Am Anfang ist der Bauherr tatsächlich der Herr. Der Bauträger, der wohl so heißt, weil die ganze Last des Baues auf seinen Schultern lastet, blickt zu ihm auf und hebt die Hände, als wolle er auf diesen auch noch den Bauherrn tragen. In Wirklichkeit schnippst er aber mit den Fingern, um zwischen diese endlich die Geldbündel des Bauherrn zu bekommen, auf dass er seine gepeinigten Bauherrenschuiltern damit auspolstern könne. Und so wie der Bauträger durch solch pekuniäre Weichmacher Entlastung erfährt und Härte entwickelt, so verliert der Bauherr seine Herrlichkeit, wird zum Knecht – zum Bauknecht gewissermaßen.
Die neue Rolle erfährt er spätestens dann, wenn er die ersten Risse im Beton entdeckt und – noch immer herrisch – Nachbesserung verlangt. Dann zeigen die eben noch erhobenen und nun von schweren Schulterpolstern nach unten gedrückten Hände auf ihn herab und bedeuten ihm: Nichts ist. Wir haben die Risse nicht verursacht. Das waren Wind und Wetter, salzige Seeluft, die heranweht, das Rumoren der Erdwärmeanlage, vielleicht auch der Klimawandel. All das wirkt schließlich auf ein luftiges Häuschen – und das wehrt sich eben, mit Rissen im Beton.
Das ist beim Häusle mit Wasserblick ebenso wie beim Mahnmal in Zentrumslage, zum Beispiel den Berliner Holocaust-Stelen. »Wie jedes Material«, schreibt dazu die Berliner Zeitung, »wird Beton Zeit seiner Existenz bearbeitet: vom Wind, Sonne und Regen, von Erdbewegungen, die weit unterhalb der Erdbebenschwelle Wirkung entfalten durch Grundwasserströme, Straßenverkehr, U-Bahnen, selbst den Schritten der Menschen. Beständig kämpft das Material gegen die Gravitationskraft der Erde um seine Form. Ein Riss zeigt also erst einmal, nüchtern betrachtet: Hier wurde Spannung abgebaut und damit neutralisiert.«
Die Bauträger von Ushuaia im tiefen südlichen Argentinien bis zum Rostocker Warnowufer und vom Pekinger Olympiastadion bis zur Dresdener Waldschlösschenbrücke werden aufjubeln ob solchen Generalpardons für alle schon durch die Gerichte gezerrten und mehr noch die kommenden Beschwerden von Bauherrn, die doch allen Ernstes glauben, was auch genannter Quelle nur Mitleid entlockt: »Es genügt nicht die kleine Reparatur oder schlicht das Abwischen etwa des Zementwassers an den Stelen des Holocaustdenkmals, nein, sie müssen ›saniert‹ werden, so, als wenn sie konstruktiv gefährdet seien, kurz davor stehen zu pulverisieren.«Mehr noch: Iist nicht das Desolate, das Baufällige gar das eigentlich schöne? »Eine Diele, sei sie krumm oder schief, ist inzwischen mehr wert als jedes Laminat, eine Fassade, deren Farbe abwäscht im Regen, wird als ästhetischer Reiz empfunden.« Also, Bauherren, herunter von eurem hohen Ross. Legt dem Bauträger noch ein paar Scheine drauf für den morbiden Charme, mit dem er euer Einfamilienhaus weitsichtig ausgestattet hat. Wisst ihr nicht um den ständig steigenden Wert dessen, was antik aussieht und Gebrauchsspuren nicht verleugnen kann? Dis Toskana zum Beispiel lebt seit Generationen zumindest touristisch davon, dass sie fast überall noch so aussieht wir im Mittelalter.
Und mehr noch. Schon werden die Risse im Beton der Holocaust-Stelen als Symbol gesehen, wobei allerdings die political correctness zu Zurückhaltung mahnt, dieses Symbol allzu konkret auszudeuten. Bei den meisten Bauherren aber muss man da nicht so vorsichtig sein. Da haben die Risse im Beton zumindest in einer Hinsicht überzeugende Symbolkraft: Für ihr Bankkonto on Gegenwart und Zukunft.
P.S. Wer angestrengt über Sinn und Hintergrund dieses Textes nachdenkt, dem sei ein zusätzliches Rätsel aufgegeben. Morgen ist nämlich der 46. Jahrestag einer Baumaßnahme, an der man besonders gut die Wirkung von Rissen im Beton studieren kann.