Der Agenda-Flügel der SPD favorisiert Frank-Walter Steinmeier als Kanzlerkandidaten – gegen die Skepsis der Parteibasis
Wenn dieser Tage in den Medien über die politische Zukunft von Frank-Walter Steinmeier spekuliert wird – und das geschieht ausgiebig – dann fehlt in keiner der Darstellungen der Auftritt des SPD-Vizevorsitzenden und Bundesaußenministers auf dem Landesparteitag der niedersächsischen Sozialdemokraten vor vier Wochen. Damals in Hannover habe Steinmeier, so war in den Zeitungen zu lesen, bewiesen, dass er »auch Partei kann, nicht nur Dalai Lama, vergrätzte Chinesen, Nahost und Amerikaner«. In Niedersachsens Hauptstadt inszenierte sich Steinmeier als eine Art Schröderscher Klon – so überzeugend, dass nicht nur Journalisten glaubten, »Gerhard Schröder mit natürlichem weißen Haar gehört und gesehen zu haben«. Er gab sich als Wahlkämpfer, beschwor die Geschlossenheit seiner Partei und attackierte lautstark den politischen Gegner.
In Hannover, wo Steinmeiers politische Karriere begann, wurde ihm das leicht gemacht. Nicht nur der niedersächsische Landes-Vize Hauke Jagau hatte ihn bereits als Bundeskanzler begrüßt; auch sein Vorsitzender Garrelt Duin und Hubertus Heil, Generalsekretär der Bundespartei, stellten ihn in eine Reihe mit Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder. Nach Steinmeiers Rede erhoben sich alle jubelnd von ihren Plätzen und Duin bekannte: »So wünschen wir uns das! (…) Mir ist nicht bange um die deutsche Sozialdemokratie nach dieser Rede von Frank-Walter Steinmeier.«
Eine inzwischen ausgemachte Sache
Der Umworbene jedoch blieb vorsichtig und mochte sich damals und bis heute an Personaldebatten nicht beteiligen, obwohl es inzwischen viele schon für eine ausgemachte Sache halten, dass nicht Parteichef Kurt Beck, sondern sein Stellvertreter aus dem alten Schröder-Stall die SPD in den Wahlkampf führen wird. Zum einen wohl deshalb, weil Steinmeier – so sehr er die Ovationen von Hannover genossen hat – als kühler Rechner nicht vergessen haben dürfte, dass gerade die niedersächsische SPD mit ihrer strikten Ausrichtung auf eine Fortsetzung des Schröderschen Agenda-2010-Kurses bei den Landtagswahlen im Januar nur 30,3 Prozent der Stimmen gewann, das schlechteste Resultat ihrer Geschichte. Bei Arbeitern und Gewerkschaftsmitgliedern verlor sie mehr als acht Prozent der Stimmen. So etwas relativiert überbordenden Applaus.
Zum zweiten aber zögert Steinmeier wohl auch, weil ihm die Rolle der Wahllokomotive, des charismatischen Volkstribunen nicht auf den Leib geschrieben ist. Als »Praktiker, Umsetzer, Verwirklicher« bezeichnete ihn einmal die »Zeit«, als jemanden, dem »das Machbare wichtiger als das Wünschenswerte« sei. In dieser Rolle war er erfolgreich, mehr noch: unentbehrlich. Zum Beispiel für Gerhard Schröder. Nach dem Studium der Rechts- und der Politikwissenschaft in Gießen sowie der Promotion fand Steinmeier 1991 Anstellung in der niedersächsischer Staatskanzlei, wo der damalige Ministerpräsident bald auf ihn aufmerksam wurde. Schon 1993 leitete er dessen Büro; 1996 wurde er Staatssekretär und Leiter der Staatskanzlei.
Steinmeier erwies sich als ein außerordentlich zuverlässig und effizient arbeitender Beamter. Schnell erkannte er die Probleme und machte sich so beharrlich wie geduldig an ihre Lösung. Nichts, was er für wesentlich hielt, entging ihm, so dass ihn manche als »Überperfektionisten« bezeichneten, als »Dr. Makellos« oder als »stillen Star der Schröder-Truppe«, weil nicht einmal Oppositionspolitiker Negatives über ihn zu vermelden wussten. So wirkte er als beständiger und unauffälliger Manager im Hintergrund. Außer seiner Frau, soll Schröder einmal bekannt haben, vertraue er nur zwei Menschen uneingeschränkt: seiner Büroleiterin und »dem Frank«.
Und dennoch – oder gerade deswegen – war es vielleicht nicht zufällig, dass Schröder nach der Bundestagswahl 1998 nicht den zwar gut funktionierenden, aber wenig inspirierenden Steinmeier zum Kanzleramtschef machte, sondern den zupackenden, umtriebigen Bodo Hombach, der sich dann allerdings als allzu umtriebig erwies. Damit schlug doch noch Steinmeiers Stunde, und er managte sechs Jahre lang in vorderster Front die rot-grüne Regierungsarbeit. Er tat es als jemand, der vor allem ausführte, was andere vordachten, der dabei korrigierte und nachbesserte, jedoch nicht den Ehrgeiz entwickelte, eigene Leitlinien zu entwerfen.
Ausführen, was das Orakel verkündet
Wichtige Entscheidungen traf Schröder ohne seinen Amtschef. Dazu beriet er sich mit Franz Müntefering oder Peter Struck. Steinmeier hatte auszuführen, was das Orakel verkündete. Auch der überraschende Entschluss über vorgezogene Neuwahlen, dem Steinmeier kritisch gegenüberstand, erfolgte ohne ihn, wenngleich er davon am Ende innerhalb der SPD am meisten profitierte. Denn Schröder war es wenigstens noch gelungen, mit Münteferings Hilfe seinen Vertrauten als Außenminister zu platzieren und damit nicht nur der SPD, sondern deren von ihm vertretenem Flügel eine Schlüsselfunktion in der großen Koalition zu sichern. Als Vizekanzler, der mit Merkel auf Augenhöhe verkehren könne, sahen ihn beide damals aber nicht.
Auch der neuen Aufgabe im Auswärtigen Amt wurde Steinmeier nur allmählich gerecht. Gewohnt, vor allem auszuführen, was ein anderer mit Richtlinienkompetenz bestimmte, vermochte er es lange nicht, in der Außenpolitik aus dem Schatten Angela Merkels zu treten. Die Kanzlerin hatte schnell das internationale Feld als imagefördernd erkannt und ließ ihrem obersten Diplomaten nur geringe Spielräume, was dieser zunächst auch klaglos hinnahm. Erst allmählich machte er sich vorsichtig frei von ihren Vorgaben, die allzu sehr an den Wünschen der Bush-Administration orientiert sind, so im Streit um den Besuch des Dalai Lama, später im Umgang mit Syrien oder jüngst in der Frage des Obama-Auftritts am Brandenburger Tor.
Es sind dabei nicht so sehr originäre Positionen, die er vertritt, sondern Auffassungen seiner Partei, die sich noch immer aus Schröders Distanz zu George W. Bush speisen. Und ähnlich belebt er auch in der Innenpolitik vor allem jene politischen Leitsätze, die Schröder und die Seinen einst formulierten und an deren theoretischer wie praktischer Ausgestaltung er an prominenter Stelle mitwirkte. Ihm soll nun die Aufgabe übertragen werden, wenigstens Angela Merkel herauszufordern.
Die besten Voraussetzungen dafür hat Frank-Walter Steinmeier nicht. Zwar liegt er in den Umfragen weit vor allen seinen Genossen, besonders vor seinem Vorsitzenden Kurt Beck und nur wenige Prozentpunkte hinter der Regierungschefin, doch verdankt er das dem Außenminister-Job und nicht der Rolle in der SPD-Führung. Diese stellt er daher auch nur selten heraus, hat die Parteikarriere nie gesucht und sich eher zögernd auf den Weg gemacht, wenigstens um ein sozialdemokratisches Bundestagsmandat zu kämpfen. »Ich habe nie geplant, Politiker zu werden, so etwas entwickelt sich«, sagte er einmal. Und die hypothetische Frage, ob er sich vorstelle, einmal Bundeskanzler zu werden, beschied er bislang eher abweisend: »Ich weiß, was ich kann. Und ich weiß, was ich nicht kann.«
Dennoch wird er sich von seiner Partei letztlich in die Pflicht nehmen lassen – wie bisher. Und dann – auch wie bislang immer – ausführen, was jene Strömung, der er sich zugehörig fühlt, die »Schröderianer«, für das Richtige hält. Schon spricht er nicht nur im »Schröder-Sound«, sondern vor allem Schröder-Text, den er ja oft selbst formulierte. »Für mich ist und bleibt die SPD eine Partei der politischen Mitte«, sagt er. Oder: »Ich glaube nicht, dass die SPD am linken Rand unserer Gesellschaft ihren Einfluss sichern wird«, weshalb er nichts davon halte, populistischen Parolen hinterherzulaufen.
Mit der Agenda 2010 und den USA verbunden
Es sind dies vor allem die Positionen des rechten Flügels der Partei und des alten Schröder-Netzwerks; daher sind sie vielen in der SPD-Basis auch verdächtig, was Steinmeier zusätzlich zögern lässt. Er weiß, wie sehr sein Name mit der Agenda 2010, der Hartz-Gesetzgebung, aber auch mit dem heimlichen Kotau vor den USA verbunden ist, der sich besonders im Falle Kurnaz zeigte. Doch der 52-Jährige hat weder die Fantasie noch die Kraft, sich aus dem alten Denkgebäude zu befreien und einen Neuanfang zu machen. Er ist lediglich die letzte Hoffnung des Schröder-Clans, an der Macht bleiben zu können – und sei es weiterhin als Juniorpartner der Union in einer Neuauflage der Großen Koalition. Offen wird das in der SPD ungern gesagt, auch wenn manche, wie Steinmeiers Kabinettskollege Peer Steinbrück, es durchblicken lassen. Und hatte nicht der Ex-Kanzler selbst Steinmeier laut »Zeit« einmal attestiert, er »sei der Einzige unter den derzeit politischen agierenden Sozialdemokraten, dem er zutraue, den Job des Bundeskanzlers auf Anhieb erfolgreich auszufüllen«?
Auch die Parteilinken könnten sich mit der Kanzlerkandidatur des gebürtigen Ostwestfalen anfreunden, sehen sie doch ihre Zeit für noch nicht gekommen. Sie können sich einen Wahlsieg ihrer zerrissenen Partei 2009 nicht vorstellen und wollen keinen der Ihren verschleißen. Björn Böhning, als Ex-Juso-Chef einer ihrer Vertreter, sagte gar zu, für Steinmeier werben zu wollen: »Das kriegen wir schon hin.«
Die alten »Schröderianer« rüsten derweil zum Kampf. Generalsekretär Hubertus Heil und Fraktions-Geschäftsführer Thomas Oppermann rühren für Steinmeier unverblümt die Trommel. Wolfgang Clement verkündete, er werde weiter »etwas sagen«, sollte die Reformpolitik in Deutschland angegriffen werden. Otto Schily nannte sie »einen ganz großen Erfolg«, und Schröder selbst will den zehnten Jahrestag des rot-grünen Wahlsiegs nutzen, um seine Politik zu verteidigen. Steinmeier, den der Alt-Bundeskanzler einst als seinen »besten Mann« bezeichnete, wird noch einmal gebraucht. Und er übt auch schon – als »heiserer Schröder« unlängst in Hannover und jetzt im bayerischen Wahlkampf.
(Gedruckt in: Neues Deutschland vom 21. 07. 2008)
Freilich braucht sich Frank-Walter Steinmeier keine allzu vielen Gedanken darüber machen, was er als Bundeskanzler politisch denn anfangen wollte. Dafür ist die deutsche Sozialdemokratie innerlich zu zerstritten, im äußeren Erscheinungsbild zu widersprüchlich und programmatisch viel zu angepaßt an den neoliberalen Zeitgeist, als daß es gegenwärtig den Anschein macht, daß es zu einem Sieg bei der nächsten Bundestagswahl reichen könnte, obwohl in der Politik bekanntlich so einiges möglich ist. Aber Wunder gibt es auch dort wie im „richtigen Leben“ nur höchst selten.
Der „Mann ohne Eigenschaften“ hat nichtsdestotrotz eine erstaunliche Parteikarriere in der SPD gemacht – ohne jemals ein Sozialdemokrat mit Basiskontakt werden zu müssen. Aber dies hat er mit seinem politischen Ziehvater Gerhard Schröder gemeinsam: Die Partei kommt erst an nachrangiger Stelle, wirklich wichtig sind den „modernen“ Sozialdemokraten die guten Kontakte zu den einflußreichen Kreisen in der Wirtschaft. Das hat das aufmüpfige Parteivolk eben als zu zahlenden Preis zu akzeptieren, wenn man denn an der Regierungsmacht beteiligt sein will.
Seiner Beliebheit in den Medien tut Steinmeiers innerliche Abgehobenheit von der Parteibasis keinesfalls einen Abbruch, im Gegenteil. Sozialdemokraten, die sich mit den von den ökonomischen Machteliten definierten wirtschafts- und sozialpolitischen Restriktionen zu arrangieren wissen, sind von den herrschenden Eliten und journalistischen Meinungsmachern stets mit persönlichem Entgegenkommen und „guter Presse“ belohnt worden. Schröders Reformpolitik und Steinmeiers Gefolgsamkeit sind daher allüberall durch ständige Wiederholungen als modern und zukunftsweisend apostrophiert und massenwirksam festgeklopft worden. Und wie sollte „Dr. Makellos“ daran etwas Entscheidendes ändern wollen, wenn er widererwarten 2009 doch ins Kanzleramt und diesmal als Regierungschef einziehen sollte?
Den Makel der Agenda 2010 als sozial kalt und wirtschaftspolitisch kontraproduktiv wird Steinmeier hingegen wegstecken können. Er wäre ja nicht der erste gescheiterte Kanzlerkandidat der SPD. Und als Juniorpartner der CDU läßt es sich auch ganz gut leben, wie Parteivize Steinbrück bereits hat verlauten lassen. „Schröders bester Mann“ liebt ohnehin mehr das perfekte Ausführen von Plänen, die andere erdacht haben. Falls es aber nicht mehr zu einer erneuten Regierungsbeteiligung für die SPD nach 2009 reichen sollte, würden die Freunde der wirtschaftsfreundlichen Politik der SPD „den Frank“ bestimmt nicht im Regen stehen lassen und ihm einen lukrativen Posten in der Wirtschaft anbieten. Ein Sozialfall mit Hartz IV wird Frank-Walter Steinmeier jedenfalls nicht werden. Es wäre ja auch zu ungewöhnlich, wenn ein Politiker die negativen Folgen der eigenen Politik selbst ausbaden müßte.