In diesen Tagen vor 15 Jahren fand in Berlin der Prozess gegen Erich Honecker und drei weitere Angeklagte aus der DDR-Führungsriege statt. In sieben Beiträgen wurde bereits an dieses Ereignis erinnert. Heute folgt ein weiteres, das achte Kapitel – auf der Grundlage des 1993 im Verlag Elefanten Press erschienenen Buches »Kurzer Prozess. Honecker & Genossen – Ein Staat vor Gericht?«, das nicht mehr im Handel ist.
Die Verteidiger
Verteidiger des Rechtsstaats
Es scheint so, als seien Honeckers letzte drei Mitarbeiter seine besten gewesen. Jahrzehntelang von ganzen Stäben diensteifriger Ärmelschoner und Parkettläufer umgeben, die aber statt des eigenen Kopfes nur Augen und Ohren bemühten, um ihrem Generalsekretär, Vorsitzenden des Staatsrates, der Nationalen Verteidigungsrates usw. jeden Wunsch und Willen von den Augen abzulesen, waren es nun endlich souveräne und nicht zuletzt dadurch auch gescheite Männer, die ihn als Verteidiger vor Gericht begleiteten: Friedrich Wolff, Nicolas Becker und Wolfgang Ziegler.Wolff war 1989 zu Honeckers Anwalt avanciert, als dessen Abstieg begann und der damals gleichfalls bedrängte Professor Vogel ihn um diesen Gefallen bat. Ihm war mulmig, als er diese Aufgabe übernahm, denn er wusste: Viele Freunde machte er sich unter den obwaltenden Umständen damit nicht. Und tatsächlich erhielt er Drohanrufe, musste sich später – unmittelbar nach Honeckers Einkehr in Moabit – dort von aufgebrachten Demonstranten als »Mörder« und »SED-Verbrecher« beschimpfen lassen. Aber er wusste auch, dass jeder Mensch Anspruch auf Rechtsbeistand hat, und er wollte seine sozialistische Gesinnung nicht verleugnen – auch nicht in diesem schwierigen Augenblick, als mancher sie schnell abstreifte. Friedrich Wolff hat in seinem Leben immer wieder Mut beweisen müssen. Als Sohn eines jüdischen Arztes waren die Kinder- und Jugendjahre des heute 70jährigen ein Überlebenskampf. Er wurde vorübergehend von der Schule verwiesen, konnte nicht studieren, arbeitete dann dienstverpflichtet als Hilfsarbeiter in Neukölln, später in Treuenbrietzen. Einer Zwangsverpflichtung für die Organisation Todt entging er nur knapp. Als Halbjude – und das empfindet er heute als Glück – war er jedoch auch wehrunwürdig und überlebte so den Krieg als einer der wenigen des Jahrganges 1922.Nach 1945 suchte er seinen Platz im Leben, wollte zunächst Medizin studieren, ließ es dann aber wegen seiner schlechten Augen und verfiel auf die Juristerei. 1952 machte er sein Examen, wurde Hilfsrichter und Lehrer an der Volksrichterschule. Ab 1954 leitete er das Berliner Kollegium der Rechtsanwälte. Bereits 1945 war er in die KPD eingetreten – aus echter Überzeugung, dass soziale Gerechtigkeit nur auf diesem Wege zu erkämpfen ist. Wolff wurde zu einem der bekanntesten Rechtsanwälte der DDR – und war dennoch nicht eindeutig festzulegen. Bereits als Student hatte er sich in einer Resolution gegen den Personenkult »in Wort und Bild, in Gips und Bronze« gewandt und bekam Ärger. Nach dem 17. Juni 1953 verteidigte er »Rädelsführer« und »Provokateure«. Mit »Herzklopfen und Hosenflattern« plädierte er auf Freispruch – ebenso wie vier Jahre später, als er den zum Konterrevolutionär gestempelten Leiter des Aufbau-Verlages, Walter Janka, verteidigte. Er tat das zwar mit begrenztem Erfolg, aber mit Geschick und Zivilcourage. Doch Wolff trat auch in Kriegsverbrecherprozessen auf – sowohl in den Schauprozessen gegen den zeitweiligen Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer 1960, dem die Teilnahme an Kriegsverbrechen in der Ukraine vorgeworfen worden war, und drei Jahre später gegen den einstigen Ministerialrat im Reichsinnenministerium, Verfasser von Kommentaren zu den nazistischen Rassengesetzen und späteren Staatssekretär in Adenauers Bundeskanzleramt, Hans Globke, als auch gegen in der DDR habhaft gemachte Nazis wie den Oradour-Mörder Heinz Barth, was mancher als Unterstützung der DDR-Propaganda gegen die Bundesrepublik wertete.
Für Honecker war Wolff der eigentliche Vertrauensanwalt – was auch im Gerichtssaal deutlich wurde. Ständig saß er neben dem Hauptangeklagten, erläuterte ihm die Vorgänge und signalisierte, wenn dieser in eine Schwächeperiode geriet. Wolff sah das Verfahren einzig als Jurist. »Für moralische Schuld bin ich nicht kompetent«, sagte er einmal in einem Interview. »Ich habe im Gegensatz zu Pfarrern und Philosophen über juristische Schuld zu befinden und mehr nicht.«
Als im Herbst 1990 erkennbar wurde, dass das Verfahren gegen Honecker durch Westberliner Gerichte weitergeführt würde, versicherte sich Friedrich Wolff des Beistandes zweier Kollegen, die im bundesrepublikanischen Rechtsverständnis groß geworden waren. Wolfgang Ziegler ist seit 1969 in Berlin als Anwalt tätig. 1940 im württembergischen Weil der Stadt geboren, machte er in Stuttgart sein Abitur und studierte die Rechte in Tübingen, München, Paris und Berlin. Kurz nach dem Mauerbau in die geteilte Stadt gekommen, erlebte er hier deren damalige Atmosphäre in vielfältiger Weise. Prägend war für ihn in dieser Hinsicht das jahrelange Verfahren um den Tod des Studenten und Mitglieds der »Bewegung 2. Juni«, Ulrich Schmücker, der als V-Mann des Verfassungsschutzes galt. Ganz naiv in diesen Prozess gegangen, sah er sich bald zu einer hartnäckigen Verteidigung herausgefordert, vor allem durch die Einflussnahme des Geheimdienstes auf die Ermittlungen und überhaupt dessen enge Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft, was Ziegler bis dahin nicht für möglich gehalten hatte. Trotz Mordvorwurfs und mehrmaliger Verurteilung der Angeklagten zu »Lebenslänglich« erreichte er schließlich Einstellung des Verfahrens.
Dennoch ist der 52jährige nicht auf politische Strafsachen festgelegt. »Mordprozesse, Steuerprozesse, Bestechungsprozesse, Vergewaltigungsprozesse, also alles, was man sich nach dem Strafgesetzbuch vorstellen kann«, schildert er das Spektrum seiner Mandate, fügt jedoch hinzu: »Darunter auch Prozesse mit einem gewissen politischen Akzent.« Dies reizte ihn auch am Honecker-Verfahren: »Gerade in einem solchen Fall, wo die Vorverurteilung so weit fortgeschritten ist, ist es eine Herausforderung für den Strafverteidiger, das Ganze auf das Wesentliche zurückzuführen. Es geht darum, nur ganz streng die strafrechtliche Schuld zu prüfen und diese scharf abzugrenzen von der politischen, der moralischen Schuld.« Ziegler agierte in Moabit eher unauffällig, dafür aber umso wirksamer, denn seinen präzisen, durchdachten Argumenten konnte sich weder die Anklage verschließen noch wagte sie der hemdsärmlige Nebenklage-Vertreter Plöger mit Verbalinjurien zu beantworten.
Ähnlich brillant, jedoch mit ganz anderem Temperament wirkte Honeckers dritter Anwalt Nicolas Becker. In großbürgerlicher Familie in Lindau am Bodensee aufgewachsen, studierte er in Berlin und Freiburg und stürzte sich in die Studentenpolitik, war AStA-Vorsitzender und im VDS. 1975 wurde er Anwalt in der Kanzlei Otto Schilys, 1980 dessen Sozius. Diese führt er jetzt mit Reiner Geulen. Der zeitweilig auch bei seinen Kollegen als »Linksanwalt« geltende 68er-Aktivist – mit 46 Jahren der jüngste der drei Honecker-Anwälte – konnte seine Emotionen im Moabiter Saal 700 oftmals nicht zügeln – ohne dass freilich darunter die Exaktheit seiner juristischen Beweisführung litt. Vor allem reagierte Becker hochsensibel auf jeden noch so unmerklichen Vorgang im Prozess, der ihm entweder eine wie auch immer bedrohliche Entwicklung signalisierte oder die Chance aufzeigte, für seinen Mandanten etwas herauszuholen. Der Vorsitzende Richter war vor allem ihm von Anfang an nicht gewachsen; sein späterer Abgang ist wohl auch Resultat dieser ständigen Zermürbungstaktik Beckers, die von einer hohen Motivation gespeist wurde.
Nicolas Becker ist außerordentlich ehrgeizig und gibt darüber hinaus zu: »Rechtsanwälte sind eitle Leute. Sie genießen natürlich, in der Öffentlichkeit aufzutreten. Der Beruf des Juristen ist schon in seiner Ausübung narzistisch.« Aber auch das wirkt kokett, denn natürlich zählt für ihn neben dem Erfolg auch, wie das Recht zu seinem Recht kommt, wie der Rechtsstaat sich bewährt und nicht allmählich zur Karikatur verzerrt wird. Nicht zufällig erwähnt er in Interviews gern, dass sein Vater Hellmuth Becker nach 1945 einen anderen »Staatsfeind« verteidigte, den Staatssekretär in Ribbentrops Auswärtigem Amt von 1938 bis 1943 und späteren Botschafter Hitlers beim Vatikan, Ernst von Weizsäcker, Vater des derzeitigen Bundespräsidenten. Dieser wurde im Nürnberger Wilhelmstraßen-Prozess 1949 zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, später aber freigelassen. Auch jener Angeklagte sei »eine nicht gerade unproblematische Persönlichkeit« gewesen, ohne dass Becker damit eine Parallele zu Honecker ziehen will. Ihn reizte jedoch die Vertretung dieses »Staatsfeindes Nr. 1« in einem politischen Prozess, und ihn störte auch die Selbstgerechtigkeit der Leute, die Honecker jetzt verfolgten. Schließlich gehe er davon aus, dass auch dieser Mann gute Motive hatte. Deshalb empörte Becker ungemein, wie der Anwalt der Nebenklage, Hanns-Ekkehard Plöger, im Prozess auftrat und handelte sich für die Charakterisierung von dessen Ergüssen als »Büttenreden« und »dreckigen Reden« wegen Beleidigung eine Zivilklage des Enfant terrible im Gerichtssaal ein, die dieser jedoch flugs zurückzog, als ihm Beckers Anwälte mögliche Konsequenzen aufzeigten.
Die Zusammenarbeit der drei Honecker-Verteidiger war offenbar exzellent. Jeder spielte seinen Part, nachdem die Linie gemeinsam festgelegt war. Nichts ging an die Öffentlichkeit, das nicht von allen drei getragen wurde. In diesem Sinne bestand ihre Verteidigungsstrategie von Anfang an – und fast ausschließlich – in der Verhinderung des Prozesses und – als er dann doch in Gang kam – in seiner schleunigsten Beendigung. Wolff sah das zu Prozessbeginn als Dilemma: »Wir haben uns immer darauf verlassen, dass der Prozess nicht stattfindet. Unser ganzes Bemühen war daher lange darauf gerichtet klarzumachen, dass der Gesundheitszustand Honeckers einen Prozess nicht zulässt. Andere Fragen und Zusammenhänge haben wir daher noch gar nicht umfassend erörtert.« Tatsächlich hatte der Anwalt nach Honeckers Flucht in die Sowjetunion 1990 an eine Rückkehr nicht geglaubt. Noch sechs Wochen vor der Ausweisung aus der chilenischen Botschaft in Moskau war er sicher: »Er kommt nicht zurück, jedenfalls nicht freiwillig, solange der Haftbefehl gegen ihn existiert. . . Er will nicht derjenige sein, der nach der Niederlage im Triumphzug vorgeführt wird, so wie es die alten Römer mit ihren besiegten Gegnern taten.« Am 31. Juli 1992, zwei Tage nach Honeckers Rückkehr, schätzte er die Chance, den Prozess zu verhindern, dann nur noch pessimistisch ein: »Gleich Null, wenn man das gesellschaftliche Klima heute zum Maßstab nimmt.«
So kam es dann auch, und nun mussten die Anwälte mit Hochdruck arbeiten, um eine Stellungnahme zur Anklageschrift fristgemäß erarbeiten zu können. Sie hielten diese grundsätzlich für unrechtmäßig, sahen sie als »Resultat einer historisch längst entschiedenen Machtfrage (. . .), nämlich des Untergangs der DDR, des Untergangs des gesamten ehemaligen Ostblocks und der Inkorporierung der DDR in die Bundesrepublik Deutschland«. Wenn sie dennoch gegen diese »militäradministrative Bürokratie-Geschichte« rechtlich argumentierten, dann mit dem Ziel darzulegen, »dass die Strafverfolgungsbehörden mit ihrem Ansinnen, einen Prozess gegen Herrn Honecker zu führen, ihren eigenen rechtsstaalichen Postulaten nicht gerecht werden können«. Als Begründungen verwiesen sie auf seine nach ihrer Auffassung fortdauernde Immunität als ehemaliges Staatsoberhaupt, auf die Act of State-Doktrin mit ihrem Kern, dem Rückwirkungsverbot, auf die ungewöhnliche Interpretation des Begriffs der Mittäterschaft und vor allem auf die juristische Bewertung der »Rechtswidrigkeit« von Honeckers Tun als Staatsmann, die sie weder durch völkerrechtliche Prinzipien noch durch die schon erörterte Konstruktion eines »überpostiven Rechts« gedeckt sahen.
Tatsächlich ist neben den bereits früher genannten rechtlichen Problemen der Anklage die Verletzung des Rückwirkungsverbots der schwerwiegendste Vorwurf gegen sie. Denn dieses Gebot steht im Grundgesetz (Artikel 103, Abs. 2) und beinhaltet, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit zur Tatzeit gesetzlich bestimmt war. Da im Honecker-Prozess entsprechend den Festlegungen des Einigungsvertrages nach DDR-Recht zu verfahren war, kann von einer Strafbarkeit des Schusswaffengebrauchs an der Grenze, der – wie dargelegt – in zahlreichen Verordnungen und seit 1982 im Grenzgesetz kodifiziert war, kaum die Rede sein – es sei denn, man zieht sich aufs »Naturrecht« zurück oder kann nachweisen, dass Täter an der Grenze in ihren Handlungen über die Vorschriften der Schusswaffenanordnungen hinausgingen. Honeckers Anwälte – wie auch die der anderen Angeklagten – wiesen nicht ohne Logik daraufhin, dass die Ignorierung des Rückwirkungsverbots – mit welchen Argumenten immer – grundgesetzwidrig ist. Die Berliner Justizsenatorin Jutta Limbach hält dagegen, dass zum Beispiel ein auf Flüchtlinge schießender Grenzsoldat schon zu Zeiten der DDR damit rechnen musste, »dass wenn diese Herren die Macht nicht mehr haben, man doch die Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit klären würde«, zumal nicht ungehört geblieben sei, dass in den Westen geflüchtete »Mauerschützen« dort zur Verantwortung gezogen wurden. Dass ihre Position, von diesem Soldaten und – auf den Honecker-Prozess bezogen – sogar von den staatstragenden Funktionären – die Orientierung auf das Recht eines anderen Staates zu verlangen, durch das Grundgesetz gedeckt ist, scheint zumindest ungewöhnlich.
Auch hier führt der Weg nur über das »Naturrecht«, wobei selbst Jutta Limbach Zweifel hat, ob das Gebot der Freizügigkeit zum Kernbereich der Menschenrechte gehört. Honeckers Anwälte legten dar, wie wenig dieses Recht international gilt und sie verwiesen nicht ohne Chuzpe darauf, dass die Bundesregierung gegenwärtig »die drohende Gewährung dieses Rechts mit Sorge« betrachte. Schließlich stellten sie fest: »Auch in der Bundesrepublik ist die Ausreisefreiheit nicht in den Grundrechtskatalog aufgenommen worden und musste deshalb vom Bundesverfassungsgericht aus der allgemeinen Handlungsfreiheit heraus interpretiert werden.« Es gibt sogar ein ziemlich restriktives bundesdeutsches Passgesetz, das allerdings in praxi nur selten angewandt wird.
Bei ihrem Bemühen, den juristischen Verrenkungen der Anklageschrift rechtsstaatliche Grundsätze entgegenzustellen, erhielten die Verteidiger im Honecker-Prozess weitgehenden Zuspruch von zahlreichen Rechtslehrern und -anwendern, von Politikern der Bundesrepublik und aus dem Ausland. Diese Unterstützung nahm noch zu, als im Prozess selbst rechtsstaatliche Prinzipien in Gefahr gerieten – und das nicht einmal bei den wesentlichen Sachfragen des Verfahrens, sondern beim Streit um die Verhandlungs- und Haftfähigkeit der Angeklagten, insbesondere Erich Honeckers. Seine erste ärztliche Untersuchung nach Rückkehr aus Moskau ergab den sicheren Befund einer bösartigen Geschwulst in der Leber. Daraufhin verlangten die Ärzte Einstellung des Verfahrens und Haftentlassung, was das Gericht jedoch am 3. September ablehnte. Bereits damals stellte Wolfgang Ziegler klar, »dass sich aus der Erkrankung von Herrn Honecker die sehr hohe Wahrscheinlichkeit ergibt – so wie das auch die Sachverständigen sagen -, dass er den Prozess nicht wird durchstehen können. Da er während der gesamten Dauer eines Verfahrens verhandlungsfähig sein muss, genügt nicht, dass er am Anfang Verhandlungsfähigkeit hat und dann irgendwann dahinschlummert, sondern er muss jederzeit wach und aktiv an einem solchen Prozess teilnehmen können. Wenn man sich aber vorstellt, was eine solche Krankheit bedeutet, dann ist die Prognose der Ärzte wohl durchaus seriös, nämlich dass er bei einer angenommenen Verfahrensdauer von zwei Jahren – und das ist sicherlich ein Mindestmaß – das als verhandlungsfähiger Angeklagter nicht wird durchstehen können, sondern dass schon wesentlich früher Verhandlungsunfähigkeit eintreten wird.« Unter diesen Umständen sei auch die Untersuchungshaft aufzuheben, »weil die Untersuchungshaft ja nur zur Sicherung des Verfahrens dient, und wenn es ein Verfahren nicht geben kann, nicht geben darf, dann darf er auch nicht weiter in Untersuchungshaft gehalten werden«.
Wie sich vier Monate später zeigen sollte, eine sehr weitsichtige und völlig zutreffende Beurteilung, die jedoch weder Staatsanwaltschaft noch Gericht wahrhaben wollten. Daher mussten die Anwälte den Kampf fortsetzen, um im Interesse ihres Mandanten rechtsstaatlichen Grundsätzen Geltung zu verschaffen. Noch im September verlangten sie erneut Einstellung des Verfahrens und Haftverschonung. Die inzwischen erstellten ärztlichen Gutachten attestierten Honecker zwar Haft- und auch begrenzte Verhandlungsfähigkeit, aber ließen auch keinen Zweifel, dass dies nur für einen kurzen Zeitraum anzunehmen sei. »Die Zeit des vermutlichen Überlebens (bei reiner Betrachtung und Beschränkung auf die vermutete Tumorerkrankung) dürfte bei vorsichtiger Schätzung zwischen einem halben Jahr und eineinhalb Jahren liegen)«, konstatierte einer der Gutachter, und ein anderer schloss: »Eine Haftverschonung wäre aus ärztlichen Überlegungen zu begrüßen, sie könnte auch dazu führen, dass der Zustand der zumindest eingeschränkten Vernehmungs- und Verhandlungsfähigkeit noch länger als unter Haftbedingungen erhalten bliebe.« Wieder entnahm das Gericht diesen Expertisen nur das, was in sein vorgefasstes Urteil passte und lehnte die Entlassung aus der Haft ab. Im Gegenteil, nun wurde das Verfahren für den 12. November 1992 angesetzt. Die Anwälte widersprachen erneut und erhielten auch im nächsten Haftprüfungstermin keinen anderen Entscheid. Aber sie gaben den Kampf nicht auf. Schon am zweiten Verhandlungstag lehnten sie den Richter wegen Befangenheit ab, am dritten beantragten sie noch einmal die Abtrennung und Einstellung des Verfahrens sowie die Aufhebung des Haftbefehls aus gesundheitlichen Gründen, am fünften Verhandlungstag verlangten sie dies wegen nach ihrer Meinung fortdauernder Immunität des Hauptangeklagten. Doch vier Tage nach der Anhörung der medizinischen Gutachter am 17. Dezember verwarf das Gericht erneut die Anträge der Verteidigung.
Die über Wochen ermüdenden Debatten über den Gesundheitszustand Honeckers, das Wachstum seines Leberkrebses und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Lebenserwartung des Hauptangeklagten, die den Rechtsstaat Bundesrepublik im In- wie Ausland nicht nur unglaubwürdig, sondern darüber hinaus auch noch lächerlich gemacht haben, hätten vermieden werden können, wenn von Anfang an nach bewährten juristischen Regeln und nicht nach politischem Kalkül verfahren worden wäre. Vom Vorsitzenden Richter der 27. Großen Strafkammer war eine solche Entscheidung offensichtlich nicht zu erwarten, aber auch andere drückten sich vor der Verantwortung, trotz klarer rechtlicher Gegebenheiten einen Spruch gegen die politische Erwartungshaltung – weniger in der Bevölkerung, die dem Prozess ohnehin nur mit mäßigem Interesse folgte, als bei der jetzt herrschenden politischen Klasse – zu fällen. Das betraf vor allem das Berliner Kammergericht, das die Honecker-Anwälte nach der abschlägigen Entscheidung des Landgerichts vom 21. Dezember angerufen hatten. Es reagierte zwar überraschend schnell schon am 28. Dezember und bestätigte dabei das, was die Anwälte seit Monaten sagten, nämlich »dass der Beschwerdeführer mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit den Abschluss des Verfahrens nicht überleben wird«. Zu mehr als zu dieser indirekten Kritik aber konnte sich das höchste Berliner Gericht nicht durchringen. Es bestätigte dringenden Tatverdacht und Fluchtgefahr als fortbestehende Haftgründe und verwies im übrigen die Sache an das Landgericht zurück. Dies mochte denn in seiner ersten Sitzung des Jahres 1993 auch keinen anderen Entscheid treffen, obwohl die Verteidiger Honeckers unter Hinweis auf das Kammergerichts-Urteil zu wiederholten Male ihren Einstellungs- und Haftverschonungsantrag stellten.
Inzwischen aber hatten die Anwälte im Namen ihres Mandanten auch das Berliner Verfassungsgericht angerufen – und erst das fällte nun am 12. Januar 1993, genau zwei Monate nach Beginn des Prozesses, einen so eindeutigen Spruch, dass die 27. Strafkammer des Landgerichts daran nicht mehr vorbei konnte. »Die Überprüfung der angefochtenen Beschlüsse von Landgericht und Kammergericht ergibt«, hieß es da, »dass diese in dem aus dem Beschlusstenor ersichtlichen Umfang das Grundrecht des Beschwerdeführers auf Achtung seiner Menschenrechte verletzen.« Und unter Hinweis auf die durch die medizinischen Gutachten eindeutig diagnostizierte Krebserkrankung: »Das Strafverfahren wird damit zum Selbstzweck; für die weitere Durchführung eines solchen Strafverfahrens gibt es keinen rechtfertigenden Grund.« Das inzwischen unter einem neuen Vorsitzenden tagende Gericht folgte noch am gleichen Tag dieser Vorgabe, stellte das Verfahren gegen Honecker ein und hob den Haftbefehl auf. Am 13. Januar tat es ihm die 14. Strafkammer hinsichtlich der zweiten Anklage gegen Honecker wegen Vertrauensmissbrauchs und gemeinschaftlicher Untreue gleich. Nun war Honecker ein freier Mann; seine Anwälte hatten ihr Ziel erreicht und zugleich von der Verteidigerbank das Möglichste getan, um den Rechtsstaat im Moabiter Gerichtssaal 700 nicht völlig untergehen zu lassen.
Dass der Erfolg ihres Bemühens bis zuletzt am seidenen Faden hing, zeigten die Vorgänge unmittelbar vor und nach Honeckers Abreise nach Chile. Nebenkläger-Anwalt Plöger hatte beim Bundesverfassungsgericht zuerst eine Einstweilige Verfügung beantragt, mit der dem Landgericht ein Einstellungsbescheid untersagt werden sollte, und als Karlsruhe nicht reagierte, nach der Freilassung des Ex-DDR-Staatsratsvorsitzenden von den Verfassungsrichtern verlangt, diese Entscheidung wieder aufzuheben. Parallel dazu tat auch die Berliner Staatsanwaltschaft alles, um Honeckers Abgang zu verhindern. Gegen den Beschluss des Landgerichts legte sie noch am gleichen Tag Beschwerde ein, da nach ihrer Meinung das Urteil des Verfassungsgerichts für die 27. Strafkammer keine »Bindungswirkung« habe und diese lediglich zu »erneuter eigener Entscheidung« verpflichtet worden sei, an der aber in der Hauptverhandlung auch die anderen Prozessbeteiligten mitzuwirken hätten. Tatsächlich kann in dem intern gefassten Beschluss der drei Richter Hans Boß, Michael Abel und Bernhard Dickmann ein Formfehler gesehen werden; deshalb hob ihn das Kammergericht am 13. Januar auf. Honecker selbst wurde davon noch in Kenntnis gesetzt, da aber das Kammergericht die Beschwerde gegen die Aufhebung des Haftbefehls nicht auch kassierte, konnte er ausreisen.
Dieses Verwirrspiel bildet die Grundlage von Erwägungen, die Hauptverhandlung ohne Honecker wieder aufzunehmen und dabei dann eventuell die Rückholung des Ex-Angeklagten auf der Grundlage eines neu auszustellenden Haftbefehls zu beschließen. Allerdings musste Berlins Generalstaatsanwalt Neumann, der eine solche Möglichkeit ernsthaft erörtert, einräumen, derzeit gebe es »keine realistische Chance, ihn nach Berlin zu bekommen«. Neumann revanchierte sich dafür mit einer scharfen Kritik an den Verfassungsrichtern. Am 19. Januar 1993 nannte er ihren Spruch »geradezu absurd« und qualifizierte ihn als »massive Richterschelte gegenüber dem Landgericht und dem Kammergericht« ab. Verfassungsgerichts-Präsident Finkelnburg war darüber so erbost, dass er Jutta Limbach aufforderte, »dem Herrn Generalstaatsanwalt bei dem Kammergericht . . . zwei Bücher zur Verfügung (zu) stellen: einen >Knigge< und eine Berliner Verfassung mit beigeheftetem Grundgesetz.« Wie sich später herausstellte, hatte die Justizsenatorin derartige Gedankenstützen selber nötig, denn sie war es, die im wesentlichen die harsche Kritik Neumanns aufgesetzt hatte, was sie vornehm mit »Formulierungshilfe« umschrieb. Damit stellte sie im nachhinein gründlich in Zweifel, was sie zuvor immer behauptet hatte, nämlich keinerlei Einfluss auf den Gang des Verfahrens zu nehmen. Nicolas Becker kommentierte denn auch: »Das ist eine ganz große Sache, wenn am Rufschaden eines Verfassungsorgans wie des Verfassungsgerichts die Senatorin beteiligt gewesen sein sollte oder diese sogar betrieben hat.«
Die Vertreter der anderen Angeklagten kamen beim Ablauf der Verhandlung bis zu diesem Zeitpunkt nur selten zum Zuge. Doch auch sie gaben bereits zu erkennen, dass sie nicht beabsichtigen, die juristischen Rechte ihrer Mandanten aus politischen Gründen beschneiden zu lassen. So forderten die Verteidiger von Heinz Keßler – es sind dies Winfried Matthäus, Hans-Peter und Astrid Mildebrath – ebenso wie die von Fritz Streletz – Christoph Rückel, Michael Minderjahn und Klaus-Dieter Frost – bereits mehrfach Haftentlassung für die nun wichtigsten Angeklagten des Prozesses. Sie machten geltend, dass beide keinerlei Fluchtabsichten hegten und zumindest Keßler auch gesundheitlich erheblich angeschlagen sei. Natürlich wiesen sie die Anklage grundsätzlich zurück; damit in Übereinstimmung mit dem dritten, haftverschonten Angeklagten Hans Albrecht.
Schon im Juni 1992 hatten die Keßler-Verteidiger – insbesondere gestützt auf das Rückwirkungsverbot – beantragt, die Eröffnung des Hauptverfahrens abzulehnen und zugleich den Haftbefehl aufzuheben, da die Untersuchungshaft längst »den Charakter einer vorweggenommenen Strafhaft angenommen« habe. Ähnlich argumentierten die Anwälte von Fritz Streletz: »Streletz dient möglicherweise durch seine bloße Inhaftierung den politischen Entscheidungsträgern als Alibi dafür, dass ein energisches Vorgehen gegen Repräsentanten der früheren DDR erfolge.« Auch sie zweifelten die Berechtigung der Anklage an und hoben dabei besonders darauf ab, dass »die tatsächliche Entscheidungskompetenz unseres Mandanten bereits durch die Einleitung dieses Strafverfahrens und durch die Erhebung dieser Anklageschrift weit überschätzt« würden. Auch die Verteidiger Albrechts, Jürgen Fleck und Hans-Peter Richter, beantragten am 26. November die Einstellung des Verfahrens gegen ihren Mandanten, weil es keinen Nachweis individueller Verantwortlichkeit am Grenzregime und den Toten an der Mauer erbringe. Albrecht sei lediglich als Mitglied des Nationalen Verteidigungsrates angeklagt, doch für die Handlungen dieses politischen Gremiums eines souveränen Staates wäre das Berliner Landgericht nicht zuständig.
Besonders die Verteidiger der inhaftierten Keßler und Streletz legen Wert auf eine Verhandlungsbeschleunigung. Sie sehen ihre Mandanten als Geschädigte des langen Tauziehens um Honeckers Krankheit, und sie erblicken auch in seinem Ausscheiden und vor allem der Ausreise nach Chile einen beträchtlichen Nachteil. Sie gehen davon aus, dass sowohl der frühere DDR-Verteidigungsminister als auch sein Stabschef durch Honeckers Aussagen hätten entlastet werden können. Christoph Rückel stellte daher noch am 7. Januar 1993 den Antrag, Honecker unverzüglich als Zeugen zu hören, was dieser jedoch angesichts des damals gegen ihn noch laufenden Verfahrens ablehnte. Nach Einstellung des Honecker- Verfahrens erneuerte Hans-Peter Mildebrath nun für Keßler diesen Antrag, aber dadurch ließ sich der einstige Vorgesetzte der beiden Militärs auch nicht mehr aufhalten. Sie müssen sich jetzt mit Albrecht allein den geballten Vorwürfen der Berliner Staatsanwaltschaft stellen – für sie wie für ihre Verteidiger eine schwierige Aufgabe.