In der DDR ist Egon Krenz gescheitert, in der Bundesrepublik erhielt er die zweite Rolle seines Lebens. Heute wird er 70
Von Peter Richter
Egon Krenz hat schon schlechtere Tage erlebt als den heutigen, seinen 70. Geburtstag. Zum Beispiel den 21. Januar 1990. Da traf es ihn schon in den ersten Minuten des neuen Tages, als die Schiedskommission der SED-Nachfolgepartei »nach mehr als eineinhalbstündigem Verhör«, wie er selbst verbittert schrieb, verkündete: »Aus der Partei ausgeschlossen.« Und eine Genossin habe ihn dann gar mit »Herr Krenz« angeredet und die Rückgabe seines Parteibuches verlangt. Das aber gab er nicht her: »Ich habe ein Mitgliedsbuch der SED. Darauf hat Ihre Partei kein Anrecht. Ich gebe es nicht ab.« Er wollte in der SED bleiben, die seine politische Heimat war – und dort ist er denn auch bis heute geblieben.
Denn in der SED hatte er seine guten Tage. Mit 18 trat er ein, und sie nahm ihn nach Lehrerstudium und NVA-Dienst sofort unter ihre Fittiche. Sein Berufsleben war das eines Funktionärs; es begann 1959 als 2. Sekretär der FDJ-Kreisleitung Bergen auf Rügen und endete gut 30 Jahre später damit, dass ihm eben nur noch das Stück rote Pappe hinter Klarsichtfolie blieb. Dazwischen war er FDJ-Chef in Rostock, Sekretär des FDJ-Zentralrats in Berlin, Parteihochschüler in Moskau, der oberste Junge Pionier der Republik, schließlich erster FDJler der DDR, der er bis zu seinem 46. Lebensjahr blieb. Die Karriere in SED-ZK und Politbüro war in vollem Gange; sie gipfelte in der Verantwortung für Sicherheit, Staats- und Rechtsfragen. Und war verbunden mit einer heimlichen Kronprinzenrolle, die freilich den Schwankungen des Systems unterlag.
Egon Krenz hat in all den Jahren im DDR-Funktionärsapparat alles mitgetragen, was beschlossen wurde. Und mehr als das: Er war an vielen dieser Beschlüsse aktiv beteiligt – in seiner Funktion als Sekretär für Sicherheit gerade auch an denen, die das Rechtssystem in der DDR deformierten und eine Atmosphäre der Überwachung und der Verfolgung Andersdenkender schufen und immer weiter perfektionierten. Für ihn spricht zwar, dass er sowohl bei der Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 in Leipzig als auch bei der Grenzöffnung einen Monat später die Anwendung von Gewalt kategorisch ausschloss, doch Anzeichen eines echten Umdenkungsprozesses waren das nicht. Im Grunde setzte die SED in den sieben Wochen unter Krenz‘ Führung ihre alte Politik fort; wie gehabt konzentrierte der Generalsekretär alle Macht bei sich, verzichtete auf einen echten Dialog mit den Bürgern und sogar den Parteimitgliedern und machte weiter mit den alten Kadern.
Die Quittung kam schon am 4. November, als viele Transparente auf dem Alexanderplatz die mangelnde Lernfähigkeit der Führung aufs Korn nahmen. »Macht die Volkskammer zum Krenz-Kontrollpunkt« wurde da gefordert und »Reformen – aber unbekrenzt«. »Was das Volk schon lange weiß, macht Egon erst seit gestern heiß«, spotteten die Demonstranten und rieten selbstbewusst. »Prima, Egon, wende gehst«. Doch daran war nicht zu denken. Bis heute sieht er sich im Recht: »Ich habe mich bis zuletzt dagegen gewehrt, dass das Zentralkomitee zurücktritt … Mein Verständnis von Verantwortung war, dass ich nicht das Recht hätte, die Sachen hinzuwerfen.«
Seit 1990 hat Egon Krenz viele schlechte Tage erlebt, aber er hat gelernt, daraus das Beste für sich und seine Sache zu machen. Tatkräftig halfen ihm dabei die Behörden der neuen Bundesrepublik, vor allem deren Justizorgane. Sie suchten fieberhaft nach Straftatbeständen, mit denen sie gegen Krenz vorgehen konnten, und fanden schließlich Totschlag durch »aktives Tun« bei den Schüssen an der Mauer. Vier konkrete Fälle wurden ihm angelastet, denn: »Für die tödlich wirkende Aufgabenstellung an die Grenztruppen war stets das Politbüro verantwortlich.« Mit dieser rabulistischen Begründung verurteilte ihn das Berliner Landgericht zu sechseinhalb Jahren Haft, von denen er trotz aller Revisionsverfahren und Verfassungsbeschwerden fast vier Jahre absaß.
Mit diesem Urteil wurde Egon Krenz zu einer Symbolfigur der neuen Bundesrepublik aufgebaut. Man brauchte ihn – als Feindbild und Buhmann. Und auch er richtete sich damit ein; der Kampf gegen die Justiz, der Kampf gegen das neue ungerechte System, das ihn kleinkriegen wollte, wurde ihm zum neuen Lebensinhalt. Während ein Günter Schabowski die Rolle des Wendehalses wählte, entschied sich Krenz für jene des kollektiven Märtyrers, der seither für alle steht, die sich zu den Wendeverlierern zählen. Es ist der zweifellos bessere Part, kann sich doch Krenz in der Sache eher in der Tradition seines Wirkens sehen als sein einstiger Politbürokollege. Zwar steht er alljährlich am zweiten Januarsonntag nicht mehr auf einer Tribüne auf dem Friedhof Friedrichsfelde, aber doch nicht so weit von ihrem einstigen Standort entfernt, dass er nicht wie einst die Huldigungen der Seinen entgegennehmen könnte.
Mittlerweile gehört Egon Krenz so sehr zum Inventar unseres Landes, dass er jungen Leuten schon mal als »Ronald Pofalla der SED« erklärt wird. Und in einer schwachen TV-Stunde gesteht, dass ihm an Angela Merkel imponiert, »wie sie gewissermaßen manche Leute an der Leine hat und mit denen ihre Politik macht«. Das schadet dann doch der Opferrolle, weshalb schnell per Leserbrief die Interpretation nachgereicht wird. Wer die Sendung gesehen habe, werde »nicht bestreiten können, dass ich als Kommunist mein Leben in der DDR verteidigt … habe«. Er ist und bleibt eben der Generalsekretär.
(Originaltext aus: Neues Deutschland vom 19.03.2007)