Unabhängig davon, ob Hartmut Mehdorn demnächst sein Amt als Chef der deutschen Bahn verlassen muss oder noch nicht, lässt allein die Tatsache, dass er über eine Angelegenheit stolpern könnte, die vor allem ihm im Vergleich mit vielen anderen seiner Fehlleistungen beinahe wie eine Bagatelle anmutet, die rauen Winde spüren, die gegenwärtig Managern ins Gesicht blasen, die kürzlich noch als unantastbare Organisatoren wirtschaftlichen Aufschwungs galten. Man hielt Mehdorn zugute, dass er die Bahn aus den roten Zahlen führte und dabei war, sie zu einem global player zu machen, was dem einfachen Bahnkunden jedoch nur partiell von Nutzen war. Denn der Konzernchef erreichte seine Erfolge auf dem Rücken der Eisenbahner, die er in fünfstelliger Zahl aufs Abstellgeleis schob. Die Folge waren zunehmend stressige Arbeitsbedingungen für die Verbliebenen bei niedrigen Löhnen, die er auch dadurch deckelte, dass er sich die größte Eisenbahner-Gewerkschaft Transnet weitgehend gefügig machte. Und Folge waren die Stilllegung von Strecken, vor allem in ländlichen Gebieten, die Aufgabe von Bahnhöfen, ein neues, eher am Flugverkehr orientiertes und damit kundenfeindliches Tarifsystem und ständig steigende Preise bei kaum verbessertem Komfort.
Lange schien solch forsches, vorwiegend an der Profitrate und immer weniger an den Erwartungen der Kunden an einen Dienstleistungsbetrieb orientiertes Vorgehen erfolgreich und wurde daher durch die Politik – ob Union, ob SPD – trotz mancher Bauchschmerzen gedeckt; auch dann noch, als sich – mit dem geplanten Börsengang – die Misserfolge häuften. Erst als die Diskrepanzen zwischen Mehdorns Voluntarismus und den sich auf dem Finanzmarkt atemberaubend schnell verschlechternden Realitäten unübersehbar geworden waren, bremste man den Bahnchef aus, ohne dass damals jedoch der Ruf nach seinem Rücktritt laut wurde. Ihn schon damals auszurangieren, hätte auf die schwarz-rote Koalition, die gegen alle Warnungen und das Votum eines SPD-Parteitages den Börsengang forcierte, zurückschlagen können; schließlich hatte sie auf diese Weise mit auf der Lokomotive gesessen.
Jetzt aber, wo der Scherbenhaufen, den sein rücksichtsloses Managertum anrichtete, unübersehbar ist, suchte und fand man eine Fehlleistung, die der Konzernchef und seine Führungsriege allein verantworten müssen, und damit die ideale Gelegenheit, ihm die Signale auf Rot zu stellen. Mehdorns Führungsphilosophie, sein Leitungsstil passen derzeit nicht in die von der Wirtschafts- und Finanzkrise aufgewühlte Landschaft. Denn allzu ähnlich war und ist sein Vorgehen jenem der Hasardeure aus der Bankenwelt, denen auch der Gewinn um jeden Preis alles galt und die glaubten, sich über alle anderen Interessen hinwegsetzen zu können. Was sich im Bankensektor abspielte, galt eben lange auch als beispielhaft für die so genannte Realwirtschaft. Und da verwundert es nicht, dass die Turbulenzen in den Geldhäusern ihren lauten Widerhall in vielen Konzernetagen finden. Dass nun selbst bislang sakrosankte Spitzenmanager wie Mehdorn ihren Nimbus verlieren und vielleicht künftig nicht an der Lautstärke ihrer Bekundungen, sondern an ihren tatsächlichen Leistungen gemessen sowie bei Versagen entsorgt werden, könnte sich als eine der besseren Wirkungen der gegenwärtigen Wirtschaftskrise erweisen.
Mehdorn selbst allerdings scheint darauf zu hoffen, dass sich die Stürme bald wieder legen und er sein Amt behalten kann. Und die Chancen dafür stehen deshalb nicht schlecht, will Bundesregierung wie die sie tragenden Parteien im anlaufenden Wahlkampf stark dazu neigen, ihre Entscheidungen nicht nach Sachlage, sondern aus partei- und wahlpolitischem Kalkül zu treffen. Insofern grübeln derzeit die beteiligten Politiker noch über den möglichen Folgen eines Mehdorn-Sturzes für sie selbst – und das könnte den Bahnchef wieder einmal retten.
Das ist wohl zutreffend beobachtet und richtig analysiert. Die fundamentale Krise der „Irrealwirtschaft“ des Finanzmarktkapitalismus strahlt nicht nur auf die Arbeitnehmer und Verbraucher negativ aus, sie hat auch den positiven Nebeneffekt, daß die besonders rigorosen Vertreter der Shareholder Value-Maxime derzeit im öffentlichen Ansehen nicht allzu gut dastehen und dadurch zumindest teilweise wieder angreifbar werden in ihrem äußerst unsozialen Verhalten und wenig zukunftsträchtigen kurzfristorientierten Geschäftsgebaren.
Bevor Hartmut Mehdorn allerdings seinen Posten an der Spitze der von ihm so vehement anversierten „Börsenbahn“ verliert, müßte schon noch einiges Unerwartetes in der ihn stützenden Politik der „Ganz großen Koalition“ aus CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen geschehen.