Tiere, so sagt man oft, seien die besseren Menschen. Also auch Vögel, wobei die dazu noch die klügeren Menschen sind. Denn sie habe eine Gabe, der der Mensch mit ganzen Wissenschaftlerkompanien hinterherhechelt, ohne bisher zu befriedigenden Ergebnissen gekommen zu sein: Vögel verstehen die Natur so gut, dass sie schon lange vorher wissen, was diese in Zukunft für sie bereit hält.
Gegenwärtig zum Beispiel hören wir die Vögel in den Parks und Gärten, auf Terrassen und Balkonen zwitschern, als sei schon lange der Frühling ausgebrochen. Sie tun mit lauten Gesängen kund, wo ihr Revier ist, dass sie ein Weibchen suchen und sich im übrigen schon mächtig auf den Frühling freuen. Und sie sind nicht faul dabei. Körnernahrung in Vogelhäusern holen fast nur noch die Spatzen und Finken. Meisen suchen schon die noch kahlen Äste und Zweige der Bäume ab, denn da krabbeln bereits die ebenfalls früh erwachten kleinen Insekten. Stare spazieren durchs schüttere Gras, und Spechte beklopfen die Baumstämme.
Irgendwoher wissen die Vögel, dass es mit dem Winter vorbei ist, während wir uns noch ängstlich in warme Mäntel hüllen und die Mützen überstülpen. Manche überlegen sogar, ob doch noch etwas schnell im Winterschlussverkauf zu erstehen ist; man weiß ja nie, ob die große Kälte noch kommt. Die Vögel glauben nicht mehr daran und rüsten bereits für die neue Sommersaison. Und könnten Recht behalten – eben weil sie die klügeren Menschen sind. Das soll übrigens schon Napoleon erfahren haben, der im November 1811 in Richtung Moskau aufbrach, obwohl zur gleichen Zeit – und früher als gewöhnlich – die russischen Störche und Kraniche längst in den Süden abgezogen waren. Sie hatten den kommenden eisigen Winter vorhergefühlt und sich in Sicherheit gebracht, Bonaparte aber nicht.
Aber nicht alle Vögel sind so schlau. Wie unter den Menschen gibt es auch unter ihnen echte Konservative, die sich nach gefühlten Wetterprognosen nicht richten, sondern nach Tradition und Brauch. Während andere Vögel früher aus dem südlichen Winterquartier zurückkamen oder gar nicht erst dorthin aufbrachen, hielten sie sich an ihre Gepflogenheiten und machten sich dann auf, als es der Kalender ihnen befahl. Sie kommen auch erst zurück, wenn es die Dienstvorschrift zulässt. Zu ihnen gehört übrigens der Kuckuck, der bekanntlich als Schmarotzer gilt, weil er seine Eier in bereits bebrütete Nester legt, wo sein Nachwuchs dann die wirkliche Nachkommenschaft des offensichtlich blinden Vögelchens verdrängt. Ihm könnte seine Sturheit in Sachen Reisen zum Verhängnis werden, denn der frühe Vogel fängt den Wurm. Was hier heißt, wenn der Kuckuck mit allzu viel Verspätung kommt und seine Eier legen will, sind in den Nestern vielleicht die Jungen schon geschlüpft – und die Mutter hat keine Zeit mehr zum Brüten, sondern alle Flügel voll tun, die Schreihälse zu füttern.
Da schließt sich dann wieder der Kreis zum Menschen. Auch hier haben oft jene das Nachsehen, die die Zeichen der Zeit nicht verstehen. Oder wie Gorbatschow sagte: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.
Hier meldet sich eine Pädagogin a. D. , eine Oberstudienrätin in ihrem ersten Lehrerleben, die sich traut, den Artikel etwas zu bekritteln. Der Artikel liest sich gut, der Schreiber muss ein Tierfreund sein.
Er enthält aber ein paar unwissenschaftliche Formulierungen. Im Verhalten der Tiere, hier der Ethologie der Vögel, gibt es Grundregeln, die beim Schreiben beachtet werden müssen. Mit zahlreichen Experimenten lässt sich nachweisen, dass Bewegungsabläufe erblich bedingt, also oft angeboren und deshalb bei allen Artgenossen zu beobachten sind; sie zeigen ein artspezifisches Verhalten. Ein schönes Beispiel ist die Mimik junger Mädchen beim Flirten, die weltweit erstaunlich übereinstimmend ist, weil Erbinformationen von Generation zu Generation weitergegeben werden.
Die Vögel jedoch werden vom Schreiber vermenschlicht. Formulierungen wie »Vögel wissen vorher …«, »Vögel sind schlau …«, »Vögel freuen sich …« sind schlicht und einfach falsch. Aber vielleicht bildet der Mensch beim Beobachten von Vögeln im Frühling »Glückshormone«, die dann Glücksgefühle auslösen, die zu solchen Formulierungen führen … Der berühmte Biologe Alfred Brehm hat es übrigens nicht besser gekonnt, seine Vermenschlichungen sind in »Brehms Tierrleben« nachzulesen.
Die Ethologie ist eine junge Wissenschaft; deshalb muss sich Napoleon nicht verärgert im Grabe umdrehen, weil er das Verhalten der Piepser nicht verstanden hat.
Wenn ich aber ein Vöglein wäre, würde ich meinen Schnabel unter den Flügel stecken und schweigen. Aber ein Lehrer muss eben den Heftrand immer mit roter Tinte bekrakeln.