In diesen Tagen vor 15 Jahren fand in Berlin der Prozess gegen Erich Honecker und drei weitere Angeklagte aus der DDR-Führungsriege statt. In neun Beiträgen wurde bereits an dieses Ereignis erinnert. Heute folgt ein weiteres, das zehnte Kapitel – auf der Grundlage des 1993 im Verlag Elefanten Press erschienenen Buches »Kurzer Prozess. Honecker & Genossen – Ein Staat vor Gericht?«, das nicht mehr im Handel ist.
Die Richter
Richter und Rächer
Wenn denn die Behauptung wahr sein sollte, die Berliner Justiz habe bei der Bestellung von Erich Honeckers Richter manipuliert, dann hat sie sich letztlich das Fiasko, in das dieser Richter Hansgeorg Bräutigam den Prozess führte, selbst zuzuschreiben. Zum einen, weil jeder Versuch, den Angeklagten seinem »gesetzlichen Richter« zu entziehen, d.h. andere Einflüsse als jene des Zufalls bei seiner Bestimmung walten zu lassen, einen rechtsstaatlichen Prozess von vornherein zur Farce macht, da er dem Gericht die ihm unterstellte wichtigste Eigenschaft nimmt, die Unparteilichkeit. Und zum anderen, weil der – im genannten hypothetischen Fall – erkorene Mann die denkbar schlechteste Wahl war, die sich denken ließ. Denn wenn schon in dieser Weise der blinden Justitia ein wenig auf die Sprünge geholfen werden sollte, dann doch nur durch einen unbestechlichen Gesetzesreiter, dem anderes als die peinliche genaue Befolgung der Paragraphen nicht vorzuwerfen wäre – wenn dies ein Vorwurf sein kann. Hansgeorg Bräutigam aber ist durch und durch Ideologe, und daran ist er letztlich im Honecker-Verfahren auch gescheitert.
Der 1937 geborene Bräutigam studierte in den durch den Mauerbau geprägten 60er Jahren an der Berliner Freien Universität die Rechtswissenschaft, machte 1964 das zweite juristische Staatsexamen und dann eine schnelle Karriere: Zunächst Beisitzer in der Berliner Jugendstrafkammer, 1967 Landgerichtsrat, in den 70er Jahren Justizpressesprecher bei den Senatoren Hoppe und Korber. 1977 wurde Bräutigam Ermittlungsrichter am Kammergericht und zeichnete sich besonders bei der Verfolgung tatsächlicher und vorgeblicher Terroristen aus. So verbot er dem Rechtsanwalt Henning Spangenberg zeitweilig die Tätigkeit als Verteidiger, weil dieser eine Erklärung seines Mandanten Fritz Teufel über dessen Hungerstreik, mit dem er gegen die ungerechtfertigte Haft im Zusammenhang mit der Lorenz-Entführung protestierte, an die Öffentlichkeit brachte. Ein Jahr später ließ er den Rechtsanwalt Detlev Müllerhoff sogar einsperren, da er vermutete, dieser sei an der gewaltsamen Befreiung seines Mandanten Till Meyer beteiligt gewesen, was sich als unzutreffend erwies.
Seine rechtskonservative und antikommunistische Gesinnung stellte Bräutigam in diesen Jahren – wenn auch unter Pseudonym – sogar öffentlich aus. Als »Georg Riedel« schrieb in der Berliner Morgenpost rechtspolitische Kommentare. In seiner Sicht wurden Atomkraftgegner »kommunistische Gruppen«, die sich »sammeln zum Sturm auf Atomkraftwerke, um Polizeieinsätze herauszufordern« (März 1977). Zum »geistigen Nährboden des Terrorismus« meinte er: »Wissenschaftler, Geistliche und Publizisten pervertieren die Diskussion um den Rechtsstaat« (April 1977). Und er fand auch, dass es beim Radikalenerlass mit seinen Berufsverboten nicht auf Parteizugehörigkeit ankomme, »sondern darauf, ob jemand Marxist oder Leninist ist. Denn der Marxist oder Leninist . . . ist ein Verfassungsfeind« (April 1978). Die Berliner tageszeitung fasste ihre Charakteristik des »Honecker-Richters« so zusammen: »Nein, ein Monokel trägt Hansgeorg Bräutigam nicht. Ansonsten aber scheint sich der Vorsitzende Richter der 27. Großen Strafkammer am Berliner Landgericht eher bruchlos in die unangenehm-deutsche Traditionslinie politisch unterfütterter Rechtsprechung einzufügen.«
Als die journalistische Nebentätigkeit des praktizierenden Katholiken bekannt wurde, erhielt er eine maßvolle Rüge, die seinen weiteren Aufstieg aber nicht behinderte. Er wurde bald Vorsitzender Richter am Landgericht, seit 1981 als Chef der 5. Großen Strafkammer, die Wirtschaftssachen bearbeitete. Sein größter Fall in dieser Zeit war der Prozess gegen den Bauunternehmer Garski, in dessen betrügerische Manipulationen der damalige SPD-geführte Senat so tief verstrickt war, dass der Regierende Bürgermeister Stobbe zurücktreten musste. Anfang der 90er Jahre konnte er dann die Genugtuung haben, auch über einen PDS-Finanzskandal zu richten. Er verurteilte im März 1992 die Funktionäre Pohl, Langnitschke und Kaufmann, die versucht hatten, ohne Kenntnis ihrer Führung Parteigelder ins Ausland zu transferieren. Unmittelbar danach wurde er Vorsitzender Richter der 27. Großen Strafkammer, die Kapitalverbrechen bearbeitete und deren langjähriger Vorsitzender in den Ruhestand gegangen war. Dass er dort dann für den Honecker-Prozess zuständig wurde, war ein Vorgang mit vielen Merkwürdigkeiten, und gerade diese veranlassten die Verteidiger zu dem Vorwurf, dabei sei manipuliert worden.
Zu den Regularien: Um das Zufallsprinzip bei der Bestellung eines Richters zu wahren, bearbeitet jede Strafkammer bestimmte Buchstaben, und die jeweils Beschuldigten werden ihnen nach ihrem Namen zugeordnet. Bei Prozessen mit mehreren Angeklagten ist der Name des Ältesten maßgebend. Nach dieser Regel hätte der Honecker-Prozess an die 23. Große Strafkammer gehen müssen, denn sie war zuständig für den Buchstaben M, mit dem der Name des mit damals 84 Jahren ältesten Angeklagten Mielke beginnt. Deren Vorsitzender Richter Theodor Seidel aber war im von ihm geleiteten ersten Prozess gegen Grenzsoldaten bereits scharf bedrängt worden. In den 60er Jahren hatte er sich unter dem Decknamen »Deckelmann« an Fluchthilfe-Aktionen beteiligt, was ihm nun den Vorwurf der Befangenheit eintrug. Das Risiko einer vertieften Diskussion dieses Sachverhalts wollte die Berliner Justiz gewiss nicht eingehen, zumal Seidel auch ansonsten im Grenzerprozess keine besonders gute Figur gemacht hatte. So erklärte das Präsidium des Landgerichts ihn für überlastet und beschoss die Umverteilung der Buchstaben an die einzelnen Kammern. Die 27. Strafkammer, bisher für die Buchstaben A bis H zuständig, behielt davon nur den Buchstaben H und bekam gleichzeitig I, M und N zugewiesen. Die Buchstaben A bis E gingen an die 23. Strafkammer. Bräutigam war daran als Mitglied des Präsidiums übrigens beteiligt. So war gesichert, dass der Honecker-Prozess auch dann an die 27. Strafkammer ging, wenn Mielke etwa in der Zwischenzeit versterben sollte.
Das Landgericht begründete mit der durch die gleichzeitige Einrichtung einer neuen Strafkammer ohnehin notwendig gewordenen neuen Buchstabenverteilung ihre Entscheidung und wies den Manipulationsvorwurf »mit Entschiedenheit« zurück. Nach Eingang der Anklageschrift bei der 27. Strafkammer nahm sie jedoch erneut eine Veränderung vor und verwies nun den Buchstaben H an die 31. Strafkammer und den Buchstaben M an die 29. Kammer. Somit war die Kammer Bräutigams nur siebeneinhalb Wochen für diese Buchstaben zuständig, just die Zeit, in der die Honecker-Anklage einging. Die Anwälte des Hauptangeklagten führten dazu aus: »Dass die Zuständigkeitsänderung zufällig, ohne den Blick auf das zu erwartende Verfahren gegen Honecker u. a. erfolgte, wird niemand ernsthaft behaupten können.«
Doch nicht nur in diesem zumindest seltsamen Vorgang sah die Verteidigung Anlass, Richter Bräutigam wegen Befangenheit abzulehnen. Sie bezog sich in ihrem schon am zweiten Verhandlungstag gestellten Antrag auch auf seine ersten Äußerungen und Entscheidungen, in denen sie die erforderliche Unparteilichkeit eines Richters nicht gewahrt sah. Daraus ergebe sich ein ausgeprägter »Verurteilungswillen« Bräutigams. Bereits in ihrer Stellungnahme zur Anklage konstatierten die Verteidiger das »Bedürfnis eines Richters, einen gelinde gesagt rechtlich höchst zweifelhaften Prozess gegen einen todkranken Mann in großer Eile noch vor dessen vollständiger Verhandlungsunfähigkeit einigermaßen elegant zu Ende zu bringen. Diesem Ziele haben sich offenbar entgegenstehende Rechtsfragen, die Gesundheit des Angeschuldigten und dessen Freiheit, seine Verteidigung so zu gestalten, wie er es für richtig hält, unterzuordnen.« Sie stützten sich in ihrem Urteil auf Interviews, die Bräutigam vor Prozessbeginn in reicher Zahl gegeben hatte und in denen er nicht versäumte, von den »historischen Dimensionen« des Verfahrens zu sprechen und nebenbei noch mitzuteilen, dass er gerade das Buch »Hitler und Stalin« lese. Gegenüber Nicolas Becker soll er schließlich gesagt haben: »Wir stehe ich denn vor der Geschichte da, wenn ich den Prozess gegen die anderen Angeklagten zu Ende gebracht habe und Herr Honecker in Chile noch in der Sonne liegt?« Die Anwälte zogen daraus den Schluss, es sei ziemlich zweifelhaft, »dass sich ein Vorsitzender vielfach biographisch porträtieren läßt, um lediglich eine negative Eröffnungsentscheidung zu fällen«.
Der Befangenheitsvorwurf der Honecker-Verteidiger bezog sich auch auf die von Bräutigam verfügte Abtrennung von 56 in der Anklageschrift genannten Einzelfällen von Tötungen an der Mauer, mit der der Vorsitzende Richter auch die Staatsanwaltschaft vor den Kopf stieß. Während diese jedoch im Interesse ihres höheren Ziels, eines schnellen Vorankommens im Verfahren, die angesichts ihrer vielmonatigen Fleißarbeit bittere Pille schluckte, sahen die Verteidiger darin einen »Kunstgriff«, den Prozess zu verkürzen und damit noch zu Lebzeiten ihres Mandanten zu beenden. Schließlich glaubten Wolff, Becker und Ziegler in der Behandlung der medizinischen Gutachten durch den Richter die eindeutige Absicht zu erkennen, aus ihnen nur das zu entnehmen, was seinem Ziel, der Prozesseröffnung entgegenkam. Das Übergehen von Expertenaussagen, nach denen der Tumor »mit hoher Wahrscheinlichkeit« bösartig sei, dass die Verhandlungsfähigkeit kaum länger als eine Stunde dauere und der Prozess den Verfall des Angeklagten beschleunigen werde, ignorierte Bräutigam. Stattdessen befand er am 4. November 1992, dass Honeckers Krebserkrankung »zum jetzigen Zeitpunkt kein Verfahrenshindernis« darstelle und von dem Prozess für ihn keine »konkrete Lebens- oder schwerwiegende Gesundheitsgefährdung« ausgehe. Er stützte sich dabei auf die Expertise eines Gutachters, der Honecker gar nicht persönlich untersucht, sondern nur die Berichte seiner Kollegen eingesehen hatte. Und als Beleg führte er weiter an, dass der Angeklagte den ein- bis zweistündigen Haftprüfungsterminen »mit konzentrierter Aufmerksamkeit« gefolgt sei, wie er ja auch in seiner Zelle regen Schriftverkehr unterhalte und zahlreiche Besucher empfange. Bräutigam stellte sich damit ganz auf die Seite der Staatsanwaltschaft, deren Erklärungen deutlich erkennen ließen, dass sie Honecker von Anfang an und auch während des gesamten Prozesses offensichtlich für einen Simulanten hielt. Und zum Schluss betätigte sich der Richter gar selbst als Therapeut. Könne es nicht sein, so fragte er, dass der Angeklagte durch den Prozess neuen Lebensmut schöpfen werde.
Vor eine ähnliche Entscheidung gestellt wie Bräutigam, hatten Hamburger Richter 1987 ein Verfahren eingestellt, denn dadurch werde der Angeschuldigte »in eine nicht mit medizinischen Maßnahmen abwendbare nahe Lebensgefahr gebracht . . . Diese Gefährdung seines Lebens und seiner Gesundheit wäre so hoch, dass dadurch sein Grundrecht aus Art.2 Abs.2 Grundgesetz verletzt werden würde«. Der Mann war ein früherer SS-Obersturmführer und litt an Prostatabeschwerden, Bluthochdruck und Depressionen. Er lebt heute in Frankfurt/Main. Dass Richter Bräutigam anders entschied, interpretierten Honeckers Verteidiger in ihrem Befangenheitsantrag, er sei »als Mensch aus dem Blickfeld längst verschwunden. Er wird nur noch als politischer Gegner behandelt«. Daraus ergebe sich die »Gefahr, dass nicht im Namen des Volkes, sondern nach dem und für das Volksempfinden entschieden« werden soll. Und angesichts dessen sei es »für Herrn Honecker auch kein Trost, dass der Vorsitzende Richter sich öffentlich mehrfach als aktiven Antikommunisten bezeichnet hat«.
Im Prozess selbst versuchte Bräutigam, diesen Eindruck zu vermeiden und gab zum Beispiel den Angeklagten – vor allem Erich Honecker – die Möglichkeit zu ausführlichen, auch politischen Stellungnahmen. Doch in seiner Verhandlungsführung zeigte sich deutlich, dass er sich nicht frei von äußeren Einflüssen fühlte, denn er lenkte das Verfahren außerordentlich nervös und sprunghaft, entschied wenig souverän und leistete sich von Anfang an ganz offensichtliche Fehler. Vor allem aber konnte er kaum den Eindruck verdrängen, ständig auf die Reaktionen der Staatsanwaltschaft zu schielen, ehe er seine Entscheidungen traf. Dabei unterlag er gewiss keiner unmittelbaren Beeinflussung, und Jutta Limbachs spontanes Versprechen nach Bräutigams Nominierung, sie werde ihn nun nicht einmal mehr anrufen, um jeden Verdacht einer Einflussnahme auszuschließen, ist von ihr bestimmt eingehalten worden – auch wenn ihre spätere Reaktion auf das Ausscheiden Honeckers aus dem Verfahren die Glaubwürdigkeit dieser Zusage nicht gerade gestärkt hat. Das Funktionieren das Richters ergab sich wohl auch so aus dem »diskreten Charme des Systems«, aus der rational schwer fassbaren Melange von gesellschaftlichem Klima mit seinen stabilen Großwetterlagen und aktuell bedingten Turbulenzen einerseits und dem karrieristischen Ehrgeiz des einzelnen andererseits. Der eitle Bräutigam war in einer solchen Situation besonders anfällig und zugleich gefährdet. Sein späteres Scheitern ergab sich daraus, dass er den Spagat zwischen diesen Polen nicht bewältigte.
Bis heute ist unklar, warum er vor Verhandlungsbeginn nicht prüfen ließ, ob der bekanntermaßen schwerkranke Willi Stoph überhaupt verhandlungsfähig sei. Als dieser dann am ersten Verhandlungstag nicht erschien, sah er seinen straffen Fahrplan durcheinanderkommen und erwog ernsthaft, ohne den Fehlenden weiterzuverhandeln, was die Strafprozessordnung keineswegs zulässt. Die Verteidigung, sichtlich überrascht, mahnte ihn, seine Entscheidung zu überdenken und sich mit den Beisitzern zu beraten. Erst als sich – zögernd – auch die Staatsanwaltschaft dieser Position anschloss, vertagte Bräutigam. So endete der Prozessauftakt praktisch schon nach einer guten Viertelstunde, und Anwalt Becker verteilte seine ersten Zensuren: Der Vorsitzende sei eben »immer eine Spur zu schnell und immer eine Spur zu unjuristisch«.
Der Befangenheitsantrag des zweiten Verhandlungstages wurde zwar von der 51. Strafkammer des Landgerichts abgewiesen, jedoch hatte der Beschluss schon damals Formulierungen enthalten, die ein sensibler Richter als vorsichtige Distanzierung hätte deuten müssen. Die Entscheidung Bräutigams, sich auf nur einen Gutachter zu stützen, sei «zumindest nicht unvertretbar«, hieß es da salomonisch. Dennoch orientierte sich der Vorsitzende auch weiterhin auf die Staatsanwaltschaft, die schon Stoph nicht aus dem Verfahren ausscheiden sehen wollte und erst durch die Bestätigung seiner Verhandlungsunfähigkeit durch einen Amtsarzt davon zu überzeugen war. Am dritten Verhandlungstag trat Oberstaatsanwalt Schaefgen entschieden gegen eine Einstellung des Verfahrens gegen Honecker ein und verlangte, weiter nach Plan zu verfahren, der eine neue Untersuchung des Hauptangeklagten erst Anfang Dezember vorsah. Nicolas Becker dazu: Hier werde »mit deutscher Gründlichkeit und deutscher Unerbittlichkeit« eine Mensch »zu Tode prozessiert«.
Am fünften Tag konnte dann Schaefgen endlich die verkürzte Anklageschrift verlesen. Das Verfahren schien nun mit den Erklärungen der Angeklagten und ihrer Vernehmung zur Person zur Sache zu kommen, aber der Vorsitzende gewann trotzdem keine Souveränität. Mehrfach musste er sich auf kleine Schnitzer in der Prozessführung aufmerksam machen lassen, immer wieder verlor er gegenüber der Verteidigung und den Anwälten der Nebenklage – vor allem Nicolas Becker und Hanns-Ekkehard Plöger – die Beherrschung, und am siebenten Verhandlungstag ließ er sich sogar zu einer Beschimpfung des Publikums hinreißen. Einen Lacher auf seine Kosten quittierte er mit der wütenden Drohung, nach sechs Verhandlungstagen merke er sich nun die Gesichter der Störer und werde sie aus dem Saal verweisen. Seine Unsicherheiten waren so offensichtlich, dass ihn sogar der Angeklagte Streletz eine Woche später in indirekter Weise ironisch rügte. Befragt, wie Erich Honecker die Sitzungen des Nationalen Verteidigungsrates geleitet habe, sagte er: »Er hat nie jemanden unterbrochen oder ihm das Wort entzogen. Und er war auch nicht aufgeregt und sprach nie mit erhobener Stimme.«
Mitte Dezember trafen schließlich die Gutachten der Mediziner nach der letzten Untersuchung Honeckers ein. Sie diagnostizierten ein weiteres Wachstum des Lebertumors und sagten schon für die nahe Zukunft voraus, »dass Stauungserscheinungen im Gallensystem und allen Gefäßsystemen zu lebensbedrohlichen Komplikationen führen«. Der psychische Befund sei bereits jetzt geprägt »durch Absinken des energetischen Potentials, Initiativarmut, Erschöpfung und Mattigkeit sowie zunehmende reaktiv-organisch bedingte Depression«. Honecker – so prognostizierten sie – werden nur noch drei bis sechs Monate leben. Im Hinblick auf eine bis ins Frühjahr 1993 reichende Hauptverhandlung werde »man wohl sagen müssen, dass hier die Erkrankung von Herrn Honecker Grenzen setzt, die dieses Ziel zu erreichen nicht erlauben«. Für die Verteidiger war dies eine Bestätigung ihrer Position; möglicherweise neigte angesichts solch eindeutiger Aussagen auch Hansgeorg Bräutigam nun einer Einstellung des Prozesses zu. Denn am 17. Dezember verkündete er im Fernsehen, dass für ihn die medizinischen Gutachten »außer Zweifel« stünden, und erstmals seit langem traf er wieder eine souveräne Entscheidung, als er am nächsten Tag die Erörterung der ärztlichen Stellungnahmen unter Ausschluss der Öffentlichkeit wie der Angeklagten beschoss. Die Staatsanwaltschaft, von vornherein mit einer ablehnenden Stellungnahme zu den Verteidigeranträgen ausgerüstet, mag das Schwanken des Richters gespürt haben. Sie jedenfalls trug ihre vorbereitete Erklärung an diesem Tag nicht mehr vor, sondern erbat sich Bedenkzeit, um Zeit zu gewinnen. Denn der von Nebenkläger-Anwalt Plöger herbeizitierte Spezialist für Sterbehilfe, Julius Hackethal, hatte in der Anhörung alle Register seines demagogischen Talents gezogen und die von Natur aus vorsichtigen und daher oft mit eingeschränkter Verbindlichkeit redenden Ärzte in Widersprüche verwickelt. Hinterher meinte er stolz: »Die Vorhersage der Gutachter, dass Herr Honecker in Kürze verhandlungsunfähig ist oder gar sterben wird, ist von mir stark erschüttert worden. Der Junge sieht doch gut aus.«
Diese Einschätzung Hackethals schien den Anklägern wohl als geeignetes zusätzliches Argument für die Untermauerung ihrer Position, und sie formulierten ihre Ablehnung einer Einstellung des Verfahrens gegen Honecker am 21. Dezember 1992 noch kompromissloser als zunächst beabsichtigt. Die Gutachter hätten noch keine sichere Prognose über das Wachstum des Tumors liefern können, sagte Oberstaatsanwalt Bernhard Jahntz, und er zog sich im weiteren auf eigene Beobachtungen zurück: Der Angeklagte sei im Gerichtssaal »ersichtlich wach und orientiert« und zeige »keine wesentlichen Ermüdungserscheinungen«. Plöger sprang der Anklagebehörde mit einem »Obergutachten« Hackethals bei, und das Gericht unterwarf sich wieder einmal diesen massiven Vorhalten: »Die Prognose bezüglich der Schwere der Erkrankung ist noch zu ungewiss, als dass eine Einstellung des Verfahrens zwingend geboten wäre.«
Doch die zermürbenden achtstündigen Debatten vor diesem Beschluss haben den Vorsitzenden Richter offensichtlich so stark verunsichert, dass er am 21. Dezember auch jenen schweren Fehler machte, der schließlich zu seiner Entfernung aus dem Verfahren führte. In einer Verhandlungspause ging er auf die Verteidiger Honeckers zu und überreichte ihnen einen alten Stadtplan der »Hauptstadt der DDR, Berlin« mit der Bitte, der Hauptangeklagte möchte für einen der Schöffen sein Autogramm in diesen schreiben. Von Hanns-Ekkehard Plöger später befragt, was er da mit den Verteidigern gemauschelt habe, sprach er von einer »Postsache«. Und salopp: »Befriedigt Sie das? Befriedigt Sie das nicht?« Die Verteidiger schwiegen, hofften sie doch zu diesem Zeitpunkt noch, in Kürze sei der Prozess für ihren Mandanten beendet, und da spiele diese Notlüge auch keine Rolle mehr. Als aber Bräutigam dann den gegenteiligen Gerchtsbeschluss verkündet hatte, stellten sie einen Antrag auf Befangenheit. Bei einem Richter, der sich schon bei einem so nebensächlichen Vorgang derart verhalte, sei zu befürchten, dass er »immer wieder in Notlagen kommt, die ihn stets von neuem dazu zwingen . . ., zu Un- und Halbwahrheiten Zuflucht zu nehmen«.
Einer der Anwälte Honeckers, Friedrich Wolff, hatte bereits vor Prozessbeginn darauf verwiesen, dass auch der Richter vielfältigen Einflüssen unterliegt: »Wer weiß denn wirklich, was in den Kreisen, in denen der Richter verkehrt und aus denen er auch sein Weltbild und seine Meinung schöpft, gedacht wird.« Berücksichtigt man Bräutigams Vorprägung und den öffentlichen Druck, der – wenn auch wohl kaum direkt – auf ihn ausgeübt wurde, dann kann man ermessen, wie schwer es ihm gefallen sein dürfte, die Funktion des Richters von der des Rächers zu unterscheiden. Die selbstbewusste Akzeptanz der Charakterisierung als »Richter Honeckers« war in diesem Sinne schon verräterisch, sein Agieren im Gerichtssaal konnte einen solchen Eindruck nur verstärken. Das musste gerade in diesem Prozess tödlich sein – und war es denn auch, wobei der unmittelbare Anlass seines Sturzes wie eine Lappalie anmutet.
Fast schien es daher in der ersten Verhandlung des neuen Jahres zunächst so, als werde er auch diesen Befangenheitsantrag – wie viele zuvor – überstehen. Die Staatsanwaltschaft rügte zwar die Autogramm-Geschichte, fand sie dann aber doch »vom Gegenstand des Verfahrens sehr weit entfernt«, als dass sie die Auswechselung des Richters rechtfertige. Plöger, der sich dem Befangenheitsgesuch der Verteidigung angeschlossen hatte, schien nicht abgeneigt, es zurückzuziehen, denn auch er wusste trotz aller Theatralik natürlich, dass er – was Honecker betraf – mit Bräutigam mehr Übereinstimmung hatte als Differenzen. Dennoch wollte er erst mit seiner Mandantin telefonieren. Diese war nicht erreichbar, und als sein Kollege Boergen schließlich gegenüber Plöger ankündigte: »Wenn du den Antrag zurücknimmst, werde ich ihn stellen.«, ließ auch er das Schicksal seinen Lauf nehmen. Minutenlang redeten Verteidiger, Ankläger und Nebenklage-Vertreter über den Vorsitzenden Richter, wogen ab, inwieweit bei ihm Fehlverhalten vorliegt, und dieser saß hilflos dabei, musste über sich ergeben lassen, dass statt der Taten Honeckers und der anderen nun sein Versagen zum Gegenstand gerichtlicher Erörterung wurde. In diesen Minuten entschied sich wohl sein Schicksal, denn von nun an war seine Autorität derart erschüttert, dass er das ihn ohnehin schon überfordernde Verfahren erst recht nicht mehr unangefochten würde weiterführen können. »Letzter Auftritt Bräutigams?« fragte daraufhin die Berliner Zeitung und hatte die richtige Witterung. Einen Tag später verkündete die 27. Große Strafkammer, verstärkt durch einen Richter der 51. Kammer, ihren Beschluss zu Bräutigam und dem autogrammheischenden Schöffen: »In der Strafsache gegen Honecker u. a. sind die Ablehnungsgesuche des Angeklagten Honecker gegen den Vorsitzenden Richter am Landgericht, Bräutigam, vom 23. Dezember 1992 und der Nebenkläger Bittner, Reis und Gross gegen den Vorsitzenden Richter am Landgericht, Bräutigam, und den Ergänzungsschöffen Kohlhus vom 23. Dezember 1992 bzw. 4. Januar 1993 begründet.« Bräutigam, der vor Prozessbeginn die Gewährung von Autogrammen durch Honecker als Indiz für dessen Verhandlungsfähigkeit gedeutet hatte, kam nun durch ein solches Autogramm zu Fall. Die Geschichte hält wahrlich mitunter ironische Einfälle bereit.