So sehr man Schadenfreude über den Misserfolg der Müntefering-Steinmeier-SPD bei der Europawahl empfinden mag, so wenig können die sich daraus möglicherweise ergebenden Konsequenzen Befriedigung auslösen – und das paradoxerweise in allen politischen Lagern. Denn damit rückt die von neoliberalen Kräften in Politik und Wirtschaft angestrebte schwarz-gelbe Koalition näher in den Bereich der Möglichkeiten, was vor allem der Masse der Bevölkerung neue Lasten aufbürden würde. Aber auch konservative Politiker sehen darin nicht allein eine Chance, sondern durchaus auch die Gefahr, die dadurch errungene Macht schneller wieder zu verlieren, als ihnen lieb wäre.
Über die von einer CDU/CSU/FDP-Regierung betriebene Politik braucht man nicht viele Worte zu machen. Man muss sich nur an das Wahlprogramm der Union vor der letzten Bundestagswahl erinnern und die unverdrossen neoliberalen Sprüche Guido Westerwelles derzeitig hinzufügen – dann weiß man, dass Sozialabbau auf der ganzen Front ins Haus zu stehen droht, während für die Unternehmen alles getan werden wird, sie so ungeschoren wie möglich aus der von ihnen verschuldeten Wirtschafts- und Finanzkrise herauskommen zu lassen. Insofern wäre die Fortsetzung der großen Koalition ohne Zweifel die für die Mehrheit der Bevölkerung bessere Lösung, wenn auch nur das kleinere Übel. Denn in der SPD gibt es trotz aller Unterwürfigkeit unter den neoliberalen Kurs, wie sie Schröder, Müntefering und Steinmeier praktizierten, noch einen Rest sozial denkender Mitglieder, die derzeit allerdings nichts zu sagen haben und daher tatsächlich auch schweigen, vielleicht auf bessere Zeiten hoffen.
Diese vage Hoffnung auf die Zukunft, ohne etwas dafür zu tun, könnte sich allerdings rächen, weil sie von den Wählern offensichtlich nicht geteilt wird. Für sie war und bleibt zum Beispiel Hartz IV Bestandteil des neoliberalen Kurses, der dem Land seit den 90er Jahren unter großem propagandistischem Aufwand der Unternehmerverbände aufgeschwatzt worden ist, und solange sich die SPD davon nicht distanziert, wird sie Wahlen nicht mehr gewinnen können. Insofern war die Entscheidung, statt Kurt Beck einen Hartz-IV-Architekten, nämlich Franz-Walter Steinmeier, aals Kanzlerkandidaten zu nominieren, ein eklatanter politischer Fehler. Er diente der gegenwärtigen SPD-Führung nur dazu, Rechthaberei zu zelebrieren und darüber die Realitäten im Land zu negieren. Dass dann auch noch versucht wurde, dem Hartz-IV-Kandidaten soziale Sorgenfalten über verschwindende Arbeitsplätze ins allzu glatte Gesicht zu kleben, zur Abhilfe aber Millionenzahlungen an die gescheiterten Unternehmensbosse durchzusetzen, machte die Partei vollends unglaubwürdig, und sie hat die Quittung dafür bekommen.
Paradoxerweise ist es das schwache Ergebnis der Linkspartei, das der SPD doch noch eine letzte Chance geben könnte. Wären die Sozialdemokraten schon endgültig abgeschrieben, hätte sich das in einem zweistelligen Resultat für die Linke gezeigt – und möglichweise in einem Absturz der SPD in den 15-Prozent-Bereich. Dass dies (noch) nicht eintrat, deutet daraufhin, dass viele Wähler ihre Stimme daheim parkten, also Wahlenthaltung übten – und damit der SPD noch eine Chance geben wollen, bis zur Bundestagswahl den Schröder-Müntefering-Steinmeier-Kurs zu verlassen. Dass dies allerdings eintreten wird, ist ziemlich unwahrscheinlich; daraus ergibt sich die reale Gefahr, dass Union und FDP tatsächlich am 27. September eine Mehrheit erreichen könnten. Denn noch scheint die Linke nicht in der Lage, SPD-Stimmen in einem nennenswerten Umfang auf sich zu ziehen; dazu ist sie innerlich zu sehr zerstritten über einen realistischen und zugleich systemverändernden Kurs, und zudem sitzt die jahrzehntelange antilinke Propaganda noch immer fest in den Köpfen einer übergroßen Mehrheit der Wähler.
Doch auch das konservative Lager schaut mit gemischten Gefühlen auf die Botschaft, die die Wähler mit der Europawahl aussandten. Zum einen ist sein Sieg natürlich noch längst nicht gesichert, zum anderen könnte er sich schnell als Pyrrhussieg erweisen. Denn eine schwarz-gelbe Regierung würde mit ihrer jetzt erklärten Politik sehr schnell auf den Widerstand des Volkes stoßen. Wachsende Arbeitslosigkeit, durch die Millionenzuwendungen an Banken und Unternehmen leere Staatskassen und möglicherweise durch eine Inflation steigende Preise, um nur einige absehbare Probleme zu nennen, mit neoliberalen Mitteln zu heilen, kann nur scharfe Konflikte auslösen, die sich auch im Regierungslager selbst spiegeln würden. Schnell würde diese Regierung bei Landtagswahlen abgestraft; sie müsste damit rechnen, spätestens nach vier Jahren abgewählt zu werden – wie es auch Gerhard Schröder beinahe passierte.
Auf der anderen Seite würde sich die SPD in der Opposition möglicherweise inhaltlich wie personell erneuern, vor allem auch ihr Verhältnis zur Linkspartei klären und nicht länger der Weisung aus dem konservativen Lager folgen, vorhandene linke Mehrheiten zu ignorieren. Derart gestärkt und strategisch neu aufgestellt, wäre ein Neuanfang möglich – im besten Falle sogar ein solcher, der das bürgerliche Lager auf längere Zeit von der Macht fernhält. Dass eine solche Vision derzeit eher die Konservativen umtreibt und weniger die Linken, schon gar nicht die SPD, ist ein zusätzlicher Beweis für deren Schwäche. Aber vielleicht stoßen sie die Wähler demnächst mit der Nase auf diese Möglichkeit. Wenn man davon ausgeht, dass Wahlergebnisse am Ende immer von der Weisheit der Wähler zeugen, dann waren die Resultate der Europawahl vielleicht ein Warnschuss, der sich für alle politischen Akteuere als echte Herausforderung erweist.
Tja, die „fleißigen Liberalen“ von der FDP mit dem arbeitsscheuen Blickfang Silvana Koch-Mehrin an der Spitze und dem unvermeidlich lautstark trompetenden Guido Westerwelle in der Pose des „ewigen Generalsekretärs“ haben nach der gestrigen Europawahl zunächst einmal gutlachen. Aber wer zuletzt lacht, ist noch nicht ausgemacht.
Wenn man für die Zeit nach der Bundestagswahl auf einen politischen Neuanfang noch zu hoffen wagt, müßte man aber fast schon auf eine Niederlage der neoliberalen SPD setzen. Denn wenn es doch wieder zu einer großen Koalition mit einem kleiner gewordenen Juniorpartner SPD mit den Unionsparteien kommen sollte, könnten sich die Konservativen weiterhin auf Kosten der Rumpfsozialdemokratie profilieren, ohne sich dafür vom desorientierten Wählern allzu sehr abstrafen lassen zu müssen. Und die Sozialdemokraten würden an einem wirklichen inhaltlichen und dringend erforderlichen personellen Neuanfang erneut gehindert werden.
Schwarz-Gelb würde bei einer Alleinherrschaft relativ schnell entzaubert werden und die soziale Alternative von links hätte mehr reale Chancen, öffentlich auch als solche wahrgenommen zu werden. Freilich ist die politische Bewußtseinsbildung der Menschen nach wie vor stark vom massenmedial zirkulierenden Meinungsmainstream beeinflußt, und der wird alles daran setzen, eine nachhaltige Aufklärung über demokratische Alternativen zum kapitalhörigen Reformkurs zu unterbinden.
Wie sonst ist es auch zu erklären, daß die Linkspartei aus der „Jahrhundertkrise“ der finanzmarktgetriebenen Ökonomie bislang kein größeres „politisches Kapital“ hat schlagen können? Man müßte ja nicht einmal ein ausgesprochener politischer Linker sein, um Die Linke zumindest aus strategischen Gründen heute wählen zu können. Wer aber nicht wählen geht, darf auch nicht meckern. 😉