Die oppositionelle Bewegung, die sich in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre in der DDR herausgebildet hatte, war trotz der Repressivmaßnahmen des Staates nicht mehr aufzuhalten. Sie konnte zum einen auf der wachsenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung über die Lage in der DDR aufbauen und dadurch immer mehr Sympathisanten gewinnen und förderte diesen Trend durch oftmals kluge und phantasievolle Aktionen, die der Staatssicherheit das Vorgehen dagegen erschwerten. Ein Beispiel dafür war die IWF-Tagung, die vor zwanzig Jahren im damaligen Westberlin stattfand und von der offiziellen DDR-Propaganda ebenso wie von den oppositionellen Gruppen kritisch begleitet wurde, was letztere dazu nutzten, legale Artikulationsmöglichkeiten zu schaffen – natürlich unter ständiger argwöhnischer Überwachung.
Darüber entstand etwa zwei Jahre später, im Sommer 1990, nachfolgender Text, der die damaligen Ereignisse rekapituliert und in einen größeren Zusammenhang zu stellen versucht. Zwar ist heute das Geschehen vor 20 Jahren gründlicher erforscht als damals, nur Monate danach; dennoch kann diese bislang unveröffentlichte Darstellung neben ihrem dokumentarischen Teil einiges zur seinerzeitigen Atmosphäre am Ende einer Epoche aussagen.
Der Aufschwung der oppositionellen Bewegung in der DDR in der zweiten Hälfte des Jahres 1988, der sich sowohl bei den Vorgängen um die Rockkonzerte als auch beim Protest der Schüler der Ossietzky-Schule zeigte, war durchaus nicht zwangsläufig. Es schien zunächst sogar so, als könne die Opposition wichtige, für sie positive Ereignisse nicht im erforderlichen und möglichen Maße nutzen. Dies bezog sich vor allem auf die Wiedereinreise der nach der Liebknecht/Luxemburg-Demonstration im Janaur ins Ausland abgeschobenen Bürgerrechtler Bärbel Bohley und Werner Fischer im August 1988. Das MfS stellte dazu in einer Überblicksdarstellung der »politischen Untergrundtätigkeit« in der DDR fest: »Im Zusammenhang mit der Einreise von Bohley und Fischer kam es zu keinen provokativen öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten. Es fanden mehrere Treffen, besonders der Bohley, mit Mitgliedern der ›Initiative Frieden und Menschenrechte‹ statt. Bohley und Fischer zeigen aus taktischen Erwägungen ein zurückhaltendes Verhalten. An ihrer Zielstellung der Veränderung des Sozialismus, halten sie fest. Stärker wollen sie sich Problemen der ›Reisefreiheit‹ widmen.«
Tatsächlich hatte die Ausbürgerung für beide wie auch die anderen Vertriebenen einen Schock bedeutet. Bärbel Bohley schilderte das nach ihrer Rückkehr so: »Ich wollte nie weg, plötzlich war ich weg, ich wollte stark sein, plötzlich war ich schwach, ich wollte immer ein ganzer Mensch sein, plötzlich war ich nur noch eine Hülle, ich kannte keine Angst, plötzlich war sie übermächtig.« Und auch die Zurückgebliebenen mussten sich erst wieder finden – ungeachtet dessen, dass es auch in dieser Zeit einer gewissen Stagnation immer wieder Aktionen gab, Dazu Werner Fischer nach seiner Rückkehr aus England: »Ich bin ganz und gar nicht der Ansicht, dass die Friedensbewegung am Boden ist – dazu wird in ihr viel zu differenziert gearbeitet. Alle Informationen, die ich im Westen erhalten habe, deuteten nach der ersten großen Enttäuschung im Februar auf eine Konsolidierung der Gruppen in der DDR hin. Es gab und wird sie immer geben, diese Zeiten der Lähmung und Orientierungslosigkeit. Wenn wir es noch schaffen könnten, diese nichtigen und unproduktiven Streitereien, Dominanzstreben und unsachlichen Umgang miteinander auf ein Minimum zu reduzieren, dann habe ich für die Zukunft keine Bange.«
Fischer glaubte auch an neue Möglichkeiten, er hatte sogar den Eindruck einer verminderten Observierung. Nach einem kurzen Urlaub Ende August nach Berlin zurückgekehrt, .emfand er, »förmlich auf Watte zu laufen. Überall Freundlichkeit, Höflichkeit, auch bei den Behörden«. Später erfuhr er allerdings, dass Mielke nach der Wiedereinreise den Befehl zu lückenloser Beobachtung rund um die Uhr gegeben hatte. Gegenüber seinem Haus mietete die Stasi drei konspirative Wohnungen an.
Die bei aller zeitweiligen Resignation und trotz Beschränkung durch massiven Einsatz der Staatssicherheit dennoch vorhandenen Möglichkeiten wurden von den Oppositionellen klug genutzt. Ein Beispiel dafür war die IWF-Aktionswoche. Vom 27. bis 29. September 1988 fand in Westberlin die Jahrestagung der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds statt, und Bürgerrechtsgruppen in West und Ost wollten darauf mit Gegenveranstaltungen reagieren. Im Ostteil der Stadt war bereits für den 22. September ein Pilgerweg zum Thema Gerechtigkeit vorgesehen, Solidaritätskonzerte für die Dritte Welt, Seminare und Mahnwachen sollten folgen. Für die Führung der damaligen DDR war es im Interesse der eigenen Glaubwürdigkeit schwer, dagegen vorzugehen. Immerhin wurden IWF und Weltbank auch offiziell kritisch betrachtet und als »imperialistische Herrschaftsinstrumente auf ökonomischem Gebiet« charakterisiert. Doch wenn oppositionelle Gruppen gegen sie auftraten, musste das im Verständnis der paranoiden Führung auch gegen die DDR gerichtet sein. »Mit der Durchführung öffentlichkeitswirksamer Aktivitäten ist beabsichtigt, unter dem Deckmantel, die Politik und die Praktiken von Weltbank und IWF anzuprangern, die DDR zu diskreditieren«, gab das MfS das Bewertungsmuster vor.
Da sich jedoch ein allzu direktes Vorgehen in diesem Falle verbot, wurde flexibel gehandelt. Neben den üblichen Maßnahmen der Druckausübung traten »gesellschaftliche Kräfte« auf, die sich erstmals in solchem Umfang auf einen sachlichen Disput mit der Opposition einließen. Das MfS hatte diesen Einsatz angeordnet: »Darstellen von Positionen von DDR-Wissenschaftlern zu den von den Organisatoren eingenommenen Haltungen und Schlussfolgerungen zu IWF und Weltbank u. a. durch Teilnahme der bereits namentlich fixierten Genossen von der HUB (Humboldt Universität Berlin – d. Verf.) und HfÖ (Hochschule für Ökonomie – d-Verf.) an dem Seminar am 24./25.9.1988 in Friedrichsfelde.« Diese Wissenschaftler stellten dann in nicht wenigen Punkten Übereinstimmung mit der verketzerten Opposition fest, und letztere erhielt Gelegenheit, ihre Auffassungen relativ offen darzustellen und zu diskutieren. Das MfS wertete das positiv: »Einsatz gesellschaftlicher Kräfte unter Führung der SED-Bezirksleitung Berlin hat sich erneut bewährt: speziell das offensive Auftreten von Experten (z. B. Beim ›IWF-Seminar‹) trug zur Versachlichung bei und drängte die angestrebten Ziele der feindlichen Personen in den Hintergrund.«
Auch die Opposition verbuchte die IWF-Aktionswoche als Erfolg, und schlussfolgernd kann man sie geradezu als Beleg dafür nennen, dass vieles in den Differenzen zwischen Staat und alternativer Opposition künstlich war, nur darauf beruhte, dass SED und Staatsmacht neben sich keine Kraft dulden wollten – auch dann nicht, wenn diese mit ihnen inhaltlich weitgehend konform ging.Gerade dieser starrsinnige Alleinvertretungsanspruch aber war es, der der Opposition weiterhin Zulauf verschaffte. Alle Kräfte, die sich von der stalinistischen Führung nicht mehr vertreten sahen, suchten nach anderen Möglichkeiten der Artikulation – und das umso mehr, je unerträglicher die Verhältnisse wurden.
Von einer Art nahezu weltweiten „starrsinnigen Alleinvertretungsanspruchs“ der neoliberalistischen Politikausrichtung kann man heute wohl auch sprechen. Ob die das liberalisierte und deregulierte globale kapitalistische Weltfinanzsystem erschütternden Ereignisse an der Wall Street daran etwas grundlegend ändern werden, muß sich erst noch erweisen. Jedenfalls haben die US-Investmentbanker nach wie vor „gute Freunde“ in der Bush-Administration sitzen, so z.B. den ehemaligen Investmentbanker und jetzigen US-Finanzminister Paulson.
Und was hat das Ganze mit den Geschehnissen von vor zwanzig Jahren anläßlich der IWF-Tagung in West-Berlin mit der DDR und ihrer damaligen Oppositionsbewegung zu tun? Nichts!