Unabhängig vom Ausgang des heutigen EU-Gipfels in Brüssel zeigt die aktuelle Diskussion über das Verhältnis Europas zu Russland, dass der »kalte Krieg«, der jetzt so vehement beschworen wird, im Kern nie völlig beendet wurde, sondern auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion weiter schwelte. Letztlich bedurfte es nur eines Funken, um ihn erneut anzufachen. Und dieser Funke ging von Georgien, einem engen Verbündeten der USA und der EU aus. Er führte dazu, dass nun auch Russland kräftig ins Feuer blies, was wiederum fast den gesamten Westen noch mehr zur Weißglut brachte – ein ziemlich irrationaler Vorgang. Er wird nur dann verständlich, wenn man die westliche Reaktion als tiefe Enttäuschung darüber interpretiert, dass sich Russland dem Westen nicht im gewünschten Maße unterwirft.
Dabei wird tunlichst übersehen, dass sich Russland in den vergangenen beinahe 20 Jahren, zum Teil notgedrungen, elementar gewandelt hat. Selbst Leute, von denen man vermuten müsste, dass sie das Land aus eigener Anschauung bestens kennen, wie zum Beispiel der Fernsehjournalist Klaus Bednarz, tun heute so, als unterscheide sich Russland kaum von der Sowjetunion; eine groteske Fehleinschätzung. Denn Russland hat sich in kaum erwartetem Maße auf eine Partnerschaft mit dem Westen eingelassen und dabei Abhängigkeiten hingenommen, die nicht selten mit seinem Selbstverständnis einer großen, einflussreichen Nation kollidierten. In den 90er Jahren konnte man noch den Eindruck haben, dass auch westlicherseits ein solcher Kurs verfolgt wurde, sogar von der damaligen US-Administration unter Bill Clinton. Doch nach der Amtsübernahme durch George W. Bush 2001hat sich das gravierend verändert, und die USA begaben sich auf den Weg der Einkreisung Russlands, rückten dazu die NATO immer näher an russische Grenzen heran und verbanden dies mit militärischer Aufrüstung der neuen Partner. Es war absehbar, dass dieser Kurs zurück in einen erklärten kalten Krieg die Verhältnisse vor allem in Europa vergiften würde, was vermutlich auch eins der amerikanischen Ziele war; dennoch fand kein europäischer Staat die Kraft, selbstbewusst die eigenen Interessen dagegen zu setzen. Man unterwarf sich der amerikanischen Linie, eben weil der alte kalte Krieg noch immer in den Köpfen geisterte.
Wie sehr er das tut, zeigt die aktuelle Debatte, zum Beispiel die ständig wiederholte Forderung, Europa dürfe sich von Russland nicht abhängig machen. Auch sie zeigt, dass das alte antisowjetische Feindbild noch immer nicht überwunden, sondern lediglich in ein antirussisches Feindbild transferiert worden ist. Denn Partnerschaft, gar Freundschaft ist immer mit einer gewissen, gewollten Abhängigkeit verbunden, die auf Vertrauen beruht. Wer jedoch von vornherein sein Misstrauen kultiviert, auch durch die Verweigerung von gegenseitigen Abhängigkeiten, kann nie ein echter Partner sein. Und will es offenbar auch nicht, was zum Beispiel die früheren osteuropäischen Nachbarn der Sowjetunion, aber auch Georgien schnell erkannt haben. Unabhängig davon, wie berechtigt ihre Sorgen und Ängste vor dem übermächtigen Russland tatsächlich sind, fällt doch auf, dass sie weder die EU noch gar die NATO als einen Partner Russlands wahrgenommen haben, sondern stets als Gegenkraft, unter deren Fittiche sie sich begeben wollten – zum Schutz vor jemandem, den sie unverändert als Feind betrachten und als Mittel, gegen diesen Feind die eigenen Interessen durchzusetzen. Sie entlarven damit das Partnerschaftsgerede des Westens viel wirksamer als es jede russische Propagandakampagne tun könnte.
Wie sehr sich hinter der Abhängigkeitsdiskussion altes Kaltes-Kriegs-Denken verbirgt, zeigt auch die Tatsache, dass es seit Jahrzehnten nicht ein einziges Beispiel dafür gibt, dass erst die Sowjetunion und dann Russland Öl- und Gaslieferungen an den Westen aus politischen Gründen reduzierten oder gar einstellten; wenn solche Maßnahmen ergriffen wurden, lag die Ursache stets im ökonomischen Bereich und auf Gebieten östlich von EU und NATO, so in der Ukraine und Weißrussland, die sich schwer damit taten, schrittweise zu Weltmarktpreisen für die Energieträger überzugehen. Dennoch wird regelmäßig ein solcher Popanz an die Wand gemalt; das alte Feindbild ist eben nicht totzukriegen. Und natürlich werden westliche Maßnahmen gegen Russland gar nicht erst hinterfragt. Zwar drohen einige EU-Länder unverhohlen mit Sanktionen gegen den östlichen Nachbarn, erwarten aber zugleich, dass dieser sie sich in stoischer Ruhe gefallen lässt, etwa nach dem Motto. Wir wollen dir zwar kräftig in den Hintern treten, aber wehe,wenn du uns als Antwort auch nur das leiseste Fürzchen ins Gesicht bläst.
Dies jedoch ist eine Politik, die erfolgreich nicht sein kann. Kein Land der Erde kann sie sich gefallen lassen, weshalb es an der Zeit ist, dass wieder Realismus in die internationale Arena einzieht und Ideologie aus ihr verbannt wird. Allerdings ein Realismus, der auf vernünftiger Analyse, dem Abwägen von Gewinn und Verlust einer bestimmten Politik beruht und nicht – wie eben im kalten Krieg – auf der gegenseitigen Drohung mit dem atomaren Inferno.
Wenn es nach den Vorlieben der Journaille und der Politik im Westen ginge, wäre die Sache mit dem Kaukasus-Konflikt bereits entschieden und die Rollen eindeutig verteilt:
Die Guten sind im Westen versammelt und Saakaschwilis Georgien möchte zum „Club der Tugendhaften“ dazugehören, wurde aber auf gewalttätige Art und Weise von den „bösen Russen“ daran gehindert, was natürlich nicht ohne Folgen für Moskau bleiben kann. Soweit, so gut.
Daß das Ausmaß der militärischen Reaktion der Russen in dem strategisch wichtigen Georgien als überzogenen bezeichnet werden kann, ist das eine; etwas anderes ist aber die gelegentlich geäußerte Vermutung, daß Rußland schon seit längerem eine Art Heimholung der Auslandsrussen ins wieder zu erweiternde russische Kernland beabsichtigt und daß das provozierende Verhalten des georgischen Präsidenten Saakaschwili so gesehen den russischen Absichten nicht ungelegen kam. Ob das Gesagte nun etwas mit dem Vorhandensein eines wie auch immer unterschwellig existenten „Feindbild Rußand“ zu tun haben kann, soll mal offen bleiben.
Danke !
Nun mal halblang!
Der Kaukasus ist ein postkolonialer Konflikt. Das russische Zarenreich hatte genauso wie westeuropäische Staaten koloniale Zugewinne erzielt.
Die Briten und Franzosen verloren ihr Kolonialreich nach 1945, die Russen erst 1991. Was wollen die Russen im Kaukasus? Warum wird den Tschetschenen und Kalmyken nicht die Unabhängigkeit zugestanden?
Krim: Tataren werden vertrieben oder ermordet: Und dann werden Russen angesiedelt. Das Gebiet gehört aber nun zur Ukraine!
@ antikolonial
Wenn man einmal bei dieser Weltsicht bleibt: Warum wird den Südosseten und den Abchasen nicht die Unabhängigkeit von Georgien zugestanden? Und vielleicht der Krim die Unabhängigkeit von der Ukraine? Und wenn man schon fragt, was die Russen im Kaukasus wollen, muss man dann nicht auch fragen, was die Amerikaner dort wollen? Und im Kosovo? Und in Polen? Von Afghanistan, Irak usw. gar nicht zu reden. Also wenn schon antikolonial, dann nicht selektiv!