Bertolt Brecht war es, der nach dem 17. Juni 1953 den Regierenden in der DDR eine »Lösung« vorschlug – nämlich sich ein neues Volk zu wählen, wenn sie mit dem, das gerade einen Aufstand gegen ihre Selbstherrlichkeit angezettelt hatte, nicht mehr zufrieden seien. Wladimir Putin muss das nach dem deutlichen Wahlsieg vom vergangenen Sonntag nicht auf sich beziehen, aber vielleicht die vielen Gut- bzw. Schlechtachter rund um den Erdball, die dem russischen Volk attestierten, dass es doch eigentlich das falsche sei und ausgetauscht gehöre, da für die Demokratie »nach unseren Standards« (Regierungssprecher Steg, SPD) nicht zu gebrauchen. Für einige hört eben Demokratie, die mit »Volksherrschaft« zu übersetzen ist, dort auf, wo das Volk nicht nach deren »Standards« entscheidet, sondern doch tatsächlich seinen eigenen Kopf hat.
Eine unkorrekte Wahl, hat es – von einigen Verstößen abgesehen, die die Wahlkommission selbst zugab und die auch anderswo vorkommen sollen (man denke nur an das tagelange Gezerre um den Ausgang der USA-Präsidentschaftswahlen 2000, über die letztlich Gerichte entschieden) – nicht gegeben, denn die Russen konnten sich frei entscheiden, ob sie wählen gehen oder nicht, sie konnten unter elf Listen wählen, darunter etliche, die sich der Opposition zurechnen, es wurde korrekt ausgezählt, und am Ende kam ein Ergebnis heraus, dass zwar nicht gerade häufig ist, aber auch nicht so sehr ungewöhnlich – man blicke nur auf Bayern. Manche Umstände bei Wahlvorbereitung und Wahlkampf haben – durchaus begründet – nicht allen sonderlich gefallen, aber zu befinden hatten darüber die russischen Wähler, und die taten das so, dass an ihrem Votum ein ernsthafter Zweifel kaum möglich ist – außer eben, dass man sich ein ganz anderes Volk, ein anderes Russland wünschte.
Solange es in Russland ziemlich drunter und drüber ging, die Oligarchen herrschten und das Volk darbte, die Armee in einem desolaten Zustand war und man weltpolitisch glaubte, die Russen mit »ins Boot« nehmen zu können – gewissermaßen als die Galeerensträflinge, war die Welt nach westlichen »Standards« in Ordnung. Die Russen selbst sahen das ganz anders. Jetzt aber, wo eine Mehrheit des Volkes findet, es ziehe wieder eine Ordnung ein, die seine Wünsche und Interessen besser berücksichtigt, ist der Westen verschnupft, weil – frei nach Brecht – das russische Volk sein Vertrauen verscherzt habe und es nur durch doppelte Anstrengungen zur Zufriedenstellung seiner enttäuschten westlichen Beobachter zurückerobern können.
Doch schon 1953 ließ sich das kleine DDR-Volk nicht auflösen; mit dem großen russischen dürfte das heute noch schwieriger werden. Wer ohne ideologische Scheuklappen aus vergangenen Zeiten ist, weiß das und sorgt für einen vernünftigen Umgang mit der Großmacht im Osten – zum beiderseitigen Nutzen, und übrigens auch zum Nutzen echter Demokratie, die in Russland wie anderswo nicht auf die durchaus zu hinterfragenden westlichen »Standards« reduziert werden sollte.