Die Schweiz gilt als Urgestein der Demokratie und die Schweizer spätestens seit Wilhelm Tell als kämpferisches Volk – so konservativ wie prinzipientreu. Ihr politisches System will jeden zu seinem Recht kommen lassen; deshalb gibt es zwar Parteien, aber den Luxus von gestaltender Regierung und einer machtlosen Opposition, die im Parlament nur laute Reden schwingen darf, aber nichts bewirkt, damit aber auch keine Verantwortung trägt, leistete man sich bisher nicht. Dort beteiligen sich alle Parlamentsparteien an der Regierung – nach einem Schlüssel, der sich aus dem Wahlresultat ergibt. Sie diskutieren strittige Entscheidungen so lange, bis sie Konsens erreichen. Gelingt das nicht, bleibt in der Regel die Befragung des Volkes, die zu sehr vielen Fragen stattfindet. Diese direkte Demokratie, auch Konkordanzprinzip genannt, hat die Schweiz zu einem stabilen und wohlhabenden Land in der Mitte Europas gemacht. Die »Parteiendemokratien« rundum können über die Jahrzehnte keine so positive Bilanz vorweisen; gleichwohl tun sie so, als müsste an ihrem Wesen die Welt genesen.
Natürlich gibt es auch in der Schweiz Leute, die es gern anders hätten – allen voran der Chef der rechtskonservativen Schweizerische Volkspartei (SVP), Christoph Blocher. Er würde gern mehr sein als einer unter mehreren Bundesräten und kündigte deshalb immer wieder den Konsens auf, wobei er sich in seiner politischen Arbeit vorrangig auf Themen konzentriert, die sich zur demagogischen Polarisierung eignen. Das ist in erster Linie auch in der Schweiz die Ausländerpolitik; bei den jüngsten Parlamentswahlen im Oktober konnte die SVP mit einer aggressiven ausländerfeindlichen Kampagne, in der sie unter anderem Ausländer als schwarze Schafe darstellte, die durch die »Weißen« von den eidgenössischen Grenzen ferngehalten werden müssten, fast 30 Prozent der Wählerstimmen erhalten. Entsprechend stolzgeschwellt trat Blocher nun auf und ließ durchblicken, dass er noch weniger als bisher daran denke, sich den Konkordanzregeln zu unterwerfen.
Die meisten anderen Schweizer Parteien sahen das schon lange mit Unbehagen und entscheiden sich jetzt, dem bösen, landesschädigenden Treiben ein Ende zu bereiten. Als Blocher wieder in der Regierung gewählt werden wollte, lehnten sie ihn ab und verschafften statt dessen der Graubündener Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf eine Mehrheit, obwohl sie gar nicht angetreten war. Sie ist wie Blocher SVP-Mitglied, gehört aber zum eher gemäßigt-liberalen Flügel der Partei. Die Gegner Blocher bewiesen damit demokratische Gesinnung, denn ebenso gut hätten sie einen der Ihren zum Bundesrat wählen können. Blocher hingegen erwies sich einmal mehr als undemokratisch, denn er schloss nicht nur Widmer-Schlumpf, sondern auch den zweiten SVP-Bundesrat Samuel Schmid, ebenfalls ein Vertreter des gemäßigten Flügels, aus der SVP-Fraktion aus; beide hatten die Wahl angenommen und sich damit nicht dem Diktum Blochers unterworfen, der von ihnen Verzicht verlangte, wenn er nicht gewählt würde. Nun plant er, knallharte Opposition im Schweizer Parlament zu machen und damit das Konkordanzprinzip weiter aufzuweichen; langfristig möchte er Verhältnisse wie in den meisten Nachbarländern einführen – ungeachtet dessen, dass dort die Bürger zumeist eine offene Parteienverdrossenheit an den Tag legen, weil sie nicht erkennen können, dass ihre Regierungen viel Vernünftiges zustande bringen.
Die Geschichte zeigt neben dem gesunden Schweizer Sinn für die Vorzüge direkter Demokratie aber noch etwas anderes, wovon die Nachbarn lernen könnten – eine kämpferische Ablehnung rechtsradikaler Positionen. Zwar hat fast ein Drittel der Bürger für Blochers Partei gestimmt, und damit auch für seine Ausländerfeindlichkeit, doch die anderen finden sich damit offensichtlich nicht ab. Sie haben dem Extremisten die rote Karte gezeigt und damit auch seinen Anhängern, dass sie das Feld nicht kampflos räumen werden. Sie haben demonstriert, dass man ungeachtet diverser politischer Differenzen gegen alle Versuche zusammensteht, die gesamte Republik weit nach Rechtsaußen zu rücken.
Es hat keineswegs „ein Drittel der Bürger für Blochers Partei gestimmt“, auch wenn die SVP das immer gerne behauptet – 29% Zustimmung sind von einem Drittel ungefähr genausoweit weg wie von „nur“ einem Viertel. Außerdem haben nur 29% aller Wahlteilnehmer – nicht aller Bürger! – für die SVP gestimmt: Rechnet man die Wahlbeteiligung von 48,3% ein, kommt man also auf den eigentlichen Zustimmungswert von nur noch 14% der Bürger. Sieht schon anders aus, oder?
Ansonsten volle Zustimmung.
Ich habe den Eindruck, der letzte Absatz sei eine gar optimistische Einschätzung der Situation. Bei knapp 30% SVP Wählenden reicht eine [zugegeben spektakuläre] Abwahl eines SVP-Bundesrates [bei gleichzeitiger Wahl einer SVP-Bundesrätin, wohlbemerkt!] noch lange nicht, um von einer „kämpferischen Ablehnung rechtsradikaler Positionen“ zu sprechen. Es ist ein medienwirksamer Schritt, dem aber einiges folgen muss auf verschiedensten Ebenen.
Aber gefreut hab ich mich trotzdem :-))
Achtung auf mögliche Missverständnisse aus dem Titel! Es gibt eine Partei, die ist noch rechtsextremer als der Blocher-Flügel der SVP. Und die heisst eben „Schweizer Demokraten“ Siehe http://www.schweizer-demokraten.ch/ und http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D17409.php . Wegen solchen unglücklichen Namensgebungen muss man manchmal formulierende Pirouetten schlagen. Mein Vorschlag: Titel ändern: „Stunde der Wahrheit in der Schweizer Demokratie“.
Die SVP heisst übrigens auf Französisch / Italienisch UDC (Union démocratique du centre / Unione democratica di centro) also „demokratische Vereinigung der Mitte“. Hier ist Nomen auch nicht wirklich Omen.
Danke für den Lobgesang auf die Schweizer Demokratie. Auch ich bin froh, dass diesen Volksverhetzern gezeigt wurde, wo der demokratische Hammer hängt.
Der Titel ist in meinen Augen aber unglücklich – die „Schweizer Demokraten“ sind eine rechtsextreme Partei. Ich würde „Stunde der Schweizer Demokratie“ empfehlen.
@ Ehrenretter
Danke für die korrigierende Statistik. Man vergisst bei der beschönigenden Wahlberichterstattung allzu oft, wie wenige Bürger eine Partei tatsächlich gewählt haben. Bestes Beispiel: USA, wo Bush 1998 wie 2004 von kaum einem Viertel der Wahlberechtigten auserkoren wurde.
@ Phipu und Martin
Danke für die Einführung in wichtige Details Schweizer Politik. Ich muss meine diesbezüglich begrenzte Kenntnis eingestehen. Sorry! Nächstens informiere ich mich genauer.