Jahrelang spazierte das bundesdeutsche Establishment als demokratischer Kaiser durch die Lande und hatte es leicht, seine Blöße hinter den vorgefertigten Zetteln der Volkskammerwahlen in der DDR zu verbergen. Diese Faltblätter gibt es schon lange nicht mehr, aber es hat immerhin 20 Jahre gedauert, ehe sich die »parlamentarische Demokratie« á la BRD auch als wenig mehr denn ein Feigenblatt entpuppte – und nun staunt man: Sie ist ja nackt und zeigt das auch noch immer offenherziger auf großflächigen Plakaten.
Dieses staunende Publikum mag ahnen: Was am 27. September entschieden werden soll, ist es bereits. Wir werden danach die Fortsetzung der großen Koalition erleben, hat sie sich doch längst als die effizienteste Form erwiesen, das Land möglichst ungestört von den Einsprüchen einer nur noch marginalen Opposition zu regieren und zugleich über alle Mehrheiten zu verfügen, die auch Verfassungsänderungen im Galopp möglich machen. Zum Beispiel zum von den Sicherheitsfanatikern der Koalition seit langem angestrebten Einsatz der Bundeswehr im Innern – falls der nötig würde, sollte sich das Volk ohne wirksame Stimme im Parlament wieder auf seine Stärke auf der Straße besinnen.
Damit es gar nicht erst dazu kommt, dürfte Angela Merkel – auch wenn sie derzeit noch pflichtgemäß für Schwarz-Gelb wirbt – wenig Neigung haben, durch allzu weitgehende neoliberale Zugeständnisse an Guido Westerwelle das soziale Klima im Lande über Gebühr zu belasten; schließlich hat sie ihren Pragmatismus beim Regieren so gut damit begründen können, dass die SPD – schwer gebeutelt vom antisozialen Crashkurs der Schröder, Steinmeier und Müntefering – zu weiteren derartigen Einschnitten kaum noch bereit war. Sie dürfte darin von der bayerischen Schwesterpartei wärmstens unterstützt werden, die nach einem Jahr Koalition mit der FDP von dieser im Freistaat widernatürlichen Konstellation bereits mehr als genug hat und mit Grausen an die Aussicht denken mag, den eigenen populistischen Kurs immer wieder auf den Prüfstand diverser freidemokratischer Sozialkürzungsforderungen stellen zu müssen.
So tut man seitens der Union so ziemlich alles, um ein ähnliches Wahlergebnis wie vor vier Jahren zu erreichen – mit den analogen Konsequenzen, die der Wahlbürger jetzt wohl sogar noch gelassener hinnehmen würde, weil es denn doch nicht so schlimm kam mit dem von Merkel angedrohten Durchregieren. Die SPD wäre über die Wiederholung des 2005er-Resultats deutlich über der 30-Prozent-Marke sogar heilfroh. Natürlich weiß sie, dass ihr Kandidat von der Kanzlerschaft weiter entfernt ist als wir vom Mann im Mond; dass sie hartnäckig einen anderen Eindruck zu erwecken versucht, liegt allein an der prognostizierten erheblichen Schwächung ihrer Positionen – mit all ihren negativen Folgen für Ämter und Posten.
Da der Ausgang der Wahl also ziemlich klar ist, wird ein ernsthaftes Ringen um Wählerstimmen überflüssig. Empört füllte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung unlängst fünf lange Spalten mit der Klage, der Wähler werde in diesem Wahlkampf nicht erst genommen. Als wenn er in Wahlkämpfen jemals ernst genommen worden ist. War die Jagd auf Wählerstimmen schon in der Vergangenheit zu einem großen Teil mit Augenauswischerei verbunden, weil die Wahlkämpfer ihre Versprechen ohnehin fast nie einhielten und nach dem Wahlabend ungerührt das machten, was sie schon lange vorhatten, unbeeindruckt vom Votum ihrer Wähler, entlarvt sie sich nun endgültig als eitle Kulissenschieberei – und gibt dem Ganzen damit sogar ein Stück Ehrlichkeit zurück. Denn wir wissen jetzt besser, wer das tatsächliche Sagen – unabhängig von allen Wahlergebnissen – hat, und lassen uns gefallen, dass der so genannte Wahlkampf zum lustigen Spiel wird – ganz angemessen der Spaßgesellschaft, die die derzeitige Koalition immerhin auch zustande gebracht hat.
Schließlich sind die Schlämmers und Sonneborns viel unterhaltsamer als die Politiker, was diese ganz genau wissen, weshalb einige von ihnen auch in die Comedy-Bütt steigen und – mangels Inhalten – mit jenen Reizen Aufmerksamkeit zu erregen versuchen, die die Reklamewelt längst als Schlüsselreize erkannt hat: Nacktes Fleisch und Albernheit. Verwundern sollte uns das eigentlich nicht, im Gegenteil. Solch ein Wahlkampf ist nichts anderes als die Fortsetzung der Show, zu der wir schließlich unaufhörlich animiert werden – im Kulturbetrieb, am Fernsehschirm, beim »Shoppen« und nun eben auch in der Politik. Brot und Spiele – das hat als politisches Konzept eine Jahrtausende alte Tradition; was wir heute erleben, ist nur seine konsequente Umsetzung in den Zeiten des uneingeschränkten Zugriffs auf die Lebenswelt der Menschen, die davor längst kapituliert haben. Und in der Regel sogar lustvoll.
„Auferstanden aus Ruinen“ – ob diese Hymne wohl auch irgendwann einmal für die untergegangene bundesdeutsche Parteiendemokratie zutreffen mag?