Eine wesentliche Rolle bei den Ereignissen, die vor zwanzig Jahren dem Zusammenbruch der DDR vorausgingen, spielte die evangelische Kirche. Sie war in der DDR die einzige relevante Kraft, die eigene Strukturen hatte und ohne staatliche Bevormundung flächendeckend im Lande wirken konnte. Daher war die DDR-Führung stets bestrebt, diesen exklusiven, von ihr nicht dominierten Bereich dennoch unter Kontrolle zu nehmen, wozu sie eine offizielle Politik gegenüber der Kirche betrieb und zugleich inoffizielle Mittel gegen sie einsetzte.
Zu den offiziellen Maßnahmen gehörten gelegentliche Gespräche des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, der sich im wesentlichen die Grundsatzentscheidungen zu Kirchenfragen vorbehielt, mit der Kirchenleitung. Das wohl wichtigste dieser Gespräche fand am 6. März 1978 statt, heute vor dreißig Jahren. Entscheidender aber für die spätere Entwicklung waren Ereignisse, die – vielleicht nicht zufällig – zehn Jahre später, um den 6. März 1988 vor allem in Berlin stattfanden. Sie wurden damals als Aufkündigung des »Burgfriedens« zwischen Staat und Kirche empfunden und waren faktisch der Auftakt für ein immer aktiveres Eingreifen der evangelischen Kirche in die gesellschaftlichen Prozesse – bis sie am Ende dabei eine der führenden Rollen spielte.
Gut zwei Jahre später, im Sommer 1990, entstand nachfolgender Text, der die damaligen Ereignisse rekapituliert und in einen größeren Zusammenhang zu stellen versucht. Zwar ist heute das Geschehen vor 20 Jahren gründlicher erforscht als damals, nur Monate danach; dennoch kann diese bislang unveröffentlichte Darstellung neben ihrem dokumentarischen Teil einiges zur seinerzeitigen Atmosphäre am Ende einer Epoche aussagen.
Pastoren am Pranger
Am 6. März 1988 jährte sich zu zehnten Male der Tag, an dem Staat und Kirche eine Art »Burgfrieden« geschlossen hatten. Damals war es zu einer Begegnung des Staatsratsvorsitzenden Honecker mit dem Vorstand der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR unter Leitung seines Vorsitzenden Bischof D. Dr. Albrecht Schönherr gekommen. Beide Seiten legten ihre Positionen dar und fanden zu einem für jene Zeit erstaunlichen Stück Gemeinsamkeit. In der zwischen beiden Seiten abgestimmten Erklärung, die tags darauf alle DDR-Zeitungen auf Seite 1 veröffentlichten, hieß es, dass die sozialistische Gesellschaft jedem Bürger, unabhängig von Alter und Geschlecht, Weltanschauung und religiösem Bekenntnis, eine klare Perspektive und die Möglichkeit biete, »an der Zukunft mitzubauen, seine Fähigkeiten und Talente, seine Persönlichkeit voll zu entfalten«. Wie Honecker ausdrücklich betonte, »stellen die Gleichberechtigung und Gleichachtung aller Bürger, ihre uneingeschränkte Einbeziehung in die Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft eine Norm dar, welche die zwischenmenschlichen Beziehungen prägt und für alle verbindlich ist«. Und mit gleichem Nachdruck erklärte er, »dass die Freiheit der Religionsausübung bei klarer Trennung von Staat und Kirche verfassungsmäßig garantiert und in der Praxis gesichert ist«.
Klaus Gysi, von 1979 bis 1988 Staatssekretär für Kirchenfragen und insofern mit der Realisierung der SED-Politik gegenüber den Kirchen beauftragt gewesen, sah in diesem spektakulären Schritt jedoch nicht den Ausdruck einer kirchenpolitischen Konzeption, sondern ein pragmatisches Vorgehen. »Die Partei«, so sagte er in einem Gespräch im Jahre 1990, »hatte nie eine solche Konzeption für ihren Umgang mit der Kirche, die es ermöglicht hätte, zu einer wirklichen, echten, den sozialistischen Idealen gemäßen Lösung der Probleme mit der Kirche zu kommen«. Zwar seien von der Mehrzahl der Mitglieder der Parteiführung – durchaus nicht von allen – Kirche und Religion als eine Normalität im Sozialismus betrachtet worden, mit der man sich abfinden müsse. Aber die weitergehende Schlussfolgerung, ihr auch die entsprechenden Wirkungsmöglichkeiten zu geben, wäre nicht gezogen worden. »Alles sollte immer auf den jeweiligen Status quo begrenzt werden«, so Gysi – eine Position, die die Kirche mit Recht stets zu unterlaufen versuchte.
Dennoch wertete Klaus Gysi den 6. März 1978 als ein wichtiges Ereignis, das große Fortschritte im Umgang mit der Kirche ermöglichte: »Im Laufe der Zeit hatte sich ein Verhältnis gegenseitiger Akzeptanz herausgebildet, aus dem dann schon immer mehr Vertrauen wuchs. Allerdings«, so schränkte er ein, »konnte die SED in dieser Frage kaum als Einheit betrachtet werden. Es gab Leute, vor allem auf der mittleren Ebene – ich denke an einige Bezirkssekretäre, die diese Politik überhaupt nicht begriffen.«
Im März des Jahres 1988 war dies schon eine Beschönigung der Situation, denn die Ereignisse um die Umweltbibliothek 1987 und nach der Liebknecht/Luxemburg-Demonstration im Januar darauf hatten gezeigt, dass Vertrauen – wenn überhaupt vorhanden – nur ein sehr zerbrechliches Pflänzchen war und sich vor allem das Unverständnis über die Aktivitäten der Kirche schon lange nicht mehr auf die Bezirksebene von Partei und Administration beschränkte. Schönherr selbst, der Gesprächspartner Honeckers bereits zehn Jahre zuvor, sah sich jedenfalls veranlasst, auf »Besorgnisse über die Entwicklungen der letzten Zeit« hinzuweisen und seine Position klarzumachen: »Das Prinzip der freien Religionsausübung in der Verfassung kann für den Christen ja unmöglich nur den Kult betreffen.« Und dann zitierte er (in einem Gedenkartikel in der damaligen Zeitung der DDR-CDU, »Neue Zeit«, vom 5.3.1988) seinen Nachfolger Bischof Leich, der erst zwei Tage zuvor von Honecker empfangen worden war – nach außen hin anscheinend zur Bekräftigung des Geistes vom 6.3.1978. Die Kirche, so Leich, wolle bei der Bewältigung der Probleme helfen »als ein an den Willen Gottes gebundener, konstruktiv mitarbeitender Partner, der das Wohl des Gemeinwesens suche und die Menschlichkeit des Sozialismus als einer gerechteren Form des Miteinanders bejaht«.
Dieses Zitat war zugleich eine der wenigen Aussagen, die die DDR-Presse aus der Erklärung Leichs bei seinem Treffen mit Honecker publizierte. Seine ausführlichen Darlegungen zu den Belastungen, die damals entstanden waren, fielen gänzlich unter den Tisch, so dass sich die Leitung des Kirchenbundes ihrerseits zu eigener Veröffentlichung entschloss. Leich hatte vor Honecker unter anderem ausgeführt: »Die Fragen, die unsere evangelischen Kirchen – diejenigen von Berlin-Brandenburg in besonderer Weise – in den letzten Monaten bewegt haben, sind Fragen, die aus dem gesellschaftspolitischen Bereich kommen. Sie haben keinen Ursprung im Dienst unserer Kirchen. Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen mussten wir stellvertretend für Staat und Gesellschaft wahrnehmen. Wir haben uns diese Rolle nicht ausgesucht. Die eigentlichen Adressaten haben keine Bereitschaft zum Dialog signalisiert. Uns begegnen Menschen, die sich wundgerieben haben und Veränderungen innerhalb der sozialistischen Gesellschaft suchen. Uns begegnen Staatsbürger, die in der Ausbürgerung für das eigene Leben den einzigen Ausweg sehen .. Zum anderen hat die Außenpolitik unseres Staates den Leitgedanken von der Menschheit als Überlebensgemeinschaft unterstrichen. Sie hat wesentlich zur Bewegung in der Ost-West-Problematik beigetragen und zu einer neuen Form im Umgang der beiden deutschen Staaten miteinander geführt. Dies wird als Erfolg dankbar begrüßt. Mit diesem Prozess hat die Bewegung in der Innenpolitik nicht Schritt gehalten. Die Bürger erfahren das in der elementaren Frage, wo sich der Umgang mit ihnen innerhalb des Staates gestaltet … Im direkten Umgang mit Dienststellen erfährt der Bürger, wie die politische Macht verwaltet wird. Häufig wird voreilig administriert, ohne den Versuch der Überzeugung zu unternehmen und dabei den Bürger auch offen anzuhören. Es beeinträchtigt das Klima des Vertrauens zwischen dem Staat und den Bürgern, wenn sie statt der erforderlichen Argumente lediglich die distanzierte Entscheidung der Macht erfahren und ihre Kritik sogleich als Ausdruck der Staatsfeindlichkeit gewertet wird. Besorgt sehe ich auch, wie die alltäglich erfahrene Wirklichkeit und die durch die Medien vermittelte Einschätzung auseinanderklaffen. Die Bürger erleben und kennen die Schwierigkeiten, die im Alltag unserer Gesellschaft auftreten. In den Medien werden sie nur verhalten erwähnt. Das ruft den Eindruck hervor, als würden die tatsächlichen Aufgaben von den Verantwortlichen nicht oder nur unzureichend erkannt. Dabei könnte das Benennen der Schwierigkeiten das Mitdenken und Mittragen der Bürger einfordern. Die Bereitschaft dazu ist bei den Menschen durchaus vorhanden.«
Und dann brachte er nachdrücklich die Wünsche der Kirche vor, die sie als Wünsche ihrer Gemeindeglieder und damit weiter Teile der Bevölkerung generell verstanden hatte: »Eine öffentlich festgestellte Begründungspflicht in Antragsverfahren jeder Art, die das persönliche Leben des Bürgers betreffen, wäre ein Schritt nach vorn. Die Offenlegung des Verfahrens und der Kriterien bei Besuchsreisen wäre ein Schritt nach vorn. Der frühzeitige Versuch der Reintegration von Antragstellern auf Ausbürgerung im Sinne des Dialogs und bei dessen Scheitern die Angabe einer Mindestwartezeit bis zur Ausbürgerung würden Enttäuschungserlebnisse und deren Weitergabe einschränken. Die Einführung eines zivilen Wehrersatzdienstes würde die Frage der Wehrdienstverweigerung erledigen und unter Jugendlichen, auch wenn sie keinen Gebrauch von diesem Ersatzdienst machen, einen starken Impuls für die sozialistische Gesellschaft auslösen. Eine deutliche Aussage über die Chancengleichheit aller Bürger für den Bereich der Volks-, Fach- und Hochschulbildung brächte Öffnung nach vorn. Dialogbereitschaft und der Wille zur Zusammenarbeit mit Bürgern, die von der Sorge um die Erhaltung der Lebensbedingungen der Natur umgetrieben werden, wäre eine Möglichkeit, mit vielen zusammen auf Zukunftsbewahrung hinzuwirken. Das Angebot einiger als seriös geltender Zeitungen westlicher Herkunft in unseren Zeitungsverkaufsstellen würde zu einer differenzierten Beurteilung der Medienlandschaft beitragen.«
Honecker reagierte brüsk auf diesen Forderungskatalog: »Der sozialistische Staat betreibe keine Einmischung in die Angelegenheiten der Kirche und ihres Dienstes und dulde keine Diskriminierung von Bürgern christlichen Glaubens, die Kirche beanspruche kein Mandat zur Lösung staatlicher Aufgaben. Ein anderer Weg würde die Geschäfte jener besorgen, denen unser gemeinsamer Weg nicht paßt, die an die Stelle konstruktiver Beziehungen von Staat und Kirche die Konfrontation setzen wollen«, zitierte ihn der Einheitsbericht der Presse. Doch wie sich schnell herausstellte, war es mit der verbalen Klarstellung dessen, was die SED von der evangelischen Kirche erwartete, nicht getan. Leich hatte »Handlungen mit einer Signalwirkung für die Zukunftserwartung« der Menschen erbeten. Er sollte sie bekommen, wenn auch in gänzlich anderer Weise, als die Kirche sie wünschte, Die Partei- und Staatsführung zeigte zu jenem Zeitpunkt bereits, wie Klaus Gysi später einschätzte, »alarmierende Zeichen der Stagnation und fand sich nicht mehr in der Lage, die Fragen des Lebens zu beantworten«. Sie lehnte es auch ab, die von Leich angemahnte Fortsetzung von Informationsgesprächen staatlicher Vertreter mit Kirchenleuten über unterschiedliche gesellschaftliche Probleme zuzusagen, weil sie eben mit den dort angesprochenen Fragestellungen nicht mehr fertig wurde. Sie entschloss sich zum Einsatz ihrer Machtmittel, um die evangelische Kirche in die Schranken zu weisen; sie setzte ein Signal, mit der sie der Kirche in der Einschätzung des damaligen Konsistorialpräsidenten der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, Dr. Manfred Stolpe, sagen wollte: »Jetzt ist Schluss!«
Die Sophienkirche im Berliner Stadtbezirk Mitte war seit Anfang des Jahres 1988 ein bevorzugter Treffpunkt ausreisewilliger DDR-Bürger. Sie, im Amtsdeutsch »Übersiedlungsersuchende« genannt, versammelten sich hier, um bei den sonntäglichen Gottesdiensten Informationen auszutauschen und ihre Schritte abzustimmen. Die Kirche, besonders Gemeindepfarrer Martin-Michael Passauer, sahen ihre Aufgabe in der seelsorgerischen Beratung der Ausreisewilligen und gaben ihnen Möglichkeiten zum Gespräch auch außerhalb des Gottesdienstes. Diese Aktivitäten der Kirche waren dem Staat ein Dorn im Auge, befürchtete er doch die allmähliche Schaffung organisatorischer Strukturen.
So nutzte er möglicherweise zutreffende, vielleicht aber auch fingierte Informationen über angebliche Absichten der auf Ausreise drängenden DDR-Bürger, die Sophienkirche bei einem der bevorstehenden Gottesdienste zu besetzen. Am 8., am 9. und dann wieder am 26. Februar wurden die Pfarrer der Sophienkirche durch Vertreter der Stadtbezirke Friedrichshain und Mitte auf solche Pläne hingewiesen und damit die Erwartung verknüpft, dass sie die Betreuung der Ausreisewilligen einstellen. Der Staat verwies auf ähnliche Ereignisse in Erfurt, Apolda und dem Berliner Dom und machte klar, dass er Wiederholungsfälle nicht dulden wolle. Als die Kirche nichts tat, wurden – wie es in einem Bericht der Berliner Bezirksverwaltung der Staatssicherheit heißt – »am 28. 02., 06. 03. und 13. 03. 1988 Sicherheitseinsätze durch die Bezirksverwaltung Berlin in engem Zusammen wirken mit der VP Berlin durchgeführt«. Dabei war der 28. Februar ein Vorspiel; die »Umweltblätter« schrieben über die damalige Aktion: »Polizei und Mitarbeiter der Staatssicherheit umlagerten das Gelände der Sophiengemeinde. Polizisten kontrollierten Besucher und begaben sich dann sogar auf das Gelände der Gemeinde.«
Dagegen legte Pfarrer Passauer Beschwerde ein, und in einem Gespräch mit dem Sektorenleiter für Kirchenfragen beim Magistrat, Dr. Mußler, wurde ihm zugesagt, dass sich Polizei und Sicherheitskräfte künftig zurückhalten würden. Es trat jedoch genau das Gegenteil ein. Am 6. März war das Sicherungsaufgebot gegenüber dem Vorsonntag beträchtlich verstärkt. Die «Umweltblätter« gaben eine detaillierte Darstellung der Ereignisse:
»Schon um 8 Uhr hatten sich Staatssicherheitsbeamte und Polizisten um die Sophienkirche herum postiert, kontrollierten Passanten, befragten diese nach ihrem Ziel und hielten Autos an. Eine junge Mutter, die keinen Perrsonalausweis bei sich hatte, wurde gleich abtransportiert. Ihr 7-jähriges Kind blieb allein auf der Straße zurück und wurde dann von Leuten aus der Umgebung aufgenommen. Um 9,30 Uhr sah sich Pfarrer Passauer einer erregten Menge gegenüber. Es waren Gottesdienstbesucher kontrolliert und nach dem Grund ihres Kommens gefragt worden. Der Zugang wurde einigen verwehrt und die Leute unter Androhung von Haftstrafen und strafrechtlichen Maßnahmen eingeschüchtert. Passauer verlangte den Einsatzleiter zu sprechen, was ihm aber unter demonstrativer Ablehnung verwehrt wurde. Um 9,50 Uhr rief Passauer bei Dr. Mußler an und bat um eine Beendigung der Aktionen. Es passierte nichts.
Der Abendmahlsgottesdienst verlief in Ruhe und Konzentration. Themen waren das Gespräch Honecker – Leich und die Nachfolge Jesu Christi. Alles verlief ohne Störung. Vor dem Abendmahl wurde noch einmal die Möglichkeit zum Verlassen der Kirche gegeben, von der auch etwa 100 Menschen Gebrauch machten. Sie kehrten aber nach massiven Kontrollen aus Angst in die Kirche zurück. Auf dem Heimweg nach Abendmahl und Nachgespräch kam es zu einer Reihe von Kontrollen und Behinderungen durch VP und Staatssicherheit. Die Leute wurden in Hausflure gedrängt, bis nach Hause verfolgt, sogenannte Kontrollkarten mit Personalien, Wohnort und Beruf wurden ausgefüllt. Auf Passauers Protest erfolgte nichts. Dem Kontrollierten wurde oft weder Name noch Dienstgrad des Kontrollierenden zur Kenntnis gegeben. Die Bitte darum wurde mit Worten abgeschlagen wie: »Das geht Euch einen Scheißdreck an!« oder »Was bildet Ihr Arschlöcher Euch überhaupt ein?« oder »Mit Euch Scheißern werden wir schon fertig!« Einige Gottesdienstbesucher baten in fremden Wohnungen um Aufnahme. Ein zweiter Anruf bei Dr. Mußler brachte keine Veränderung der Situation. Von mehreren Zeugen ist beobachtet worden, wie ein Kirchenältester der Sophiengemeinde in seinem Hausflur in der Großen Hamburger Straße um Hilfe schrie und wenige Minuten später blutend von Polizisten in ein Auto gebracht und abtransportiert wurde. Auch ein Junge aus Quedlinburg wurde auf dem LKW von der Polizei geschlagen und dann weggebracht. Als der von der Gemeinde zu Hilfe gerufene Bischof Forck aus der Marienkirche eintraf, war die Polizeiaktion fast beendet.« Soweit die »Umweltblätter«.
Wie sich später herausstellte, gab es offensichtlich keine konkreten Erkenntnisse der Sicherheitskräfte über eine Kirchenbesetzung. Denn im MfS-Bericht vom 7. März über diese Aktion fanden solche Absichten keinerlei Erwähnung. Der Gottesdienst sei mit ca. 500 Besuchern ohne Vorkommnisse verlaufen. Über die Polizeiaktion hieß es: »Während des Sicherungseinsatzes wurden in der Tiefe des Handlungsraumes 2 Personen zugeführt und nach dem Gottesdienst 181 Personen identifiziert, davon 149 aus Berlin und 32 aus anderen Bezirken der DDR. Eine erste Prüfung ergab, dass von den 149 Berlinern ca. 70 Personen Übersiedlungsersuchende sind.«
Die evangelische Kirche betrachtete diese Aktion – ungeachtet ihrer geduldigen Bemühungen um Klärung – als faktische Aufkündigung des »Burgfriedens« vom 6. März 1978. Dr. Stolpe gab der Synode vom 8. bis 12. April einen kritischen Bericht, in dem es hieß: »Es kam zu einer umfassenden Personenkontrolle vor und nach dem Gottesdienst der Sophienkirche. Es gab Zuführungen von Personen, die sich nicht ausweisen konnten, und es gab bei der Personenkontrolle einen Verletzten. Vor allem aber gab es eine große Beunruhigung der Gemeinden und darüber hinaus vieler Gemeindeglieder in unserer Kirche.« In der Wendezeit sagte er offen, dass der Staat damals seine Macht demonstrieren wollte und bewusst den zehnten Jahrestag des Gesprächs Honecker – Schönherr für eine solch spektakuläre Aktion wählte. Für ihn war sie »die Aufkündigung eines Bemühens um friedliehen Ausgleich, um friedliche Veränderung«.
Stolpe vermutete, dass es im Februar 1988 einen Politbürobeschluss gab, mit der evangelischen Kirche die Gespräche abzubrechen bzw. auf das Nötigste zu begrenzen. Die Ereignisse um die Umweltbibliothek und nach der Liebknecht/Luxemburg-Demonstration hätten die SED zu einer solchen Haltung bewogen. Diese Einschätzung Stolpes war gewiss auch durch ein Ereignis beeinflusst, das schon vor dem Treffen Honeckers mit Leich stattgefunden hatte – die »Vorladung« Leichs und anderer führender Kirchenvertreter zu Werner Jarowinsky – damals im Politbüro auch für Kirchenfragen zuständig, soweit Honecker das nicht selbst wahrnahm – zur Entgegennahme eines rüden Statements. Der ZK-Sekretär für Handel und Versorgung (!) erklärte den Kirchenleuten bereits im Februar, was Partei und Staat von ihnen erwarten; daraufhin entließ er sie, ohne ihnen die Möglichkeit einerErwiderung zu geben.
Klaus Gysi und andere führende Parteivertreter bestritten das Vorliegen eines förmlichen Beschlusses, schlossen aber Einzelentscheidungen, die in eine solche Richtung gingen, nicht aus. Gysi hob hervor, dass das Verhalten von SED und DDR-Regierung zumeist von aktuellen Ereignissen geprägt war und keiner festgelegten Linie folgte. Nach vermeintlich pragmatischen Gesichtspunkten wurde entschieden, wie man auf kirchliche Aktivitäten reagiert. Dies bestätigte auch der im Ministerium für Staatssicherheit für die Bearbeitung der Kirche zuständige Oberst Jochen Wiegand: »Es gab keine Strategie der Partei. Peitsche oder Zuckerbrot wurden eingesetzt, wie es sich aus der Situation ergab. Die Grundlinie lief bis zuletzt auf Ausgleich mit der Kirche hinaus, aber konkrete Anlässe führten immer wieder zu Maßregelungen.«
Insofern ist denkbar, daß Honecker aus Verärgerung über das Auftreten Leichs am 3. März dem Drängen der Hardliner im Politbüro auf eine härtere Gangart nachgab. Ein Beleg dafür findet sich in den Unterlagen des MfS. Dessen Bezirksverwaltung Berlin erarbeitete im März 1988 eine umfangreiche Liste über alle bis dahin bekannten Veranstaltungen und Aktivitäten, die die evangelische Kirche und Bürgerrechtsgruppen im Jahre 1988 planten. Dieses Material sollte der Orientierung des damaligen SED-Bezirkssekretärs Schabowski, seines Stellvertreters Müller und weiterer für Sicherheitsfragen zuständiger Parteifunktionäre dienen.
Für die Gruppen der Bürgerrechtler erwiesen sich die Schläge der Staatsmacht gegen die Kirche als günstig, denn diese zwangen die Pastoren und Gemeindekirchenräte an ihre Seite. Die von Bischof Forck schon nach den Ereignissen um die Umweltbibliothek registrierte Zwangsläufigkeit des Aufeinanderzugehens von Kirchen-Establishment und oppositionellen Gruppen setzte sich, fort, obwohl im Frühjahr 1988 gerade die immer spektakulärer werdenden Aktionen der Opposition für nicht wenige Kirchenleute Fragen auswarfen. So war es kein Wunder, dass sich die 9. Synode Berlin-Brandenburg der evangelischen Kirche im April sehr intensiv mit dem Verhältnis zu den unter ihrem Dach agierenden Gruppen beschäftigte. Bischof Forck würdigte in seinem Bericht die Gruppenarbeit und erinnerte die Synodalen daran, dass die jungen Leute nicht selten wichtige Fragen aufwarfen, die durchaus auch Anliegen der Kirche sein sollten. Aber er warnte auch: »Umgekehrt dürfen die Gruppen nicht vergessen, was ihre eigentliche Mitte ist. Sie vertreten keine politische Opposition, sondern sollen vom Evangelium her Vorschläge und Anregungen in unsere Gesellschaft einbringen.« Noch kritischer äußerte sich Generalsuperintendent Dr. Krusche: »Das undifferenzierte Eintreten für jeden und für alles hat unsere Kirche in Zugzwang gebracht, ja erpressbar gemacht. Wir sind zu Elementen einer Strategie geworden, die wir nicht mehr in der Hand halten. Wir mussten reagieren, haben punktuell einmal hier, einmal da Schlimmes toleriert, um Schlimmeres zu verhüten und haben dabei unser Profil verloren und uns mehr von Krisen als von Kriterien leiten lassen! Nicht nur der Staat, sondern – was mich viel mehr beunruhigt – auch unsere Gemeinden fragen jetzt nach der Position der Kirche. Um unserer Identität willen müssen wir unser Profil gegenüber den Gruppen bestimmen, und das wird ohne Abgrenzung nicht abgehen.«
Krusche sprach damit durchaus für viele Pfarrer und Vertreter von Gemeindekirchenräten, die den Fortgang ihrer behutsamen Arbeit gefährdet sahen. Auch Bischof Forck begriff die Gefahren, die das Engagement für die Gruppen mit sich brachte: »Ich nenne als Beispiel nur die illegalen Zeitungen und Blätter, die auf unseren Abzugsmaschinen gedruckt wurden. Sie waren für Materialien zum innerkirchlichen Dienstgebrauch bestimmt und nur unter dieser Voraussetzung vom Staat genehmigt. Der Staat drohte mit dem Entzug dieser Apparate, was unsere eigentliche Arbeit für die Gemeinden beeinträchtigt hätte.« Auch öffentlichkeitswirksame Maßnahmen, die die Gruppen vorhatten – Demonstrationen, öffentliche Auftritte usw. – fanden oft nicht den Beifall der Kirche. »Nach den Erfahrungen, die wir schon gemacht hatten«, so Bischof Forck im Rückblick auf die damalige Situation, „mussten wir warnen: Demonstrationen konnten nur die Menschen gefährden, wie wir es dann ja auch erlebten. Demonstrationen sind nicht primär Aufgabe der Kirche; sie sind allenfalls nach bestimmten Absprachen vertretbar, durch die wir ihren Zeugnischarakter herausstellen können. Einen Gottesdienst in der Kirche zogen wir Demonstration^ allemal vor.«
Die Staatssicherheit hatte diese Auseinandersetzungen detailliert verfolgt und in einem Lagebericht am 20. April 1988 festgestellt: »Wie der Verlauf und die Ergebnisse der 4. Tagung der 9. Synode der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg (8. bis 12. April 1988) zeigen, gibt es gegenwärtig tiefgehende Meinungsverschiedenheiten zwischen politisch-realistischen und reaktionären Kräften innerhalb der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg (aus diesem Grund wurde u.a. kein kollektiv verantworteter Kirchenleitungsbericht vorgelegt). Insgesamt ist einzuschätzen, dass die Erörterung gesellschaftlicher Fragen zu Ungunsten der Behandlung anstehender innerkirchlicher und theologischer Probleme in den Mittelpunkt gerückt wurde. Der von Bischof Forck persönlich verantwortete Bericht enthielt seine bekannten negativen Ansichten zur Frage »Entlassung aus der Staatsbürgerschaft«, zu den staatlichen Maßnahmen hinsichtlich der Hetzschrift »Grenzfall« und zu den Vorkommnissen am 17. Januar 1988. Er äußerte sich nicht zu den Fragen der Friedenssicherung und behauptete, die Zukunft der Kirche läge bei den sogenannten Friedens-, Menschenrechts- und Umweltgruppen. Politisch-realistische Synodale übten theologisch und politisch fundierte Kritik am Bericht des Bischofs und warfen insbesondere Fragen nach dem weiteren Weg der Kirche im Sozialismus auf. Teilnehmer aus ländlichen Gebieten übten besonders Kritik an der Politisierung des kirchlichen Lebens in der Hauptstadt. Es gelang nicht, eine einheitliche Position zum Bericht des Bischofs zu erarbeiten. Insgesamt wurden 44 Beschlussvorlagen verabschiedet, darunter 28 zu innerkirchlichen Anliegen, 16, in denen zum Verhältnis Staat – Kirche und zu gesellschaftlichen Fragen Stellung genommen wird (politisch-negative beispielsweise: Beschlüsse zur Ausbürgerungsproblematik, zur Informationspolitik und Meinungsbildung sowie zu Wehrdienstfragen). Wenn es auch loyalen Synodalen in stärkerem Maße als bisher gelang, realistische Positionen in die Diskussion einzubringen, spiegelte sich das in den gefassten Beschlüssen noch nicht ausreichend wider.«
Zugleich bewertete das MfS die Situation bei den oppositionellen Gruppen aus seiner Sicht positiv. Nach den Ausbürgerungen vom Februar 1988 stellte die Bezirksverwaltung Berlin fest: »Der harte Kern innerer Feinde wurde getroffen, dezimiert, verunsichert; eine Schwächung der feindlichen Kräfte wurde erreicht.« Aber auch: »In jüngster Vergangenheit bemühten sich feindliche Kräfte in der Hauptstadt um Stabilisierung bestehender Gruppierungen; … es gibt Bestrebungen feindlicher Gruppierungen (»Kirche von unten«, »Koordinierungsgruppe«, »Gegenstimmen«) und von Einzelpersonen (Poppe, Mißlitz, Bomberg), entstandene Lücken für die eigene Profilierung zu nutzen.«
Tatsächlich hatten einige der auf der Synode vertretenen Auffassungen, denen der Staat insgeheim Beifall zollte, bei den Gruppen zum Teil heftige Kritik hervorgerufen. Die Differenzen schwelten bereits seit langem und hatten im Jahr zuvor zum »Kirchentag von unten«, einer Gegenveranstaltung zum offiziellen evangelischen Kirchentag geführt. Die Losung der Initiatoren dieses »Kirchentages von unten« brachte die Haltung der Kirchenkritiker sehr deutlich zum Ausdruck:
»Glaubt nicht mehr diesem Pfaffenbrei,
setzt lieber bisschen Power frei.«
Auch der Bürgerrechtler Wolfgang Rüddenklau, obwohl durch die Umweltbibliothek eng mit einer Kirchengemeinde verbunden, machte im Rückblick aus seiner Kritik kein Hehl: »Die Mehrheit in der Kirchen bildeten die Opportunisten. Sie haben sich von jeher an die jeweilige Linie angepasst, konzentrieren sich auf den religiösen Ritus und geben keine besonderen Impulse zur theologischen Erneuerung. Es gab sogar einen kleinen staatsfrommen Flügel, der häufig auch im »Neuen Deutschland« zitiert wurde.«
Auch wenn Rüddenklau durchaus differenzierte und Leute wie Bischof Forck, den damaligen Konsistorialpräsidenten Stolpe und auch einige Gemeindepfarrer nicht zu diesem Kreis von Opportunisten zählen mochte, so führte gerade die von ihm beschriebene Situation dazu, dass in dem Maße, wie die Aktionen der Opposition öffentlichkeitswirksamer wurden, sich der Konflikt mit der Kirchenleitung zuspitzen musste. Weitsichtigere Vertreter des Staates, so Staatssekretär Klaus Gysi, erkannten das auch und waren bemüht, es zum Bestandteil ihres taktischen Vorgehens zu machen: »Das Dümmste, was man tun konnte, war, Märtyrer zu schaffen. Stattdessen musste man den Leuten in den Gruppen die Freiheit geben, sich selbst zu isolieren. Wegen der Ablehnung ihrer Aktivitäten in den Gemeinden hätte man die Auseinandersetzung getrost als innerkirchliche Sache ablaufen lassen sollen.« Er habe in diesem Sinne immer wieder an Honecker geschrieben, aber keine Antwort erhalten. Die Staatssicherheit dachte ähnlich wie Gysi. Der stellvertretende Leiter der BV Berlin, Oberst Zeiseweis, verstand auch im Rückblick nicht, weshalb die offen zutage getretenen Differenzen in der evangelischen Kirche sowie zwischen ihr und den Gruppen nicht genutzt wurden: »Wir mussten mit diesen Leuten sprechen, vor allem mit den leitenden Vertretern der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, um bei ihnen die Bereitschaft zu einer gewissen politischen Partnerschaft zu wecken, wozu es auch in der Leitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg gar nicht so wenig Zustimmung gab.«
Dass diese Empfehlungen – zum Glück für die Gruppen – letztlich doch unbeachtet blieben, verrät auch etwas über den Realitätsverlust, der in den Führungsetagen von SED und Staat bereits eingetreten war. Kirchenführer, die – wie Stolpe – jetzt keine Möglichkeit eines Ausgleichs mit der kommunistischen Herrschaft mehr sahen, konnten so ihren Einfluss verstärken und erreichen, dass die Kirche allmählich, aber stetig auf Positionen gelangte, die auf der Höhe der Zeit waren. »Nach dem 6. März 1988«, so Stolpe, »war für mich klar: Es geht nur im Bruch. Die Frage war allein, ist dieser Bruch friedlich oder unfriedlich zu vollziehen.«
Gerade diese Alternative musste die Kirche aber auch veranlassen, weiterhin vorsichtig zu agieren. Manfred Stolpe: »Wir mussten sowohl die Interessen der Institution Kirche, der Gemeinden mit ihren unterschiedlichen Vorhaben, die ja bis zum Kirchbau gingen, sehen als auch uns dem Auftrag der Kirche zur Erhaltung des gesellschaftlichen Friedens verpflichtet fühlen. Von daher war methodisch eine Politik zu entwickeln, die auf behutsame Veränderungen orientierte. Es war für die Kirche keine Frage, dass sie auf Veränderungen im gesellschaftlichen Bereich, auf Verbesserungen für die Menschen – vor allem hinsichtlich ihrer Teilhabe- und Freiheitsrechte – zu drängen hatte. Die Frage war, wie hart sie das vertreten konnte. Kirchlich gesehen war das etwa so wie die Spannung zwischen der Wahrheitsfrage und der Nächstenliebe. Hier musste ein Ausgleich gefunden werden: Nur Nächstenliebe hätte die Gefahr der absoluten Beschwichtigung in sich geborgen, nur das Insistieren auf die Wahrheit die Gefahr der ständigen Zuspitzung.« Stolpe akzeptierte auch später nicht, dass es vor allem die immer wieder von den Gruppen initiierten Aktionen waren, die wesentlich die weitere Entwicklung beeinflussten. »Hätten sich die Ereignisse von 1989 bereits 1987 oder 1988 zugetragen, so wäre es sicher noch leicht gewesen, sie im Blut zu ersticken«, gab er zu bedenken, und Bischof Forck sagte das Gleiche mit seinen Worten: »Man wird wahrscheinlich sagen müssen, daß bestimmte Methoden ihre Zeit, ihre Stunde haben.«
Das behutsame Vorgehen der Kirche einerseits und die Konzeptionslosigkeit des Staates auf der anderen Seite führten im Laufe des Jahres 1988 zu einem merkwürdigen Schwebezustand in den beiderseitigen Beziehungen. Immer wieder versuchte auch der Staat, die Kirche in sein Vorgehen gegen die Gruppen einzubeziehen. Ähnlich wie vor dem Überfall auf die Umweltbibliothek gab es zum Teil massive Bemühungen, idie Kirchenleitung zur Disziplinierung der Opposition zu veranlassen. »Verschiedentlich versuchte der Staat, an die ›Vernunft‹ der Kirche zu appellieren, sie als einen systemstabilisierenden Faktor zu benutzen«, erinnerte sich Probst Dr. Furian. Besonders der wichtigste Verhandlungspartner des Berliner Magistrats, Generalsuperintendent Dr. Krusche, bekam das zu spüren, und er versuchte sich tatsächlich als neutraler Vermittler, der jeder der beiden Seiten – Gruppen wie Staat – die jeweiligen Positionen des Kontrahenten vortrug, ohne selbst Stellung zu beziehen – soweit dies möglich war. Zu mehr – und bereits dies stieß bei den Gruppen auf erhebliche Kritik – ließ sich die Kirche nicht herbei. Sie unterstützte die Gruppen insgeheim – vor allem technisch – und achtete zugleich darauf, dass deren Aktionen die eigenen Kreise nicht störten. Die Grundposition, wie sie Stolpe später definierte, lautete: »Wir müssen sagen, was wir wollen; wir dürfen die Wahrheit nicht verschweigen, aber wir müssen in der Art, wie wir das vorbringen, immer darauf achten, daß das Tischtuch nicht zerschnitten wird, nicht durch uns. Dabei müssen wir beschwichtigen, ohne in dieser Beschwichtigung so weit zu gehen, dass alles schon halb unter dem Teppich ist«.
Diese Position wurde lange durchgehalten. Aber mit dem Fortgang der Ereignisse begriff die Kirche immer mehr, dass die Anliegen der oppositionellen Gruppen zugleich die Wünsche und Hoffnungen der Bevölkerung zum Ausdruck brachten. »Die Kirche war den Grundsatzanliegen, die durch die Gruppen vertreten wurden, verpflichtet und durfte sich dem in der Sache nicht entziehen«, meinte der damalige Konsistorialpräsident Stolpe rückblickend. »Und wenn wir die Entwicklung in ihrer Gesamtheit sehen«, fuhr er fort, »so haben wir doch nie einen Zweifel daran gelassen, dass wir zu den Gruppen stehen, so sehr wir ihnen intern manchmal gesagt haben: Übertreibt es nicht, provoziert keine Gewalttaten.«
Diese Darstellung ist in ihrem Kern sicher zutreffend, aber sie muss ergänzt werden durch die Präzisierung, dass der jugendliche Ungestüm der Oppositionellen die Kirche doch oft vorantrieb und auf Positionen geführt hat, die sie von sich aus nicht eingenommen hätte. Denn auch das stammt von Manfred Stolpe – gesprochen bei der Entgegennahme der Ehrenpromotion der Greifswalder Universität am 14. November 1989: »Wir nahmen falsche Rücksichten, indem wir die Wahrheit zu freundlich verpackt haben. Wir haben zu lange Geduld gepredigt, statt entschlossener Gerechtigkeit und Gleichheit zu fordern. Wir haben Unruhige beschwichtigt, wo es richtiger gewesen wäre, sich ihren Protest voll zu eigen zu machen.« Später benannte Stolpe als Ereignis, das wesentlich zum Umdenken auch bei ihm beigetragen habe – die Auseinandersetzung um die Kirchenzeitungen im Herbst 1988.
Bereits seit dem Frühjahr jenes Jahres hatte der Staat immer wieder in die Belange der Kirchenpresse eingegriffen und die Streichung bestimmter Beiträge oder zumindest Aussagen verlangt. Nach Angaben von Probst Furian betraf dies vor allem folgende Bereiche: Menschenrechte, Abrüstung im allgemeinen (sofern sie nicht dezidiert nur vom Westen verlangt wurde), Wehrdienstfragen, Erziehungsprobleme allgemein und die Situation der DDR-Schulen im besonderen, Umweltfragen und aktuelle Gesellschaftsprobleme. Der damalige Leiter des Presseamtes der Regierung, Kurt Blecha, sagte, dass diese Dinge die Kirche nichts angingen und sie sich gefälligst auf die Kulthandlungen, Liturgie und Gebet zu beschränken habe. Dr. Furian nach der Wende: »Dazu haben wir eine klare Gegenposition bezogen. Für uns war die Kirchenpresse auch ein Mittel der Verkündigung. Verkündigung aber geht den ganzen Menschen an, und da müssen alle Fragen angesprochen werden können. So haben wir gehandelt, aber natürlich haben wir einzelne Beiträge umformulieren müssen,«
Die Kirche war lange zu Kompromissen bereit und zog sich auf eine Art »Sklavensprache« zurück, die ein Teil ihrer Adressaten zwar verstand, für viele – vor altem jüngere – aber zu verschlüsselt und damit unwirksam war. Und dennoch häuften sich die Fälle, dass ganze Artikel aus den Kirchenblättern herausgenommen werden mussten. Mitunter erschienen die Zeitungen aber auch mit weißen Flecken, was den staatlichen Organen – aus unterschiedlichen Gründen – ebensowenig passte wie den Lesern. Die Situation spitzte sich zu, und am 10. Oktober 1988 kam es zu einem ziemlich spontanen Schweigemarsch vom Haus des evangelischen Konsistoriums in der Neuen Grünstraße zum Presseamt des Ministerpräsidenten in der damaligen Otto-Grotewohl-Straße. Nach dem Bericht der Staatssicherheit waren daran knapp 200 Personen beteiligt; drei Transparente wurden identifiziert. Sie trugen die Losungen »Kein Lobgesang dem Presseamt«, »Pressefreiheit für die Kirche« und »Schluss mit der Verbotspraxis«. Trotz mehrfacher Aufforderung durch Polizeikräfte löste sich der Zug nicht auf, und so griff die Staatsgewalt ein; 78 Personen wurden »zugeführt«.
Stolpe maß dieser Aktion große Bedeutung bei. Denn nach seiner Meinung hatte die Entwicklung des Jahres 1988 nicht nur Kirchenvertreter, sondern auch nicht wenige Angehörige der Bürgerrechtsgruppen resignieren lassen. »Auch sie waren schon ein bisschen vorsichtig geworden, wandten sich gegen Zuspitzungen«, schätzte er später die damalige Situation ein. Er selbst hatte ebenfalls unter Hinweis auf ein für den 13. 10. geplantes Gespräch mit staatlichen Vertretern über die Problematik vor der Aktion gewarnt, zugleich aber das Vorgehen gegen die Kirchenzeitungen als »absolut unerträglich« bezeichnet. Es sei ein »Eingriff in die innerste Substanz« kirchlicher Arbeit und müsse als eine Art Stellvertreterkrieg mit der Kirchenleitung verstanden werden. »In dieser Situation« – so Stolpe – »traten plötzlich ganz neue Leute in Erscheinung, solche, die sich vorher noch gar nicht öffentlich artikuliert hatten. Sie sagten jetzt: Verhandeln bringt nichts mehr, gutes Zureden ist sinnlos. Wir tun jetzt, was wir tun müssen und tun können. Wir gehen friedlich auf die Straße.«
Für Stolpe war dies eine neue Qualität, und als erstes äußeres Zeichen eines Aufbruchs größerer Gruppen, einer sich entwickelnden Massenbasis der Opposition wertet er die Demonstration zum Presseamt: »Ganz neue Leute, die bisher politisch überhaupt nicht aufgefallen waren, gingen jetzt auf die Straße; ihre Geduld war zu Ende. Damals habe ich dem neuen Staatssekretär für Kirchenfragen, Kurt Löffler, gesagt: Das ist das letzte Signal. Wenn Sie das jetzt nicht ernst nehmen, dann fängt die Sache an zu kochen. Pur mich war es ein Zeichen, dass es nun nicht mehr ruhig weitergeht.«
Die »Umweltblätter« verwiesen in ihrem Bericht über die Aktion auch auf äußere Anzeichen wachsender Ungeduld und verminderter Furcht: „Neu war, dass es mit den Auseinandersetzungen mit der Polizei und den zivilen Ordnungshütern zu ersten Ansätzen des passiven Widerstandes kam. So wurde ein mit sieben Demonstranten beladener LO (Polizei-Kleinbus – der Verf.) am Abfahren gehindert. Mensch hakte sich gegenseitig unter und forderte in Sprechchören die Freilassung der Zugeführten. Nachdem Verstärkung auf Seiten der Staatsmacht aufgefahren wurde, entschloss sich ein Großteil der Demonstranten, die anderen sieben auf ihrem Weg zu begleiten. Dieses Verhalten erzeugte bei den Ordnungsverhütern einige Unsicherheit. Auch kam die Überlegung auf, ob mensch sich nicht lieber auf die Straße als auf die LO’s setzen sollte, Erstaunlich war, dass nicht alle Personen zugeführt werden sollten, so wurde mehreren Pastoren die Mitfahrt verweigert.«
Tatsächlich waren die Protestaktionen gegen die Zensur der Kirchenzeitungen zwar ein wichtiges, jedoch nur e i n Anzeichen für die wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung, besonders unter der Jugend. Auch andere Bespiele aus dieser Zeit, vor allem aber die weiteren Entwicklungen zeigten, dass der Kredit, den die Partei- und Staatsführung – nicht zuletzt durch gezielte Maßnahmen zur materiellen Unterstützung vor allem der Jugend – in gewissem Umfang eine Zeitlang hatte, völlig aufgebraucht war. Und ihre Reaktionen auf diesen immer offensichtlicher werdenden Vertrauensverlust trugen nur zu seiner weiteren Beschleunigung bei.