Auch wenn es die total realitätsferne und zu einem Befreiungsschlag unfähige SPD-Führung nicht wahrhaben will: Die alleinige Schuld daran, dass Schwarz-Gelb demnächst die Macht übernimmt, trifft sie allein. Die strukturelle Mehrheit links vom so genannten bürgerlichen Lager, die bei den Wahlen 2005 trotz allen Unmuts über die Schrödersche »Agenda 2010« noch erreicht werden konnte, ist durch das Agieren der Müntefering, Steinmeier und Co. In der Koalition mit CDU und CSU verspielt worden. 2,1 Millionen Wähler, die 2005 noch für die SPD votiert hatten, blieben diesmal zu Hause und verschafften damit CDU, CSU und FDP ein Übergewicht über die drei anderen Parteien von fast 1,2 Millionen Stimmen. Vor vier Jahren hatten letztere noch mit über 2,8 Millionen Stimmen vor dem »bürgerlichen Lager« gelegen. Dieser Vorsprung wäre – wenn auch nur knapp – gehalten worden, hätten von den SPD-Anhängern nicht über zwei Millionen auf ihr Wahlrecht verzichtet.
Mehr als 6,2 Millionen Wähler hat die SPD durch ihr Abenteuer mit der großen Koalition eingebüßt. 870000 wechselten laut Infratest/dimap neben den genannten 2,1 Millionen, die hauptsächlich dafür verantwortlich sind, dass die Wahlbeteiligung auf den Tiefstwert von 70, 8 Prozent sank, gleich zur Union und weitere 500000 zur FDP; sie fanden wohl, dass die kaum noch erkennbaren Unterschiede der Sozialdemokraten zu den ursprünglich rechts von ihr stehenden Parteien eine solche Wahl sinnvoll erscheinen ließen. 1,1 Millionen gingen hingegen zur Linkspartei und 860000 zu den Grünen und blieben so dem Lager links von Schwarz-Gelb erhalten.
Das allerdings reichte nicht aus, den Aderlass nach rechts auszugleichen. Bei den Grünen dürfte vor allem ihre unklare Haltung zu künftigen Bündnissen viele ehemalige SPD-Wähler vom Wechsel abgehalten haben; zu häufig und zu vernehmlich sind inzwischen grüne Stimmen geworden, die sich dem »bürgerlichen Lager« andienen. Und die Linke hat noch immer mit ihrer Stigmatisierung als ehemalige DDR-Staatspartei zu kämpfen; nur sehr langsam wächst vor allem in den westlichen Bundesländern das Vertrauen in diese politische Formation, obwohl sie mit der alten SED inzwischen sehr wenig gemein hat. Welches Potential jedoch in ihr stecken könnte, hat vor vier Wochen die Landtagswahl im Saarland gezeigt. Hier, wo mit Oskar Lafontaine ein vertrauenswürdiger und äußerst populärer Politiker für die Linke warb, erreichte sie aus dem Stand 21,3 Prozent, nur gut drei Punkte weniger als die SPD. Besonders interessant war dabei nicht nur, dass die Linkspartei gegenüber den Wahlen zuvor 26000 Stimmen von der SPD und sogar 10000 von der CDU abgezogen hatte, sondern dass es ihr auch gelang, 43000 Nichtwähler wieder an die Urnen zu bringen. Damit leistete sie einen wesentlichen Beitrag dazu, die Wahlbeteiligung gegenüber 2004 von damals 55,5 auf wieder 67,6 Prozent ansteigen zu lassen.
Die Linkspartei scheint insofern derzeit am ehesten die Voraussetzungen dafür zu haben, die für die Aktivierung einer Mehrheit links von CDU, CSU und FDP unabdingbare Rückgewinnung der Nichtwähler zu bewältigen, zumal dann, wenn die SPD-Führung ungeachtet das immer schnelleren Niedergangs der Partei stur am »Weiter so« festhält – wie sie es gegenwärtig noch praktiziert.
Merkel und Westerwelle was soll das geben? Ob die sich zusammenraufen und was von deren beider Versprechungen vor der Wahl wohl übrig bleibt? Wir werden sehen.
Und dabei wären die Aussichten für die SPD – zumindest auf den zweiten Blick – gar nicht einmal so trüb, wie man nach diesem historischen Wahldebakel meinen könnte. Denn wenn Schwarz-Gelb (oder trefflicher: „Schwarz-Geld“, http://www.jjahnke.net/index.html) erst einmal anfängt mit den versprochenen bzw. angedrohten neoliberalistischen Reformen von Wirtschaft und Gesellschaft, werden manche der von Guidos flotten Sprüchen hinters Licht geführten Bürger ziemlich bald erkennen müssen, daß sie sich mit der Wahlentscheidung für die „Freiheit“ im Verständnis der Wirtschaftsliberalen ins eigene Fleisch geschnitten haben.
Und die „Mutter der Nation“ ohne eigenes inhaltliches Profil, Angela Merkel, wird sich von ihren Parteifreunden aus der konservativen Ecke ein solches aufprägen lassen müssen, denn die CDU hat ja auch ein überaus schlechtes Wahlergebnis eingefahren, was durch die Mega-Schlappe der SPD in den Hintergrund des allgemeinen Medieninteresses geraten ist.
Wenn, ja wenn die SPD nun das von vielen politischen Beobachtern nicht für möglich gehaltene Kunststück fertigbringen sollte, sich in der Opposition inhaltlich und personell tatsächlich glaubwürdig erneuern zu können, würde nicht nur Franz Münteferings Diktum „Opposition ist Mist“ widerlegt, sondern auch ein erster Ausweg aus dem bis dato für unvermeidlich gehaltenen Niedergang der linken Volkspartei SPD gewiesen sein.