Hätte es gestern so etwas wie einen Wettbewerb gegeben um die klügere politische Entscheidung zwischen dem Komitee, das über den Literaturnobelpreis entschied, und jenen 102 von 577 Abgeordneten der französischen Nationaversammlung, die wegen des demonstrativen Fehlens der Parlamentsmehrheit ein Gesetz zum türkischen Massenmord an den Armeniern zwischen 1915 und 1923 durchsetzten – Sieger wären eindeutig die Stockholmer Intellektuellen geblieben. Denn sie ehrten mit Orhan Pamuk einen Autor, der – selbst ein Türke – zum Völkermord an den Armeniern so konsequent wie sensibel für die Gefühle seiner Landsleute Stellung bezogen, dafür einen Prozess riskiert und am Ende doch gewonnen hat. Sie empfahlen damit für die Diskussion heikler Themen der Geschichte, die überall in der Welt das friedliche Zusammenleben heutiger Völker beeinträchtigen können, Augenmaß und Geduld statt der ideologischen Brechstange, die – wie hier – zumeist mit sehr kurzzeitigen parteipolitischen Interessen einher geht.Damit hat das Nobelpreiskomitee zugleich auch jenen deutlich widersprochen, die als Literatur nur das bezeichnen möchten, was als das Ästhetische schlechthin ohne politische Botschaft auskommt, die l’art pour l’art zum Maßstab allen künstlerischen Schreibens erheben und die gesellschaftliche Situation aus Büchern fernhalten wollen. Ihnen ist das Nobelkomitee eigentlich nie gefolgt, im Gegenteil. Die Geschichte des Preises zeigt, dass neben der literarischen Leistung stets auch der Standpunkt des Geehrten zu Grundfragen seiner Zeit ein wesentliches Kriterium für die Ehrung war. Das betraf den britischen Essayisten, Kriegsdienstverweigerer und Friedenskämpfer Bertrand Russell 1950 ebenso wie 1958 den in der Sowjetunion wegen seiner Kritik am realen Sozialismus nicht sonderlich geschätzten Boris Pasternak. Es trifft auf Alexander Solschenizyn 1970 zu und auf Pablo Neruda ein Jahr später, auf den Nigerianer Wole Soyinka 1986, den Ägypter Nagib Mahfus 1988, die Südafrikanerin Nadine Gordimer 1991 und Günter Grass 1999. Und natürlich auch auf die Entscheidungen der letzten beiden Jahre: Elfriede Jelinek und Harold Pinter.
Diese Tradition wurde nun in Stockholm fortgesetzt, zum Wohle einer Literatur, die sich nicht in den Elfenbeinturm zurückzieht, sondern Partei ergreift – nicht für die eine oder andere politische Richtung, sondern für den Menschen und sein Auskommen auf dieser Erde.
Siehe auch:
Ömer Erzeren: Für eine Literatur ohne politische Komplexe (Berliner Zeitung v. 14.10.06)