Eigentlich hätte »Mindestlohn« zum Wort des Jahres 2007 gewählt werden müssen, ist doch der Kampf um eine solche Selbstverständlichkeit inzwischen zum Hauptfeld der gesellschaftlichen Auseinandersetzung geworden – und zwar gegen den Willen der erdrückenden Mehrheit der Bürger, die ihn – gegen die Minderheit der Reichen und ihrer willigen Propagandisten – für dringend geboten halten, weil er einen notwendigen Ordnungsfaktor gegen die Anarchie kapitalistischen Wirtschaftens und die damit verbundene Zerstörung bewährter Strukturen darstellt.
Welchen Sinn soll es auch machen, die derzeit noch akzeptierbare Bezahlung von Briefträgern, die laut Tarifvertrag noch deutlich über dem vereinbarten Mindestlohn liegt, erheblich abzusenken, um einen imaginären »Wettbewerb« zu fördern? Kein Mensch hat bisher schlüssig erklären können, wozu wir weitere Postdienstleister brauchen, die neue Briefkästen aufstellen, neue Briefmarken oder etwas Ähnliches drucken und durch ihre undurchschaubaren Zustellzeiten den Bürger zwingen, seinen Hausbriefkasten beinahe rund um die Uhr zu überwachen. Gerade die Privatisierung anderer öffentlicher Dienstleistungen hat gezeigt, dass es dabei in erster Linie um private Gewinne geht und der Verbraucher am Ende zusetzt. Oder hat etwa die Deutsche Bahn die Preise gesenkt, die Pünktlichkeit erhöht und den Service – man denke nur an das verwirrende Tarifsystem und die Schlangen an den Fahrkartenschaltern – verbessert? Gern wird dagegen die Telekom ins Feld geführt, bei der es zwar im Einzelfall zu sinkenden Tarifen kam; jedoch unter dem Strich möge jeder prüfen, ob seine Gesamt-Telefonrechnung jetzt niedriger ist als vor zehn oder 15 Jahren. Der Telekom half der technologische Fortschritt, der zur Verbilligung der Vertbindungen führte. Aber sie versagte bei jenem Teil ihrer Geschäftstätigkeit, für den man Menschen braucht – auch deshalb, weil sie gleichzeitig die Einkommen ihrer Mitarbeiter senkte.
Gleiches vollzog sich bei der Bahn und wird nun offenbar auch von der Post erwartet; ihre Konkurrenten wollen sie durch Niedrigstlöhne zwingen, selbst das Lohnniveau zu senken und damit letztlich die Qualität zu verschlechtern. Da, wo Unternehmen nicht die Möglichkeit haben, ihre Produktion ins Ausland zu verlagern oder billige Arbeitskräfte von dort anzuwerben, sollen solche Hungerlöhne eben hierzulande durchgesetzt werden – ungeachtet gleichzeitiger Preissteigerungen auf breiter Front. Für die Alimentierung derjenigen, für die dann das Arbeitseinkommen nicht mehr zum Leben reicht, wird gern der Staat in Anspruch genommen, dem die Unternehmen ansonsten aber die Steuerschuld möglichst verweigern. So wird die Ablehnung des Mindestlohns durch die Wirtschaft zugleich zu einem gigantischen Subventionsprogramm für die Unternehmen, die auch hier den Gewinn privatisieren und das Risiko vergesellschaften.
Man hätte erwartet, dass Angela Merkel, der gern rationales Kalkül und Pragmatismus nachgesagt werden, solche Zusammenhänge erkennt, doch es geht ihr wohl so, wie allen, die sich zu tief in eine Partei hinein begeben. Sie vertauscht Vernunft mit Ideologie, hier der Ideologie des Marktes, der schon alles richten werde. Die Strafe folgt in der Regel auf dem Fuße und veranlasst sie zu überraschenden Korrekturen, die dann ihre Partei erheblich verunsichern. Das war so nach der beinahe verlorenen Bundestagswahl 2005 und ist jetzt am Beispiel der Mindestlöhne erneut zu beobachten. Es wird nicht die letzte Kehrtwende sein, doch solch dilettantische Politik nach dem Prinzip »Versuch und Irrtum« schadet nicht nur ihrem Ansehen, was uns kalt lassen könnte, sondern vor allem den von ihr Regierten, denen sie damit immer neue Zumutungen auferlegt.
Ein sehr interessanter und informativer Beitrag. Den Vorgang der Lohn- und Qualitätssenkung den du beschreibst, beweist mir, das derartige Unternehmen (Großunternehmen wie die Bahn, die Post, die Telekom etc.) alles tun werden um den Gewinn zu maximieren. An einem vernünftigen Gleichgewicht von Preis, Lohn und Qualität sind die gar nicht interessiert. Eben diese „Mitnahmementalität“ ist für mich der beste Beweis dafür, das der Mindestlohn Arbeitsplätze kostet, anstatt welche zu schaffen. Wenn also jetzt plötzlich in irgendeiner Branche ein Mindestlohn festgesetzt wird, der höher als das bisherige Gehalt liegt, dann muß (oder will, ohne es zwingend in der Höhe zu müssen) das Unternehmen einsparen. Wo tut man das außer beim Service? Richtig – bei der Belegschaft.
Es hat mir bisher niemand schlüssig darstellen können, warum der Mindestlohn keine Arbeitsplätze kostet oder wie mancherorts behauptet, sogar Arbeitsplätze schafft. Stattdessen heisst es immer: zu niedrige Löhne sind unsozial. Für mich ist die Arbeitslosigkeit noch unsozialer, weil hier der bei der Einführung eines Mindestlohnes höher bezahlte Lohn zu Lasten anderer Arbeitsnehmer (oder genauer gesagt: zukünftig Arbeitsloser) geht. Natürlich ist Arbeit von der man nicht leben kann unsozial. Ich will auch nicht, das dies so bleibt. Aber der Mindestlohn ist aus meiner Sicht noch schlimmer, da er Arbeitsplätze vernichtet.
Angela Merkels Kalkül und ihren Pragmatismus kann man sich schenken. Der SPD vorwerfen, der Linkspartei hinterzulaufen ist leicht – aber nicht, wenn man selber der SPD hinterherhechelt. Ihre (vermutlich auch nur scheinbare) Gelassenheit ist doch längst parteipolitischen Überlegungen gewichen. Mehr können wir vor der nächsten Bundestagswahl und insbesondere den anstehenden Landtagswahlen auch nicht erwarten.
@ romanmoeller
Natürlich handeln die Unternehmer so, wie du dargestellt hast, aber sollen wir deshalb vor ihnen kapitulieren. Dadurch wird alles nur noch schlimmer; sie sind so richtig erst zufrieden, wenn die Löhne abgeschafft sind (siehe: http://www.richterp.de/2007/05/03/arbeit-fuer-alle-leider-fuer-nichts/). Es braucht also völliig neuer Konzepte, die allerdings auch von der SPD nicht zu erwarten sind. Aber sie werden kommen, und manch mitdenkender Kapitalist sieht das schon mit Bangen.