Wie alljährlich um den 15. Januar herum, den Tag der Ermordung der Kommunisten Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg durch Freikorps-Offiziere, so fand auch vor zwanzig Jahren die traditionelle Massendemonstration der SED zum Sozialisten-Friedhof in Berlin-Friedrichsfelde statt. Doch am damaligen Gedenktag, dem 17. Januar, beteiligten sich an der Demonstration auch DDR-Bürgerrechtler und Ausreiseantragsteller; sie wiesen mit eigenen Plakaten und Spruchbändern auf ihre Forderungen hin, was der DDR-Führung mitnichten gefiel. Sie setzte sowohl an diesem Tag wie später ihre Sicherheitskräfte ein, um den unerwünschten Protest zu unterbinden – und hat ihn dadurch nur noch mehr angefacht.
Gut zwei Jahre später, im Sommer 1990, entstand nachfolgender Text, der die damaligen Ereignisse rekapituliert und in einen größeren Zusammenhang zu stellen versucht. Denn es wurde bald deutlich, dass dieser wie andere Vorfälle in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre zu einer Entwicklung gehörten, an deren Schlusspunkt das Ende der DDR stand. Zwar ist heute das Geschehen vor 20 Jahren gründlicher erforscht als damals, nur Monate danach; dennoch kann diese bislang unveröffentlichte Darstellung neben ihrem dokumentarischen Teil einiges zur seinerzeitigen Atmosphäre am Ende einer Epoche aussagen.
Aktion »Störenfried«
Am Morgen des 17. Januar 1988 strebten Tausende Berliner den seit Tagen in den Zeitungen veröffentlichten Stellplätzen zu. Nach bekanntem Ritual sollte die »Kampfdemonstration zum 68. Jahrestag der Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs« ablaufen. Die Demonstranten formierten sich beiderseits der Frankfurter und Karl-Marx-Allee, die Spitze des Zuges am S-Bahnhof Frankfurter Allee. Das Politbüro der SED in protokollarischer Reihung, mit erhobenen Fäusten und wenigstens so laut singend, dass die über den Häuptern der alten Kämpf er von dienstbaren Geistern in Balance gehaltenen Mikrofone die Töne in den Äther zu senden vermochten, zur Gedenkstätte in Friedrichsfelde. Alles ging seinen »sozialistischen Gang«. Die Berliner an den Straßenrändern klatschten, und nicht wenige stimmten in die Hochrufe ein» die von eifrigen Claqueuren angestimmt wurden.
Und doch war 1000 Meter hinter dem Fahnenblock, der die Parteiführung vom übrigen Volk abschirmte, nicht alles wie sonst. Am Frankfurter Tor ereignete sich etwas, das tags darauf zwar in keiner DDR-Zeitung stand, an dem aber die Westberliner SEW-Zeitung »Die Wahrheit« angesichts der groß aufgemachten Berichte im gesamten sonstigen westlichen Blätterwald nicht ganz vorbeigehen konnte, »Der Versuch einer von bestellten Fernsehteams von ARD und ZDF umgebenen Gruppe, der Sache undienliche Losungen in den Zug der 200 000 zu bringen, wurde von demonstrierenden DDR-Hauptstädtern abgewehrt«, hieß es da.
Was tatsächlich an diesem 17. Januar 1988 am Frankfurter Tor passierte, wusste die Staatssicherheit der DDR schon eine Woche vorher. Bereits am 6. Januar hatten Mitglieder der Arbeitsgruppe Staatsbürgerrecht , eines seit Herbst 1987 bestehenden Zusammenschlusses von Personen, die aktiv ihre Ausreise aus der DDR betrieben, die »Initiative für Frieden und Menschenrechte« (IFM) aufgefordert, sich mit entsprechenden Losungen an den Demonstrationen zu Ehren Liebknechts und Luxemburgs zu beteiligen. Die Initiative lehnte ab, denn ihre Mitglieder hatten irr der Mehrzahl eine distanzierte Haltung zu den Ausreisewilligen. Zwar betrachteten sie das Recht eines Menschen, jederzeit sein Land verlassen oder in dieses zurückkehren zu können, als ein Grundrecht und wollten keine unterschiedliche Bewertung einzelner Menschenrechte vornehmen. Andererseits aber sah die Gruppe ihre Aufgabe in der DDR, und sie spürte die Gefahr, sich durch einen anderen »Kriegsschauplatz« von ihrem Hauptziel abbringen zu lassen, Bärbel Bohley, die stets engagiert und uneingeschränkt für das Selbstbestimmungsrecht jedes einzelnen Menschen focht, sah hier einen Konflikt, der für die IFM zeitweise sogar lähmend werden konnte,und deshalb war ihre Haltung klar: »Wir wollen nicht als Vehikel genutzt werden … Offenbar sind fast alle, die in den Staatsbürgerschaftsgruppen arbeiten, Leute, die durch solche Aktivitäten ihre Ausreise erwirken wollen. Am Ende kannst du doch nur mit Leuten zusammenarbeiten, die seit Jahren aus der Friedensbewegung bekannt sind und deren Loyalität daher eindeutig geklärt ist.«
Sie spielte damit möglicherweise auf einen Punkt an, den Kurt Zeiseweis, bis zur Wende Oberst in der Berliner MS-Bezirksverwaltung, in zynischer Offenheit zugab – die Nutzung der Ausreisewilligen durch das MfS, um Informationen über die Bürgerrechtler zu erlangen. »Die hatten wenig Charakter. Versprachen wir einem die Ausreise, verriet er jeden. So wurden Einzelne von ihnen zeitweilig Waffen von uns. Natürlich erkannte das auch die andere Seite, aber sie konnte sich nicht von ihnen lösen. Das war eine Schwäche, die wir ohne Bedenken nutzten.«
Nachdem am 9. Januar die Staatsbürgerschaftsgruppe selbständig ihre Beteiligung an der Demonstration beschlossen hatte und mit der Organisation begann, stellten einige Bürgerrechtsgruppen – so die Umweltbibliothek – ihren Mitgliedern, die Teilnahme frei. Die IFM blieb weiterhin zurückhaltend; lediglich Wolfgang Templin sah hierin eine Möglichkeit, die Schlagkraft der Initiative zu erhöhen. Offensichtlich spürten viele instinktiv die Gefahr, die heraufzog, aber die allgemeine Aufbruchstimmung nach dem positiven Ausgang der Affäre um die Umweltbibliothek bewirkte zugleich eine gewisse Euphorie, die Vorsichtsmaßregeln vergessen ließ.
Die Staatssicherheit wusste jedenfalls zu diesem Zeitpunkt schon genau Bescheid. In einer Information vom 13. Januar hieß es: »Dem MfS wurde bekannt, dass die sogenannte Gruppierung Staatsbürgerschaftsrecht – Zusammenschluss von Übersiedlungsersuchenden – beabsichtigt, am 17. Januar 1988 anlässlich der Kampfdemonstration zur Ehrung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg provokativ, öffentlichkeitswirksam in Erscheinung zu treten. Zu. diesem Zweck ist geplant, sich an diesem Tage gegen 09.00 Uhr vor dem ›Haus für Sport und Freizeit‹ am Frankfurter Tor zu treffen und sich danach gemeinsam zum Stellplatz der Kreisparteiorganisation Berlin-Prenzlauer Berg (Proskauer Straße) zu begeben. Die Teilnahme an der Demonstration soll im Marschblock der Kreisparteiorganisation Berlin-Prenzlauer Berg, unter Mitführung von Transparenten und anderen Sichtelementen, erfolgen. Vorgesehen sind unter anderem, Aufschriften wie ›Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden‹, ›Wer sich bewegt, spürt die Fesseln nicht‹, ›Der einzige Weg zur Wiedergeburt ist die breiteste Demokratie‹. Bei den Losungen handelt es sich ausschließlich1um Zitate aus Schriften von Rosa Luxemburg. Internen Hinweisen zufolge rechnen die Organisatoren der Provokation mit einer zahlenmäßig starken Beteiligung (ca. 150 Personen). Es ist nicht auszuschließen, dass auch Personen, insbesondere Übersiedlungsersuchende aus anderen Bezirken, an der Provokation teilzunehmen versuchen. Die Provokateure rechnen damit, dass kurze Seit nach dem Zeigen von Sichtelementen die Sicherungskräfte einschreiten und es zu Festnahmen und Zuführungen kommt. Man verspricht sich davon eine gewisse Öffentlichkeitswirksamkeit und rechnet offensichtlich mit der Anwesenheit westlicher Medienvertreter, die darüber berichten können.«
Auch wenn später oft gemutmaßt wurde, das MfS habe diese Aktion von vornherein bewusst zu einem Schlag gegen die Opposition nutzen wollen und vielleicht sogar die Ausreiseersuchenden zu ihren Aktivitäten gedrängt, so gibt es dafür doch keinen überzeugenden Hinweis. Sowohl die Aktenlage beim MfS als auch die Einschätzungen unverdächtiger Zeugen lassen eigentlich nur den Schluss zu, dass es dem MfS zunächst. lediglich darum ging, durch routinemäßige Maßnahmen einen »störungsfreien« Ablauf der Demonstration zu gewährleisten. Daher firmierte die Gegenaktion auch unter der MfS-internen Bezeichnung »Störenfried« und sah folgende Schritte vor:
»1. Da es sich bei den Personen, die sich an der organisierten Provokation beteiligen wollen, vorwiegend um Übersiedlungsersuchende (über 100 Personen) handelt, ist geplant, im Vorfeld unter Federführung des Bereiches Inneres der Hauptstadt mit den bekannt gewordenen Personen vorbeugende Gespräche zu führen. In den Gesprächen wird ihnen deutlich gemacht, dass es sich bei ihren Vorhaben um, eine Provokation handelt und im Falle ihrer Teilnahme sie mit rechtlichen Konsequenzen zu rechnen haben … Mit den vorgesehenen Maßnahmen soll eine Verunsicherung unter diesen Personen und eine Abstandnahme voll der geplanten Provokation erreicht werden.
2. Zur Sicherung und Kontrolle des vorgesehenen Sammlungsortes der Provokateure wird ein gesonderter Sicherungseinsatz durch Kräfte des MfS und der Volkspolizei Berlin, unter Einbeziehung gesellschaftlicher Kräfte, durchgeführt. Es wird vorgeschlagen, 300 gesellschaftliche Kräfte, darunter eine Reserve von 80 – 100 Personen, zum Einsatz zu bringen, die mit einer großen Anzahl von Sichtelementen auszurüsten sind. Diese gesellschaftlichen Kräfte werden am Einsatzort durch Mitarbeiter der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Berlin und dafür verantwortlichen Genossen der Bezirksleitung Berlin der SED auf die Personen der Gruppierung hingelenkt …
3. In Realisierung der Maßnahmen sind folgende Handlungsvarianten vorgesehen:
– Personen, die trotz Vorbeugungsgesprächen und Belehrungen am Sammlungsort erscheinen und durch Vorzeigen von Transparenten oder anderen Sichtelementen provokatorisch in Erscheinung treten, sind sofort durch die Schutz- und Sicherheitsorgane zuzuführen.
– Personen, die sich am Sammlungsort einfinden, nicht sofort provokativ in Erscheinung treten und sich zur Teilnahme an der Demonstration begeben, sind durch Kräfte der Sicherheitsorgane und maximalen Einsatz gesellschaftlicher Kräfte ständig unter Kontrolle (Flankieren, Einkreisen, Durchsetzen) zu stellen. Treten sie im Verlaufe der Demonstration mit Sichtelementen, die versteckt am Körper getragen wurden, provokatorisch in Erscheinung, sind sie im Zusammenwirken der Kräfte zu isolieren und den Ordnungskräften an der Strecke zur Zuführung zu übergeben.
– Durch den verstärkten Kräfteeinsatz an den Schleusen sind weitere konzentrierte und unterstützende Maßnahmen zur Verhinderung von Provokationen wirksam zu machen. (Es werden 5 derartige Filtrierungsstellen entlang der Demonstrationsstrecke eingerichtet.)
Bei nicht zu verhinderndem provokativen Handlungen vor allem im Bereich der Gedenkstätte ist durch massierten Einsatz der begleitenden gesellschaftlichen Kräfte, die entsprechende Sichtelemente mit sich führen, eine Abdeckung der provokativen Losungen sicherzustellen. Provokatorisch in Erscheinung tretende Personen werden nach Verlassen der Gedenkstätte an einem geeigneten Ort durch die Schutz-und Sicherheitsorgane zugeführt.
– Zur vorbeugenden Verhinderung von provokativen Handlungen in allen Marschblöcken sind durch die SED-Kreisleitungen im Zusammenwirken mit den VPI und den Kreisdienststellen des MfS eine angemessene Anzahl von Genossen aus den BPO und WPO (je 20 – 30 pro Kreisparteiorganisation) über die vorgesehene Provokation in Kenntnis zu setzen. Diese Genossen sind zu beauftragen, durch hohe Wachsamkeit bereits in den Stellräumen und während der Demonstration auf Provokationen von Einzelpersonen zu achten und bei Feststellung gemeinsam mit den eingesetzten Sicherungskräften die Provokation entsprechend den unter Punkt 3. genannten Handlungsvarianten zu verhindern. Sie sind ebenfalls mit einer angemessenen Anzahl von Sichtelementen auszurüsten.«
So lief das Ganze dann auch ab und war natürlich schon vom Ansatz her au Scheitern verurteilt. Das Fernsehen der BRD hatte ausgiebig Gelegenheit, die fahnenschwingenden »gesellschaftlichen Kräfte« ins Bild zu bringen, und zwischendurch war doch der Blick auf die genannten unerwünschten Losungen nicht zu verstellen. Zwar wertete das MfS seine ausgeklügelten Maßnahmen später als erfolgreich; jedoch war das wohl Augenauswischerei, Die nächsten Tage sollten das deutlich zeigen, denn nun, da erneut Dutzende »zugeführt«, also festgenommen waren – fast ausschließlich Ausreisewillige – setzten die Solidaritätsaktionen in den Kirchen wieder ein. Vertreter der »Kirche von unten«, der IFM, der Gruppe »Gegenstimmen«, der Umweltbibliothek, der Arbeitsgruppe Solidarische Kirche sowie des Friedenskreises Friedrichsfelde und der Punk-Gruppe der Erlöserkirche fanden sich am 18, Januar zusammen, um nächste Schritte zu beraten. An Mahnwachen war nicht gedacht, da man sich mit ihnen zu eindeutig auf die Seite der Ausreiseantragsteller begeben hatte, aber Mahnwachenbüros sollten eingerichtet werden, Kontakttelefone, über die ein Informationsfluss organisiert werden konnte, wobei es vor allem darum ging, mögliche Angriffe auf die Bürgerrechtsgruppen rechtzeitig zu erkennen. Der Bischof der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg, Gottfried Forck, erklärte am 21. Januar: »Das , Stadtjugendpfarramt ist beauftragt, bis zur Klärung der anstehenden Probleme zu Fürbittandachten einzuladen. Die Kirchenleitung wird sich daran beteiligen, die Anwälte einladen und für Gelegenheit zu Rückfragen und Aussprachen sorgen.« Diese offene, von der evangelischen Kirche bis dahin kaum so gewohnte – und daher auch von nicht wenigen Kirchenvertretern zurückhaltend aufgenommene – Kampfansage machte vielen Menschen Mut, sich an diesen Andachten zu beteiligen, die täglich in einer anderen Kirche stattfanden. Sie ließ Schriftsteller, die schon lange ein offenes Wort riskiert hatten, noch vernehmlicher werden: »Die Regierenden sind dabei, die DDR in einen Friedhof selbständigen Denkens zu verwandeln«, so Uwe Kolbe. Er wie andere erfuhren die Solidarität ihrer westlichen Kollegen, unter denen sich besonders jene hervortaten, die selbst ihre Erfahrungen mit dem stalinistischen Regime in der DDR gemacht hatten. »Der kalte Krieg der Herrschenden in der DDR gegen andersdenkende Landeskinder eskaliert geradezu hysterisch“, hieß es in einer Erklärung, die neben anderen Wolf Biermann, Reiner Kunze, Sarah Kirsch, Erich Loest, Jürgen Fuchs und Joachim Schädlich unterzeichnet hatten. Und auch über die bundesdeutschen Grenzen hinaus war das Echo auf die Maßnahmen der DDR-Führung verheerend.
Erneut bahnte sich eine Niederlage^für die Staatssicherheit an, und wenn von ihr gar ein Schlag gegen die Opposition beabsichtigt gewesen sein sollte, so war der erst recht nicht zu erreichen. Denn von den etwa 120 Verhafteten ließen sich nur sechs der Bürgerrechtsbewegung zurechnen: der Liedermacher Stephan Krawczyk, die Philosophin Vera Wollenberger, Frank-Herbert Mißlitz sowie die Akteure der Umweltbibliothek Bert Schlegel, Till Böttcher und Andreas Kalk. Dass nicht mehr verhaftet wurden, lag an der oben beschriebenen Taktik, die bekanntesten Oppositionellen gar nicht erst bis zum Demonstrationsort vorzulassen und zumeist schon in ihren Wohnungen gewissermaßen zu internieren. Wer doch noch seine Behausung verlassen konnte, wurde dann aber sofort von wartenden MfS-Leuten in Autos verfrachtet und abtransportiert. Einer kam auf diese Weise sogar in Haft, nur weil er – noch in Schlafanzug und Pantoffeln – die außerhalb seiner Wohnung liegende Toilette aufsuchen wollte. Sogar die »Umweltblätter« schrieben etwas erstaunt: »Dummerweise wurden … viele Aktivisten am Verlassen ihrer Häuser gehindert, so dass nicht einmal Lotte und Wolfgang Templin, die vermutlich als einzige Mitglieder der Initiative an der Demonstration teilgenommen hätten, zur Verfügung standen.«
Da Mißlitz schon nach vier Tagen freigelassen wurde und die Antragsteller in der Regel relativ schnell die Genehmigung zur Ausreise erhielten, blieben letztlich nur fünf, wovon Stephan Krawczyk und Vera Wollenberger zweifellos die Prominentesten waren. Der Lieder macher war unweit seines Hauses in der Oderberger Straße festgenommen worden; er trug ein Plakat mit der Aufschrift »Gegen Berufsverbot in der DDR« bei sich. Vera Wollenberger schildert ihre Verhaftung selbst: »Ich wollte probieren, ob man nach dem Olof-Palme-Marsch weiterhin mit eigenen Losungen auftreten kann. Doch unterwegs sah ich schnell, was lief und überlegte schon, ob ich nicht nach Hause zurückkehren sollte. – Da war es schon zu spät.« Vera Wollenberger hatte den besonderen Hass des Staates auf sich gezogen, da sie gegen den damaligen Chefredakteur der »Jungen Welt«, Hans-Dieter Schütt, Strafantrag wegen Beleidigung und Verleumdung stellte, nachdem dieser in einem Kommentar einen Zusammenhang zwischen militanten Skinheads und ihrem Angriff auf die Zionskirche im Oktober 1987 und den Aktivisten der Umweltbibliothek konstruiert hatte. Gegen sie wurde dann später auch der erste Prozess angestrengt.
Stephan Krawczyk und Vera Wollenberger wurden offensichtlich als diejenigen Exponenten der Bürgerrechtsbewegung angesehen, die ehesten eine Führungsrolle übernehmen und dadurch möglicherweise für die Staatssicherheit unangreifbar werden könnten, Daher ist durchaus denkbar, dass ihre Verhaftung und – damals noch geplante, bei Wollenberger auch vollzogene – Verurteilung einen Abschreckungseffekt erzeugen sollten. Aber wie schon im November 1987, so unterlagen die Spitzen des MfS – und mit ihnen die Partei- und Staatsführung – auch jetzt wieder einer Fehleinschätzung, Sie hingen der Illusion nach, in der DDR, die sich zudem international als »Friedensfaktor« präsentieren wollte, seien in allen zivilisierten Staaten übliche und als rechtmäßig bewertete Demonstrationsformen anders zu beurteilen und sogar gewaltsam zu bekämpfen. Sie glaubten in ihrer Borniertheit, innerhalb der streng geschlossenen Grenzen schalten und walten zu können, wie es ihnen beliebte und waren nur bemüht, die Öffentlichkeit von den unappetitlichen Vorgängen im Innern auszuschließen.
Die Solidaritätswelle bewies das Gegenteil; und man kann sich denken, dass die absehbare zweite Niederlage des Sicherheitsapparates erheblich an dessen Selbstverständnis nagte und vor allem Mielke darüber nachsann, wie die lange geplante Generalabrechnung mit der Opposition doch noch bewerkstelligt werden könnte. Dabei kam ihm ein Umstand zu Hilfe, der selbst für Bischof Forck in gewisser Hinsicht einsichtig war: »Wir hatten vor den Aktionen am 17. Januar gewarnt, weil es sich um eine Veranstaltung handelte, die für die Organisatoren etwas Ähnliches sein musste wie für uns in der evangelischen Kirche der Karfreitags-Gottesdienst. Auch wir würden da den Einzug mit Transparenten als Störung empfinden.«
Und genauso wertete die Partei- und Staatsführung der DDR damals das Auftreten der Bürgerrechtler auf einer Ehrung für die als Eigentum der SED betrachteten Begründer der KPD, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, als Sakrileg. Der damalige Präsident des PEN-Zentrums der DDR, Heinz Kamnitzer sprach im »Neuen Deutschland« der alten Politbüro-Garde aus dem Herzen: »Der Trauer-marsch für die ermordeten Nationalhelden unseres Staates wurde vorsätzlich gestört, die Totenfeier für die Märtyrer der Kommunistischen Partei sollte mutwillig entweiht werden … Was da geschah, ist verwerflich wie eine Gotteslästerung. Keine Kirche könnte hinnehmen, wenn man eine Prozession zur Erinnerung an einen katholischen Kardinal oder protestantischen Bischof entwürdigt. Ebenso wenig kann man uns zumuten, sich damit abzufinden, wenn jemand das Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht absichtlich stört und schändet.«
Gegen diesen emotionalen Appell, der viel mehr über die Geistesverfassung der früheren DDR-Führung verrät als manche langatmige Rede, stand Vernunft auf verlorenem Posten. Der Minister für Staatssicherheit konnte sich endlich durchsetzen. War noch am Wochenende des 23./24. Januar der Kirche Entspannung signalisiert worden, hatten Diplomaten auf besorgte Fragen des Auslands durchblicken lassen, die leidige Geschichte werde bald aus der Welt sein, so schlug das MfS am 25. Januar unvermittelt zu. Freya Klier, Lebensgefährtin Stephan Krawczyks, Bärbel Bohley, Werner Fischer sowie Ralf Hirsch, Wolfgang und Regina Templin, bis auf Freya Klier allesamt Aktivisten der Initiative Frieden und Menschenrechte, wurden festgenommen. Gegen sie lag im Zusammenhang mit der Demonstration am 17. Januar nichts vor; deshalb erfolgte die Inhaftierung »wegen des begründeten Verdachts auf landesverräterische Beziehungen«, wie die offizielle Version lautete.
Tatsächlich aber waren ihre Aktivitäten nach dem 17. Januar der Grund. Freya Klier hatte auf einem Videoband einen Appell an alle Künstler der BRD gerichtet, ihre Gastspiele in der DDR abzusagen, was unter anderem Udo Lindenberg und der Kabarettist Dieter Hildebrandt auch taten. Bärbel Bohley und Werner Fischer waren die Hauptinitiatoren des Kontakttelefons; zeitweilig diente sogar der Privatanschluss der Malerin als Kommunikationsmittel. Ralf Hirsch hielt die ganze Zeit über engen Kontakt zu dem bereits früher gewaltsam aus der DDR ausgewiesenen Roland Jahn und zu westlichen Medien – seine Verhaftung erfolgte unter den Augen des »Spiegel«-Korrespondenten in der DDR. Und die Templins waren durch ihre Kontakte zu den Ausreiseantragstellern in den Verdacht der Rädelsführerschaft geraten.
»Die Bürgerrechtler wurden – wie schon nach den Angriff auf die Umweltbibliothek – auch nach dem 17. Januar sehr aktiv, und die Partei- und Staatsführung sah sich herausgefordert«, bewertete Joachim Wiegand, bis zur Auflösung des MfS Oberst in dessen Hauptabteilung XX, die damalige Lage. »Bei uns liefen alle Informationen zusammen, und wir sahen, wie sich die Geschichte immer bedrohlicher entwickelte. Da wird wohl jemand ganz oben gedacht haben» Wenn wir die Scheiße schon einmal haben, dann räumen wir alles auf einmal weg.« .
Er glaubt aber nach wie vor nicht, dass dies von Anfang an geplant war, und er trifft sich in dieser Einschätzung mit führenden Köpfen der Oppositionsbewegung, »Es war aus meiner Sicht ein Nachfassen«, sagte Werner Fischer später. »Allerdings waren die Rahmenbedingungen dafür schon geschaffen – durch die Ereignisse am 17. Januar. Unter Ausnutzung der entstandenen Öffentlichkeit um die Ausreisewilligen holte man sich gleich noch die, auf die man es ohnehin seit langem abgesehen hatte.« Und auch Gerd Poppe urteilt: »Es war wohl weniger eine Falle als das Nutzen einer günstigen Gelegenheit.« Ziel des Staates war offensichtlich, durch Prozesse gegen die Bürgerrechtler deren langjährige Verurteilung zu bewirken und sie damit auszuschalten. Ex-Oberst Wiegand bestätigt das ausdrücklich: »Zirka 100 Personen waren am 17. Januar inhaftiert worden, darunter aber nur wenige oppositionelle Aktivisten, da wir sie durch unsere ›offensive Beobachtung‹ abgeblockt hatten. Einige – eben Krawczyk, Wollenberger sowie die schon durch die Umweltbibliothek bekannten Schlegel, Kalk und Böttcher – waren aber doch darunter. Diese Namen waren Mielke geläufig, und er sagte: Wo wir die nun haben, holen wir auch noch die anderen. Und dann wird der Deckel zugemacht! Die Hauptabteilung XX musste sofort Listen anfertigen, wer für die Inhaftierung in Frage kommt. Die wurden noch mehrfach geändert. Schließlich entschied Mielke persönlich, wer alles eingefahren wird. Er dachte wohl auch, die Bevölkerung ist wegen der Störung der Liebknecht/Luxemburg-Ehrung aufgebracht, jetzt können wir zuschlagen.«
Der Anfang wurde mit Vera Wollenberger gemacht. Am 27. Januar begann im Stadtbezirksgericht Lichtenberg – gegenüber der Glaubenskirche und nur einen Steinwurf von der MfS-Zentrale entfernt – die Verhandlung gegen sie. Der »Gerichtssaal«, ein winziger Raum, in dem gerade zehn Zuhörer Platz fanden, war durch »Zivilisten« besetzt, und sogar Bischof Forck und Veras Ehemann Knut bekamen erst nach längerer Diskussion zusätzliche Stühle gebracht. Die Anklage lautete auf Rowdytum bzw. Zusammenrottung, beides in Vorbereitung – ziemlich kümmerliche »Straftatbestände«. Der Staatsanwalt beantragte dennoch acht Monate, die Verteidigung – bestritten von Wolfgang Schnur – Freispruch bzw. bei einer Verurteilung Bewährung. Das Gericht folgte im wesentlichen der Sicht der Anklagebehörde und verurteilte Vera Wollenberger zu sechs Monaten Gefängnis. Tage später folgte der Prozess gegen Bert Schlegel, Andreas Kalk und Till Böttcher, der ebenfalls mit sechsmonatigen Freiheitsstrafen endete.
In der Zwischenzeit war aber die Solidaritätswelle erheblich angewachsen. Schwankten die Teilnehmerzahlen der Fürbittandachten nach dem 17. Januar zwischen 200 und 400, so versammelten sich am Abend des 25. Januar in der Friedrichsfelder Kirche schon 600 und zwei Tage später in der Galiläakirche 900 Menschen, Am Tag der Verurteilung Vera Wollenbergers kamen 1000 Besucher in die Paul-Gerhardt-Gemeinde und tags darauf 1500 in die Erlöserkirche. An dieser meditativen Andacht nahmen auch bekannte Künstler teil, die Schriftsteller Ulrich Plenzdorf, Klaus Schlesinger und Lutz Rathenow sowie die Schauspielerin Heidemarie Wenzel. Sie standen hinter dem Aufruft: »Wir bitten alle Schriftsteller der DDR, alle Kunst- und Kulturschaffenden sowie alle Journalisten, sich öffentlich und in ihren Berufsverbänden in diesem Sinne einzusetzen»“ Den Höhepunkt erreichten die Aktionen, als am 30. Januar 2300 Menschen zur Predigt von Bischof Dr. Forck in die Gethsemanekirche kamen.
Informationsandachten fanden auch in der gesamten Republik, in Leipzig, Dresden, Jena, Cottbus, Potsdam, Wismar, Greifswald, Rostock, Erfurt, Magdeburg, Neustrelitz, Neuruppin, .Quedlinburg, Rudolstadt, Zittau, Fürstenwalde, Zwickau, Aschersleben, Spremberg, Finsterwalde, Torgau, Annaberg, Görlitz, Halle und anderen Orten statt. Auch auf den Straßen – so in Quedlinburg, Wismar, Rudolfstadt, Templin – kam es zu Protestaktionen; in der uckermärkischen Kreisstadt hatte sogar jemand an das Gebäude der MfS-Dienststelle den Text »Freiheit für die Inhaftierten« gepinselt, Solidarität bekundeten auch viele Menschen in West- und Osteuropa, Intellektuelle und Künstler zumal, aber auch Vertreter dortiger Bürgerbewegungen und führender Parteien.
Die DDR-Führung geriet in eine arge Klemme, denn mit dem spärlichen »Beweismaterial« für zudem international kaum irgendwo respektierte Straftatbestände einer politischen Gesinnungsjustiz war das Ziel dauerhafter Neutralisierung der Opposition nicht zu erreichen. Fieberhaft wurde nach einem anderen Weg gesucht, zumal Honecker in einem Gespräch mit dem westdeutschen FDP-Vorsitzenden Graf Lambsdorff aufgrund der weltweiten Proteste die Freilassung der Verhafteten bis zum 7. Februar zugesagt hatte. Und so kam es, dass – während in der Öffentlichkeit , eine diffamierende Pressekampagne gegen die Verhafteten und in ihrer Mehrzahl noch gar nicht Verurteilten lief – hinter den Kulissen an einer Lösung gebastelt wurde.
Am 1. Februar, einem Montag, begannen Gespräche mit den Inhaftierten über ihre Zukunft, an sich schon ein absurder Vorgang. Diese Gespräche führten die Rechtsanwälte Wolfgang Vogel, der als Vertrauter Honeckers galt, und Wolfgang Schnur, Vertrauensperson für die Bürgerrechtler. In der Endphase kam Bischof Forck hinzu. In den Gesprächen ging es um die Frage, wohin sie entlassen werden wollten – in die DDR oder in die BRD. Diese Variante war dadurch ins Spiel gekommen, dass Freya Klier am 29, Januar in einem Brief an Stephan Krawczyk eine denkbare Ausreise in die Bundesrepublik angedeutet hatte Der Staat ging sofort darauf ein, und nachdem die Regisseurin den sich lange sträubenden Lebensgefährten ebenfalls überzeugt hatte, erfolgte in der Nacht vom 1. zum 2. Februar ihre Ausreise, Mit diesem Trumpf in der Hinterhand wurden die Gespräche mit den anderen geführt. Dennoch erklärten sie alle, nur in die DDR entlassen werden zu wollen, Bischof Forck dazu: »Lediglich Krawczyk und Klier erklärten, dass sie ausreisen wollten. Sie wurden nicht abgeschoben. Natürlich mussten sie befürchten, eine lange Freiheitsstrafe zu erhalten (Krawczyk waren »wischen zwei und zwölf Jahren angedroht worden – P.R.), aber sie haben schließlich zur Ausbürgerung Ja gesagt. Alle anderen erklärten, sie wollten hier bleiben, auch auf den Vorhalt hin, die Entscheidung könne nur jetzt fallen; wenn sie sich für die Entlassung in die DDR entschieden, dann sei das endgültig.«
Kirche wie Staatssicherheit hatten – aus ganz unterschiedlichen Gründen – ein gemeinsames Interesse an der Ausreise der Bürgerrechtler. Während die evangelische Kirche von humanitären Erwägungen ausging und eine Zuflucht im Ausland für vertretbarer hielt als eine möglicherweise lange Inhaftierung in der DDR, dachten weitsichtigere Leute im MfS pragmatisch, Ex-Oberst Wiegand: »Wir wussten, wenn sie im Knast bleiben, halten die Mahnwachen, die Fürbittgottesdienste und anderen Proteste an. Wir hätten ständig damit zu tun gehabt.« So orientierten beide auf eine Art »Gentleman’s Agreement«: Wenn die Hauptexponenten der Bürgerbewegung ausreisen, können die »kleineren Fische« in die DDR entlassen werden. Hauptexponenten aber waren neben Krawczyk und Klier auch Bohley und Fischer, Hirsch, Wollenberger, die Templins. Die ihnen ursprünglich gegebene Zusage einer Entlassung in die DDR konnte und sollte so nicht aufrechterhalten v/erden, und dieser neue Kurs wurde am 2. Februar eingeleitet. An diesem Tag wurde plötzlich Rechtsanwalt Vogel von den Gesprächen weg zum Generalstaatsanwalt gerufen, der ihm mitteilte, er hätte Honecker offensichtlich falsch verstanden. Nie sei an eine Freilassung in die DDR gedacht gewesen, Vogel antwortete spontan, das wäre ihm noch nie passiert, und legte sein Mandat – das er aber eigentlich von keinem der Betroffenen erholten hatte – kurzfristig nieder. Die Version der Generalstaatsanwaltschaft stützt noch heute der ehemalige Staatsanwalt Dr. Gläsner dergestalt, dass er Eigenmächtigkeiten bei Vogel nicht ausschließt: »Es könnte durchaus sein, dass er Zusagen gemacht hat, die mit dem Gesetz nicht in Übereinstimmung zu bringen waren. Damals war es ja nicht selten, dass irgend-jemand in die Belange der Staatsanwaltschaft hineinredete und irgendwelche Zusagen machte, mit denen das Recht verbogen wurde.«
Eine andere, wahrscheinlichere Deutung ist, dass an diesem 2. Februar, einem Dienstag, also dem Tag der wöchentlichen Politbürositzungen, die übliche Absprache zwischen Honecker und Mielke stattgefunden hatte. Letzterer hatte dabei sicher darauf verwiesen, dass die angezielte Lösung – nämlich eine Entlassung in die DDR – nichts bereinige und eher noch größere Probleme schaffe. Er dürfte sich grünes Licht für einen Abschluss der Affäre nach seinen Vorstellungen gegeben lassen haben. Dieser wurde dann über den Staatsanwalt eingeleitet und führte dazu, dass sich der Druck auf die Oppositionellen, einer Ausreise zuzustimmen, verstärkte. Die weiteren Gespräche erfolgten interessanterweise ausschließlich durch Rechtsanwalt Schnur, der 1990 als »inoffizieller Mitarbeiter« der Staatssicherheit enttarnt worden ist. Mit dem Wissen über Schnurs Funktion in jenen Tagen sind heute die damaligen Abläufe besser verständlich. Die Staatssicherheit jedenfalls agierte mit Halbwahrheiten, Überredungskünsten, auch schon mal versteckten und offenen Drohungen, die der Anwalt geschickt transportierte.
So wurde bei Bert Schlegel wenig Federlesen gemacht. Er hatte schon früher einen Ausreiseantrag gestellt und – obwohl Sohlegel nicht mehr dazu stand – dem wurde nun ohne Widerrufsmöglichkeit stattgegeben. Wolfgang und Regina Templin, deren Kinder in einem Heim untergebracht waren, dachten wohl vor allem an deren Zukunft und zogen die gemeinsame Ausreise einer Ungewissen Perspektive vor. Ralf Hirsch ist von Schnur offensichtlich vorsätzlich getäuscht worden. Gerd Poppe dazu: »Er hat ihn zum Beispiel überhaupt nicht über die große Solidaritätswelle informiert, sprach von 25 Sympathisanten, wo es in Wirklichkeit weit über 2000 in der Gethsemanekirche waren. Er sagte, dass ihm mit seinen Kontakten zu Roland Jahn, dem ja Mitarbeit bei westlichen Geheimdiensten vorgeworfen wurde, viele Jahre Gefängnis drohen, und als Ralf dann noch einmal mit mir sprechen wollte, vereinbarte er keinen Termin, sondern sagte ihm, er hätte mit mir gesprochen, und ich wäre der gleichen Meinung wie Schnur selbst.«
Ähnlich hatte sich der Rechtsanwalt auch schon gegenüber Freya Klier verhalten. Sie schrieb später zur Erklärung ihres Schrittes: »Von Eurer Solidarität wussten wir nichts. Unser Rechtsanwalt (mit dem wir ja befreundet waren), hat sie uns sicher nicht aus Berechnung, sondern aus Sorge um unser persönliches Wohlergehen verschwiegen; er wollte wohl vermeiden, dass wir uns falschen Hoffnungen hingeben … Ich bin also davon ausgegangen, dass es draußen keinen juckt – und das war für mich glaubhaft, wenn auch schmerzlich …« Außerdem erschwerte Schnur die Kommunikation zwischen Klier und Krawczyk, wie aus dem gleichen Brief hervorgeht.
Auch gegenüber Bärbel Bohley und Werner Fischer trat Schnur in erster Linie als Anwalt der Staatssicherheit auf. »Zwei- bis dreimal am Tag machte uns Schnur, deutlich, dass wir nicht in die DDR entlassen werden könnten, aber dass Einladungen der evangelischen Kirche der BRD und dann sogar des Erzbischofs von Canterbury in England vorlägen«, erinnert sich Werner Fischer. »Wir aber wollten den Prozess, wir fühlten uns fit und wussten, dass er die Wahrheit zeigen würde. Gerade deshalb wollte ja die andere Seite den Prozess nicht, und alle drei Anwälte – neben Schnur auch Gregor Gysi und Lothar de Maizière – taten da mit.« Fischer bedauert heute, dass sie nicht die Nerven behalten hatten und sich von der Hektik ihrer Anwälte anstecken ließen, »Dadurch wurde uns suggeriert, wir müssten eine Entscheidung, treffen. Tatsächlich aber war es die andere Seite, die unter Druck stand. Wir hätten eigentlich in Ruhe abwarten können.« Schließlich aber ließen sie sich förmlich breitschlagen und erklärten sich zu einem halbjährigen Aufenthalt in England bereit.
Am meisten getäuscht wurde aber offensichtlich Vera Wollenberger. Schnur teilte ihr zunächst mit, dass alle anderen ausreisen wollten und das kurzfristig vollzogen worden sei. Für sie bleibe auch kein anderer Weg; ein Berufungaverfahren werde es nicht geben, und Bewährung sei auch nicht zu erwarten. »Am 6. Februar war ich plötzlich die einzige Verbliebene«, sagt sie heute, »und da wurde ich unsicher in meiner Entscheidung, hier zu bleiben. Am Wochenende diskutierte ich mit meinem Mann darüber. Als Schnur und Gysi dann am Montag sagten, sie Situation sei unverändert, entschlossen wir uns, nach England zu gehen. Durch die Akteneinsicht im Zusammenhang mit dem Kassationsverfahren (das seinerzeitige Urteil gegen Vera Wollenberger wurde am 29. Mai 1990 aufgehoben – P,R.) weiß ich heute, dass bereits am 6. Februar die Staatsanwaltschaft Bewährung für mich beantragt und das Gericht daraufhin meine Freilassung für den folgenden Montag (8.2.) angeordnet hatte. Immerhin musste ja die Zusage Honeckers erfüllt werden. Darüber wurde im Unklaren gelassen. Wäre ich nur einen Tag langer hart geblieben …«
Wie richtig diese Einschätzung war, zeigte die Entlassung der Mitarbeiter der Umweltbibliothek, Till Böttcher und Andreas Kalk, aus der Haft am 6. Februar, Das gegen sie ergangene Urteil sei auf Bewährung ausgesetzt worden. Doch davon erfuhr Vera Wollenberger nichts.
Während also noch die DDR-Presse mit starken Worten nach »aller Strenge und Härte unserer Gesetze« gegen diejenigen rief, »die im Bunde mit jenen unverbesserlichen Vertretern des kalten Krieges unsere sozialistische Ordnung angreifen«,befanden sich die ersten der so Diffamierten schon auf dem Wege ins sichere Ausland, Zwischen dem 2. und 9, Februar 1988 wurden Stephan Krawczyk, Freya Klier, Bärbel Bohley, Werner Fischer, die Templins, Vera Wollenberger und Bert S0hlegel abgeschoben, Krawczyk, Klier und Schlegel für immer – wie man damals dachte, Bohley und Fischer für ein halbes Jahr, Vera Wollenberger für ein Jahr, das sie dann zur Beendigung eines Theologiestudiums in Großbritannien selbst noch einmal um die gleiche Zeit verlängerte, sowie Wolfgang und Regina Templin für zwei Jahre.
So endete diese Affäre mit einem Pyrrhussieg für die Machthaber. Es war ihnen zwar gelungen, wichtige Personen der Oppositionsszene aus dem Lande zu drängen, aber eine anhaltende Schwächung der Bürgerrechtsbewegung war so nicht zu erreichen, Die »Umweltblätter« kommentierten 1988 die Ereignisse mit einer gewissen Resignation: »Im Mittelalter wurden unbeliebte Menschen im Fluss ertränkt, In der Nazizeit wurden sie zu Tode gequält. Der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg blieb es vorbehalten, die möglicherweise humanere, aber ebenso effektive Lösung der Endlagerung von gefährlichen Menschen im Ausland zu erfinden. Für die Freunde, für die gesamte Gesellschaft in der DDR, die dringend verantwortliche Bürger braucht, ist es ebenso, als hätte man Stephan, Freya, Vera, Wolfgang, Bärbel, Lotte, Werner, Ralf und Bert ertränkt. Sie sind nicht mehr da, ihr Platz ist leer, sie fehlen.«
Dennoch ging die oppositionelle Arbeit weiter. Die Breite, die sie in den vergangenen Wochen in Berlin und der gesamten Republik gewonnen hatte, war nicht mehr zurückzudrängen – trotz aller Schwierigkeiten, die für die Bewegung blieben. Das sollte sich in den folgenden Wochen immer deutlicher zeigen.