Eigentlich sollte morgen vom Bundesrat ein Verfassungsrichter gewählt werden, für den die SPD das Vorschlagsrecht hat. Doch ihr Kandidat, der Staatsrechtler Horst Dreier, stößt außerhalb der Sozialdemokratie auf nahezu einhelligen Widerstand, auch beim Koalitionspartner CDU/CSU. Daher wird es zu der geplanten Wahl wohl nicht so schnell kommen.
Die Gründe für das Unbehagen über Horst Dreier konzentrieren sich vor allem auf zwei Punkte: Zum einen befürchtet die Union, er vertrete in der Frage der Stammzellforschung und vor allem der Nutzung embryonaler Stammzellen zu liberale Auffassungen, was für eine christliche Partei nicht akzeptabel sei. Zum anderen aber – und damit stößt Dreier weit über die Union hinaus auf Ablehnung – lassen Formulierungen aus seiner Feder den Schluss zu, er sei letztlich ein Befürworter von Folter. In einem Grundgesetzkommentar argumentierte er in Bezug auf die Menschenwürde, »der Rechtsgedanke der rechtfertigenden Pflichtenkollision (dürfe) nicht von vornherein auszuschließen sein«. Was im Klartext heißt – und von ihm mit einem Verweis auf den Artikel »Menschenwürde und Folterverbot« seines Schülers Fabian Wittreck auch ausdrücklich bekräftigt wurde: Dass unter bestimmten Umständen gerechtfertigt sein könnte, sich zwischen dem Tod eines Opfers und der Folter gegen den Täter zu entscheiden, also möglicherweise auch für Letzteres.
Inwieweit sich die Union, in der Innenminister Wolfgang Schäuble schon ähnliche Gedanken ausgesprochen hat, tatsächlich an einer solchen Position stößt, sei dahingestellt; unzweifelhaft ist aber, dass ein Jurist, der auch nur ganz allgemein in eine solche Richtung denkt, ungeachtet aller sonstigen Verdienste und Fähigkeiten für das Bundesverfassungsgericht nicht in Frage kommt. Denn wohin jede Relativierung des Folterverbotes, die auch hierzulande in vollem Gange ist, führt, ist an der Entwicklung in den USA zu besichtigen, wo inzwischen schon ziemlich willkürlich darüber entscheiden wird, was man zur Folter zählen sollte und was nicht. »Standard Operating Procedures« (Standardverfahren), wie sie in einem gerade auf der Berlinale erstmals gezeigten amerikanischen Dokumentarfilm gleichen Titels genannt werden, erfahren eine ständige Ausweitung; zu ihnen gehören in diesem Film über das Bagdader Gefängnis Abu Ghraib bereits Schlafentzug, Nacktheit beim Verhör, das Anketten in schmerzhaften Stellungen oder die Verkabelung mit Elektrodrähten zum Schein. Inzwischen gilt auch das »Waterboarding«, das simulierte Ertrinken, offensichtlich nicht mehr als Folter.
Die amerikanischen GIs im Film rechtfertigen ihr Verhalten immer wieder mit den Angriffen irakischer Widerstandskämpfer auf das Foltergefängnis, mit der Notwendigkeit, das Leben ihrer in das Land eingefallenen Kameraden schützen zu müssen. Solche Rechtfertigungen wurden ihnen von ihren Vorgesetzten vorgegeben – und auch der Befehl, die Verdächtigen für das eigentliche Verhör vorzubereiten, »weich zu kochen«, auf dass sie »kooperieren«. All das steckt auch in Dreiers juristisch verbrämter Formulierung. Er öffnet die Büchse der Pandora, die letztlich in der Legalisierung von Folter zu immer mehr Zwecken endet. Daher ist der Protest gegen seine Berufung so stark und parteiübergreifend – und auch so dringlich.
Inwieweit solche ernsthaften Bedenken jedoch am Ende eine Rolle spielen werden, ist ungewiss. Denn die Wahl eines Verfassungsrichters Dreier ist zu einer Prestigefrage verkommen. Die SPD lehnt es stur ab, über die Eignung des Juristen auch nur zu diskutieren und besteht auf einem Vollzug der Wahl, die damit aber keine mehr ist ist, sondern nur noch die Akklamation über einen zuvor im Hinterzimmer ausgekungelten Kandidaten. So allerdings wurden Verfassungsrichter in der Bundesrepublik seit jeher bestimmt – sehr häufig unter stark kritischer Kommentierung. Die Parteien setzen sich eben gern über demokratische Regeln hinweg, wenn es um ihre Machtpositionen geht – sonst jedoch in der Regel unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Vielleicht bedurfte es des gegenwärtig äußerst desolaten Zustandes der großen Koalition, um den Vorgang publik zu machen und so in aller Deutlichkeit zu zeigen: Um die Sache, um einen als Verfassungshüter bestens qualifizierten Kandidaten für das hohe Amt geht es der Politik zu allerletzt.