Heute zittern Europas »Demokraten« – vor einer demokratischen Entscheidung, die sie am liebsten verhindert hätten. Nur in einem einzigen Land, nur in Irland können die Bürger darüber entscheiden, ob sie den EU-Vertrag billigen wollen; das schreibt ihnen zum Leidwesen der Brüsseler Bürokratie wie ihrer Parteigänger im Europaparlament die Verfassung vor. In allen anderen 26 Staaten der Europäischen Union, die sich so gern weltweit als Hüter der Demokratie aufspielt, ist das Volk von dieser Entscheidung ausgeschlossen. Man wollte schlechtweg nicht noch einmal riskieren, dass die Völker, wie schon einmal in Irland, dann auch in Frankreich und den Niederlanden geschehen, dieses europäische Projekt ablehnen – und schloss sie einfach von der Mitsprache aus. Und den skeptischen Iren wirft man seinerseits undemokratisches Verhalten vor, sollten sie den Lissaboner Vertrag ablehnen und damit die mehrheitliche Entscheidung der anderen kippen, die freilich nur eine der Regierungen und der jeweiligen Regierungskoalitionen der Parlamente war und nicht die der Menschen Europas.
Die Sorge der Euro-Bürokraten ist berechtigt. Hätte man überall in Europa Referenden angesetzt, wäre das zusammengeschusterte Vertragswerk von Lissabon längst vom Tisch, denn außer dass es schwer verständlich ist, bringt es den Menschen nur wenig. Vielleicht hat die EU nicht bewirkt, dass gegenwärtig auch auf dem Kontinent in breiter Front die Preise steigen, besonders jene für Energie, dass das weltweite Finanzsystem in schwere Turbulenzen geraten ist, dass die Flüchtlingsströme rund um den Erdball eher zu- denn abnehmen. Aber die EU hat das alles auch nicht verhindern können. Sie zuckt hilflos die Schultern und ortet die Schuld gern bei der Globalisierung, als deren stolzes Kind sie sich andererseits gern darstellt. Sie kann nicht vergessen machen, dass das von oben geschaffene Europa vor allem eines der Wirtschaft ist, dass es den großen Konzernen, den Banken und Wirtschaftsverbänden bessere Wirkungsmöglichkeiten schafft, während für den Bürger nur wenig herausspringt. Der Euro hat den Geldverkehr der Finanzinstitute ohne Zweifel beflügelt, doch an den Geldautomaten muss der einfache Bürger noch immer horrende Zuschläge zahlen, wenn er im Ausland »seinen« Euro ziehen will. Auch die Mobilfunkfirmen halten die Grenzen in Europa zugunsten ihrer Gewinne aufrecht, während sie für billige Arbeitskräfte weit geöffnet werden – ebenfalls mit dem Resultat hoher Profite und zugleich niedriger Löhne. Und im Zuge des Anti-Terror-Kampfes wird inzwischen auch die Reisefreiheit sukzessive wieder eingeschränkt; schon bracht man an vielen Grenzen wieder seinen Pass.
Die Beispiele ließen sich fortsetzen – und sie sind es, die den Frust über dieses Europa wachsen lassen und nicht die mangelnde Aufklärung der Regierungen. Wo wenig Positives ist, über das man aufklären kann, nützen alle phantasievollen Bemühungen nichts. Selbst die Iren, lange als Nutznießer des europäischen Einigungsprozesses hervorgehoben, haben in Wirklichkeit offenbar andere Erfahrungen gemacht – so wie eine deutliche Mehrheit der Europäer schlechthin. Mit ihrer Skepsis sprechen sie für den ganzen Kontinent.
Armes Europa! Nur die Iren gehen nicht in die Irre und werden den EU-Reformvertrag aller Voraussicht nach ablehnen. In den anderen europäischen Ländern hat man es nicht für nötig befunden, den Souverän – damit ist das „einfache Volk“ gemeint und nicht die Politikerprominenz und die Eurokraten – über die weitere Zukunft EU-Europas abstimmen zu lassen. Die demokratisch gewählten „Regierungs-Herrscher“ in den europäischen Hauptstädten werden ihre Gründe haben. Zum Beispiel hätte man sich in einem solchen Fall überhaupt erst einmal mit den alltäglichen Sorgen und Nöten der Menschen abseits der klimatisierten Konferenzräume in den Regierungsvierteln mit den Folgen der eigenen Politik auseinanderzusetzen gehabt. Das hätte für manch einen Brüsseler Parteigänger aber ein böses Erwachen geben können. So wird es vorerst bei der bürgerfernen Eurokratie und den meist leeren Versprechungen aus Brüssel bleiben für die Menschen im Europa der Wirtschaft ohne soziales Antlitz – oder auch nicht?
Die Wähler scheinen den Europapolitikern ebenso lästig zu sein wie die Arbeitnehmer den Arbeitgebern, die man zu reinen Kostenfaktoren im vereinten Europa gemacht hat. Daß das Gesagte nichts mit grundsätzlicher Europaskepsis oder gar Europafeindlichkeit zu tun hat, zeigt sich an dem solidarischen Schulterschluß der Kritiker des Europa der Politiker und Wirtschaftsbosse mit den tapferen Iren, die sich hoffentlich nicht Irre machen lassen in ihrem europafreundlichen Nein zum Lissaboner EU- Reformvertrag, der einen bloßen Aufguß zu der einst in Frankreich und den Niederlanden gescheiterten Abstimmung über die EU-Verfassung darstellt.