Heute abend werden wir das seltsamste Kanzlerkandidaten-Duell der bundesdeutschen Fernsehgeschichte erleben. Keinen Kampf mit scharfen Waffen natürlich, nicht einmal einen mit Wasserpistolen, sondern einen, bei dem die »Kontrahenten« wie zwei gut gelaunte, enge Freunde mit dem Zeigefinger aufeinander »schießen«, den Daumen aufgestellt und dann – peng, peng, peng – in die Luft geballert. Eigentlich müsste dann eine(r) irgendwann lachend die Arme heben, um die »Niederlage« einzugestehen – was es zwar nicht geben wird; ansonsten jedoch sendet das Fernsehen heute aus Berlin-Adlershof nicht mehr als ein »Duell« mit Fingerspitzengefühl.
Dass sich beide Kandidaten so verhalten, ist deshalb nicht überraschend, weil es ihren beiderseitigen Interessen entspricht. Beide wollen natürlich weiter regieren, aber sie wissen natürlich auch, dass dies am besten dann gelingt, wenn man möglichst wenig Verunsicherung dadurch schafft, dass man Veränderung ankündigt. Zwar artikuliert das Wahlvolk immer wieder Unzufriedenheit, aber da es auch nicht recht weiß, wie Besserung erreichbar ist, schickt es sich zugleich in die Verhältnisse und wird unruhig, wenn deren Umwälzung droht – zumal in eine ungewisse Richtung.
Spätestens am Wahlabend 2005 hat Angela Merkel das begriffen und mag froh gewesen sein, dass sie das angekündigte »Durchregieren« nit einem neoliberalen Programm nicht exekutieren musste. Später sah sie, wie nicht sie und ihre Partei, denen man Schlimmeres zugetraut hatte, sondern die SPD für die Mehrwertsteuererhöhung und die Rente mit 67 abgestraft wurde – mit der Folge, dass die Sozialdemokraten sich nun halbherzig und zögernd in eine Korrektivrolle gegen weitergehende antisoziale Forderungen des Unions-Wirtschaftsflügels schickten, was wiederum der Kanzlerin zupass kam, die solchem Begehr mit dem achselzuckenden Verweis auf den Koalitionspartner begegnen konnte.
Genau so will Angela Merkel weitermachen; am liebsten mit der SPD – was sie allerdings ihrer Partei nicht sagen darf. Daher ihre Bekenntnisse zur schwarz-gelben Koalition, und sei es mit einer Stimme Mehrheit. Gleichzeitig aber schlägt sie bereits Pflöcke ein, die für künftige freidemokratische Begehrlichkeiten Grenzen setzen: Keine Veränderung beim Gesundheitsfonds, keine Veränderung beim Kündigungsschutz, keine Mehrwertsteuerererhöhung, Rentengarantie. Auch wenn Schwarz-Gelb eine Mehrheit gewinnt, soll sich allzuviel nicht ändern, will sie signalisieren. Eine andere Frage ist natürlich, inwieweit ihr eine mit der FDP verbündete Union und vor allem die dahinter stehende Wirtschaftslobby dabei folgen. Es ist nicht auszuschließen, dass Schwarz-Gelb der Anfang vom Ende der Kanzlerschaft Merkels vor Ablauf der kommenden Wahlperiode sein könnte. Auch das erklärt ihren laschen Wahlkampf, der den Wechsel nicht provozieren will.
Die SPD ist noch stärker am »Weiter so« interessiert, hat sie doch keine andere Option zum künftigen Mitregieren. Ein Bündnis mit einer neoliberalen FDP war von vornherein illusorisch, da kontraproduktiv. Andere Möglichkeiten hat sich die Partei selbst verbaut. Sie kann nur hoffen, dass Schwarz-Gelb keine Mehrheit gewinnt und sie selbst nicht zu schlecht abschneidet, weil das Regierungsposten kosten würde. Beides verbietet die Attacke auf eine Politik, für die man selbst mitverantwortlich ist, und auf eine Kanzlerin, von deren Kulanz die künftige Stellung in einer Regierung nicht unwesentlich abhängen könnte.
Dass eine Beteiligung der drei Oppositionsparteien an der Fernsehdebatte diese spannender machen könnte, wie manche vermuten, ist durchaus nicht sicher. Immerhin gingen wenigstens zwei der Oppositionellen mit der Hoffnung in den Wahlkampf, an seinem Ende an den Regierungstisch gebeten zu werden. Vor allem die FDP brennt schon lange darauf und würde auf laute Töne gegen die Union gewiss verzichten, um ein künftiges Koalitionsklima nicht zu belasten. Als es die CSU vor einigen Wochen unternahm, die Freidemokraten etwas härter anzugehen, legte Guido Westerwelle sofort die harten Bandagen ab. Wichtiger noch als inhaltliche Korrekturen ist ihm die Regierungsbeteiligung – beinahe um jeden Preis. Ähnlich verhalten sich die Grünen schon lange gegenüber der SPD, wobei natürlich eine Rolle spielt, dass vieles, was bei den Sozialdemokraten kritikwürdig ist, auch die grüne Unterschrift aus den Zeiten gemeinsamen Regierens trägt.
Einzig die Linkspartei kann ohne Rücksicht auf künftige Konstellationen ihre Positionen vertreten – und tut das auch. Doch unter dem Strich könnte auch sie mit der Fortsetzung der großen Koalition leben; immerhin ist sie unter ihr groß geworden, und die Aussichten stehen gut, dass sich dies fortsetzt. Denn in vielen Fragen, die die Wähler durchaus interessieren, vertritt sie als einzige eine andere Position als die anderen vier – so zu Hartz IV, zum Rentenalter, zur Gesundheitspolitik, vor allem zum Krieg der Bundeswehr in Afghanistan. Unmittelbar politisch wirksam wird das (noch) nicht, aber ein mittelbarer Effekt ist offensichtlich. In den Wahlprogrammen der anderen Parteien findet sich zumindest manche Formulierung, die ursprünglich aus linker Feder floss. Diese Wirkung wird in dem Maße zunehmen und sich vielleicht auch materialisieren, wie die Linke am Wahltag an Stimmen zulegt.
Schon die Wortwahl bei dem medial hochgezogenen „Kanzler-Duell“ zwischen Merkel und Steinmeier ist irreführend. Wo und wie kann denn hier überhaupt von einem „Duell“ gesprochen werden, von etwa grundsätzlich anderslautenden politischen Positionen und Zielen? Nein, was Merkel und Steinmeier hier abgeliefert haben, ist eine groß angelegte Wählertäuschungs- und Ablenkungsaktion mit Hilfe einer beispiellosen „Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Journalisten“ und andere unredliche Meinungsmacher, die sich ihre Mäuler über Nichtigkeiten und Trivialitäten zerreißen und der Demokratie damit einen Bärendienst erweisen.
Wenn es Steinmeier und der SPD wirklich um eine andere Politikausrichtung ginge (das pflegen Bundestagswahlen als „Richtungswahlen“ nach parteioffizieller Lesart immer zu sein), wäre Steinmeier bei Zeiten aus dem Kabinett seiner „Chefin“ Kanzlerin Merkel ausgeschieden, um überhaupt echten Wahl-„kampf“ unabhängig von Kabinettsdisziplin und koalitionären Rücksichtnahmen führen zu können. Freilich hätte das den so geliebten Posten als Außenminister und Vizekanzler gekostet und der SPD wahrscheinlich auch die Regierungskoalition. So kämpft die neoliberale SPD nun also tapfer an den Interessen der eigenen Wählerschaft vorbei um die Wiederauflage der großen Koalition mit der Merkel-CDU. Aber darin haben ja die Sozialdemokraten aus Schröder-Zeiten hinreichend Erfahrung gesammelt.