehr im Blick hatte als jenes der heutigen entfesselten Marktwirtschaft. Und es wirkte sich damals sogar auf die Volkswirtschaften der westlichen Länder aus, in den soziale Aspekte ein weitaus größere Rolle spielten als heute, da das trotz aller seiner Unzulänglichkeiten nicht einfach zu ignorierende Konkurrenzmodell verschwunden ist.
Was er sonst über die ökonomische Situation im Osten Deutschlands sagt, ist ein einzige Apologetik der bestehenden Verhältnisse. Er bagatellisiert Arbeitslosigkeit wie Abwanderung in den Westen und lobt die unbestreitbaren qualitativen Fortschritte der heute gebauten Wohnungen und der jetzigen Gesundheitsfürsorge, ohne jedoch zu sehen, dass sich das eine wie das andere immer weniger leisten können – eine Entwicklung, und das ist das eigentlich Beunruhigende, die noch lange nicht zu Ende ist.
Liest man Richard Schröders Verteidigungsrede aufmerksam, so wird man schnell eine Diktion finden, die aus DDR-Zeiten wohlbekannt ist., nämlich den Hang, alles, auch das Unmöglichste, »dialektisch« zu erklären und damit faktisch unangreifbar zu machen. Früher wurde das oft mit der Mahnung verbunden, keine Fehlerdiskussion zu führen. Das ist heute eigentlich aus der Mode gekommen; oftmals werden sogar Systemfehler eingeräumt, um darauf etwas hilflos die schultern zu zucken. Schröder aber reicht das nicht. Er muss alles verteidigen, was heute über uns gekommen ist, so wie wir früher alles verteidigt haben – oftmals gegen unser Gefühl und manchmal sogar gegen unseren Verstand.
Das ist fast ein sympathischer Zug, gerade weil er vielen ehemaligen DDR-Verteidigern zu vertraut ist. Und wohl auch, weil Schröder dabei im Eifer des Gefechts die unabänderlichen Ungereimtheiten oder gar Bumerang-Argumentationen unterlaufen, die eine solche Methode mit sich bringt. So wenn er Oskar Lafontaine dafür angreift, dass er 1990 gefordert habe, »Ostdeutsche von nun ab zurückzuschicken, da sie ja keine Flüchtlinge mehr seien – und um die eigenen Fleischtöpfe vor überzähligen Essern zu schützen«. Ist dem Theologen entgangen, dass heute dieses Zurückschicken mit genau dieser Zielstellung europaweit Staatspolitik geworden ist – und zwar gegenüber echten Flüchtlingen. Oder fast zum Schluss, als Schröder – ungehalten über die wachsenden Zweifel an der Demokratie – fragt, »ob die Befragten tatsächlich meinen, eine Diktatur würde die Probleme lösen«. Mit solcher Gleichsetzung stellt er der Demokratie ein arges Armutszeugnis aus – ganz ähnlich der in der DDR am Ende aller unbefriedigenden Antworten stehenden Frage: Willst Du vielleicht den Kapitalimus wiederhaben?