Werkrank ist und spürt, dass gegen sein Leiden nichts anschlägt, geht in seiner Verzweiflung mitunter seltsame Wege. Sind alle konventionellen Heilmethoden ausprobiert, ist der Kranke versucht, ins Irrationale die letzte Hoffnung zu setzen. Vielleicht gibt es ja einen Wunderheiler, der doch noch ein Mittel gegen das unaufhaltsame Siechtum weiß.
In einer solchen Lage wähnt sich gegenwärtig – nicht ganz zu Unrecht – die SPD. Sie fühlt sich krank, von einer Art Schwindsucht befallen. Sie glaubt, alles Menschenmögliche dagegen getan zu haben – aber umsonst. Also greift sie nun zu etwas, das sie zuvor zum Übermenschlichen erklärt hat; es trägt den Namen Franz Müntefering. Wohl wahr: Der Name dieses Mannes ziert an prominenter Stelle alle Stationen der SPD in den vergangenen zehn bis 15 Jahren. Es sind dies allerdings überwiegend Stationen ihres Verfalls, zu dem Müntefering spätestens seit seinem Bündnis mit Gerhard Schröder maßgeblich beitrug. So als wollte er in seiner unnachahmlichen Art sagen »Ich kann auch kaputt …«, hat er die SPD immer mehr auf einen Kurs geführt und dort gehalten, der die Partei mittlerweile am Rand ihres Ruins ankommen ließ. Weil das so war, wurde der Widerstand gegen ihn, zumal nach der Wahlniederlage von 2005, nach seiner Botmäßigkeit gegenüber CDU und CSU, mit der er die SPD zwar die Regierungämter in der großen Koalition rettete, aber der Partei die Seele raubte, immer größer. Er musste das Amt des Vorsitzenden aufgeben, weil er sich nicht mehr durchsetzen konnte. Dann schied er auch aus der Regierung – bei einem machtbewussten Mann wie ihm ein klares Signal des Scheiterns. Am verstörtesten darüber war die Union, die sich folgerichtig jetzt, da Müntefering selbst sein persönliches Recycling angekündigt hat, vor Freude darüber nicht lassen kann.
Allerdings gibt es auch nicht wenige Sozialdemokraten, die sich von der Wiederkehr eines Mannes, der sich solcherlei »Verdienste« um die SPD erworben hat, wahre Wunder erhoffen. Weshalb sie gerade ihm die Kompetenz eines Retters zuweisen, ist das eigentliche Müntefering-Rätsel, über das eine angemaßte Hauptstadtzeitung jüngst im Stile schwülstiger Dreigroschenhefte schwadronierte.
„Weshalb sie gerade ihm die Kompetenz eines Retters zuweisen, ist das eigentliche Müntefering-Rätsel, über das eine angemaßte Hauptstadtzeitung jüngst im Stile schwülstiger Dreigroschenhefte schwadronierte.“
Weil er, gemessen an der Qualität des derzeit agierenden Perorales, dieses bei weitem überragt. Das sagt nichts über Münteferings Qualitäten, dafür aber alles über die von Beck, Nahles, Gabriel und anderen roten Traumtänzern.
Man sollte an die Wurzel des Übels gehen, um zu sehen, woran es liegt. Bei dem gegenwärtigen und aus Sicht der SPD zweifellos als grottenschlecht zu bezeichnenden Zustand der Partei sind die möglichen Ursachen und Hintergründe des seit mehreren Jahren sich abzeichnenden Niedergangs der großen deutschen Volkspartei links von der Mitte vielschichtiger, als sich dies in wenigen Sätzen zusammenfassen ließe. Daß die stark neoliberalistisch angehauchte Reformpolitik der Sozialdemokraten damit maßgeblich zu tun hat, dürfte aber unstrittig sein.
Warum sich aber die Mühe machen, nach möglichen eigenen inhaltlich-programmatischen Schwächen und politisch-strategischen Fehlern Ausschau zu halten? Die dabei zu Tage tretenden Wahrheiten könnten schließlich unangenehm sein fürs eigene Selbstverständnis und für einige Protagonisten persönlich schmerzlich dazu. Dies ahnt man wohl auch im Erich-Ollenhauer-Haus. Dann also doch lieber die auch im „alten Europa“ Einzug gehalten habende Personalisierung von Politik vorantreiben und anstrengenden innerparteilichen Debatten aus dem Weg gehen.
Dafür bietet sich das „Müntefering-Rästel“ geradezu an. Der „Seelentröster der Partei“ Franz Müntefering hat nämlich genau das, was der wirtschaftsfreundliche Selfmade-Man Gerhard Schröder nie gehabt hat (und auch nie haben wollte): sozialdemokratischen Stallgeruch. Zwar stammt auch Schröder aus dem klassischem SPD-Milieu der unterprivilegierten Arbeiterschicht; aber dem „Genossen der Bosse“ würde es niemals einfallen, mit einer schlichten Volksschulbildung zu prahlen, sondern für den Emporkömmling Schröder galt es immer, aus ebendiesem proletarisch geprägten Dunstkreis herauszukommen. Müntefering hingegen ist auf seine „Volksschule Sauerland“ noch heute mächtig stolz und verkörpert so den scheinbar „perfekten Sozialdemokraten“. Wen stört es da schon bei den heutigen maßgeblichen „Sozis“ und beim politischen Gegner CDU, daß der liebevoll nur „Münte“ genannte Franz aus dem Sauerland mit nicht geringerer Sturheit, pardon Konsequenz die Politik der sog. Modernisierer um Gerhard Schröder in der SPD nach wie vor vertritt?