Heute vor 20 Jahren hat Erich Mielke in der DDR-Volkskammer eine Rede gehalten, mit der er das Organ, das er 32 Jahre führte, der Lächerlichkeit preisgab. Es war dies der gleiche Erich Mielke, der in seiner Amtszeit aus dem Ministerium für Staatssicherheit einen schlagkräftigen Apparat gemacht hatte, von dem man kaum erwarten konnte, dass er binnen weniger Wochen total zusammenbricht. Noch heute rätseln viele, warum die Stasi, die jahrzehntelang in der DDR Furcht und Schrecken verbreitet hatte, fast ohne jede Gegenwehr von der Bildfläche verschwand – und das, obwohl sie unter den zu erwartenden neuen Verhältnissen mit Nachsicht nicht rechnen konnte. »Dass die erschöpften Fußtruppen des Systems von der totalen Sinnlosigkeit staatlicher Gewaltmaßnahmen durchdrungen waren«, wie die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung kürzlich schrieb, gehört gewiss zu den Gründen des überraschenden Verhaltens der »bewaffneten Organe der DDR«, erklärt es aber kaum hinreichend. Viel wahrscheinlicher ist schon, dass auch viele Stasileute – wie Polizei, Armee, Kampfgruppen usw. – das Vertrauen in ihre Führung verloren hatten und – weniger offen als insgeheim – mit den Demonstranten auf den Straßen sympathisierten.
Einen gewiss begrenzten Einblick in die Entwicklungen vor 20 Jahren gibt folgender Text, der 1992 in der Buch »Wolfs West-Spione. Ein Insider-Report« erschien. Zwar ist heute das damalige Geschehen gründlicher erforscht; dennoch kann diese alte Darstellung neben ihrem dokumentarischen Teil einiges zur seinerzeitigen Atmosphäre am Ende einer Epoche aussagen.
Der Zusammenbruch des DDR-Spionageapparates
An zwei Tagen des Jahres herrschte im Ministerium für Staatssicherheit eine besondere Geschäftigkeit – um den 7. Oktober, den Tag der DDR-Gründung, und den 8. Februar, den Jahrestag der Bildung des MfS. Aus diesen Anlässen fanden in allen Abteilungen und Arbeitsgruppen Dienstversammlungen statt, bei denen Orden, Medaillen und andere Auszeichnungen verliehen wurden. Wie vieles im Ministerium verlief auch dieser Tag nach Ritual. Die Anzugsordnung war exakt vorgeschrieben: Gedeckter Anzug mit Parteiabzeichen und kleiner Ordensspange. Die Damen hatten etwas mehr Freiheit. Ein Beauftragter des Abteilungsleiters hielt eine Rede, für die es eine Reihe von Sprachregelungen gab, so dass sich die meisten das Manuskript des Vorjahres heraussuchen ließen und meist nicht viel mehr als Daten und konkrete Bezüge änderten. Der Abteilungsleiter überreichte die Ehrungen, der Parteisekretär gratulierte, und danach wurde gefeiert. So lief das Jahr für Jahr ab – auch im Oktober 1989.
Zu diesem Zeitpunkt waren auch schon die Vorbereitungen auf den 8. Februar 1990 in vollem Gange. Immerhin war das der 40. Gründungstag des MfS und sollte gebührend begangen werden. Die Diensteinheiten hatten bereits ihre Auszeichnungskandidaten gemeldet, Kommissionen bereiteten die Feierlichkeiten vor. Es schien undenkbar, dass an jenem Tag nicht gefeiert würde! Und doch kam es so. Das Ministerium für Staatssicherheit – in vier Jahrzehnten entstanden und zu einem Machtfaktor ersten Ranges geworden, brach in weniger als vier Monaten zusammen. Geschichte im Zeitraffer.
Um den 7. Oktober 1989 waren »Schild und Schwert der Partei« noch kampfbereit. Die Demonstranten der Montage wurden mit brutalen Mitteln auseinandergetrieben. Zu den dabei agierenden »Sicherheitskräften« gehörten auch Mitarbeiter der Hauptverwaltung Aufklärung, das Spionageapparates der DDR – denn damals wurde alles mobilisiert, um den 40. Jahrestag der Gründung der DDR störungsfrei ablaufen zu lassen. Generalleutnant Wolfgang Schwanitz, viele Jahre Leiter der MfS-Bezirksverwaltung Berlin, danach als stellvertretender Minister für den Bereich »Operativ-technische Sicherstellung« (OTS) zuständig und von manchem als denkbarer Nachfolger des greisen Erich Mielke gehandelt, übernahm die Leitung des Einsatzes zur Absicherung der Jubelfeiern zum 7. Oktober.
Angesichts der in der Bevölkerung seit Monaten grassierenden Unruhe und der gewachsenen Konfliktbereitschaft von immer mehr Menschen sah er nur eine Möglichkeit, wenigstens für diese Tage eine gewisse »Beruhigung« zu schaffen – die Isolierung der Unzufriedenen und die Abschreckung vor weiteren demonstrativen Handlungen. Darauf beruhte die Orientierung, alle Demonstranten »zuzuführen« und dabei nicht zimperlich vorzugehen. Ob es nun stimmt, dass Erich Mielke – wie verschiedentlich behauptet – am 7. Oktober kurzzeitig den Einsatz inspizierte und dabei zu noch mehr Härte aufrief, ist unerheblich; auf jeden Fall gingen seine internen Weisungen genau in diese Richtung und wurden ausgeführt.
Die Mitarbeiter der HVA, aber auch viele MfS-Angehörige aus der Verwaltung und andere administrativen Bereichen, wurden erstmals in dieser Weise mit der Bevölkerung konfrontiert. Nicht wenige empfanden Unbehagen, verhielten sich passiv, soweit es ihnen möglich erschien, wichen auf Einsatzorte aus, die nicht im Zentrum des Geschehens lagen. Dies verstärkte sich noch, als aus Berichten der westlichen Medien der Umfang und die Unerbittlichkeit der Aktionen gegen friedliche Demonstranten bekannt wurden. In der HVA gingen zu diesem Zeitpunkt bereits empörte Berichte von inoffiziellen Mitarbeitern ein, die aus eigenem Anschauen oder durch ihre Kinder Kenntnis vom Geschehen auf den Berliner Straßen erhalten hatten und ihre Ablehnung zum Ausdruck brachten.
Dies beschleunigte auch im MfS, das bis dahin im Prinzip wie ein Mann zur »Partei-und Staatsführung« gestanden hatte, ein Differenzierungsprozess. Für viele »an der unsichtbaren Front« wurde erkennbar, dass die betriebene Politik letztlich nur scheitern konnte. Erstmals standen sie vor der Frage, ob sie sich mit in den Untergang reißen lassen wollten oder die Kraft finden würden, auf Veränderungen hinzuarbeiten. Die meisten waren angesichts dieser Alternative wie gelähmt – weder fähig zu echtem Widerstand noch bereit, das zerbrechende Regime zu retten.
Die Ereignisse der folgenden Tage – Absetzung Honeckers, Mittags und Herrmanns, Versuche der SED, mit halbherzigen Maßnahmen wieder in die Offensive zu kommen – förderten diese Passivität. Die meisten warteten ab, wie sich die Dinge entwickeln würden. Dies zeigte sich sowohl in der dienstlichen Leitung, die in totaler Sprachlosigkeit verharrte, als auch in der SED-Parteiorganisation, die im militärischen Organ MfS der einzige Ort für eine gewisse Selbständigkeit hätte sein können. Letztere jedoch hatte sich durch ihre strenge Orientierung an den Auffassungen der dienstlichen Leitung, was zuletzt gar die Verurteilung ihres früheren Chefs Markus Wolf einschloss, restlos diskreditiert. Wolf hatte auch in seiner früheren Wirkungsstätte aus seinem Buch »Die Troika« gelesen und über Diskussionen darüber berichtet. Der kritische Geist solcher Veranstaltungen missbehagte manchem, und als er dann auch noch in einem westlichen Fernsehsender das Verbot des Vertriebs der sowjetischen Zeitschrift »Sputnik« in der DDR kritisierte, war das Anlass zu offener Maßregelung. Der Parteisekretär der Aufklärung, Generalmajor Otto Ledermann, hielt ihm vor, es kämen Anrufe vom Zentralkomitee, der zentralen Parteikontrollkommission und vielen anderen, im Sekretariat der Kreisleitung müsse etwas gesagt werden, auch vor der Kreisleitung selbst. So berichtete Wolf später selbst darüber und verschwieg dabei nicht, dass er letztlich teilweise einlenkte. »Wenn es euch hilft«, so empfahl er Ledermann, »dann sagt einfach, ich wäre der Meinung, dass die Frage zum ›Sputnik‹ besser nicht gestellt worden wäre.«
Derselbe Ledermann klebte lange an seinem Sekretärsessel. Und als er ihn dann verließ, folgte er damit auch wieder nur einem Befehl von oben, der aber diesmal durch die Proteste von unten erzwungen wurde. Als sein Nachfolger war der schon lange für diese Funktion Auserkorene, Generalmajor Tauchert vorgesehen, aber die HVA-Mitarbeiter lehnten diesen Vertreter der gescheiterten alten Linie sofort ab – und auch er selbst hatte schließlich wenig Neigung, die undankbare Funktion zu übernehmen. Ein junger Oberstleutnant wurde zum Sekretär der SED-Organisation gewählt. Gegen den verknöcherten Apparat jedoch kam er nicht an, zumal nicht einmal die Parteiführung wusste, wie es weitergehen sollte. Das neue, für Sicherheitsfragen zuständige Politbüromitglied Wolfgang Herger konnte bei seinem Antrittsbesuch Ende Oktober 1989 auch nur mit Achselzucken auf die vielen Fragen der Aufklärer antworten. Die Lethargie des Apparates war vollständig.
Inzwischen aber handelte das Volk. Die Proteste gingen weiter, verstärkten sich. Forderungen an die Führung wurden immer unmissverständlicher und dringender formuliert. Am 4. November versammelten sich in Berlin 500 000 oder mehr und zeigten, wer zum Souverän in der DDR geworden war. Die vier Wochen zuvor noch so aktiven »Sicherheitskräfte« erwiesen sich nun schon als machtlos. Sie verfolgten die Massendemonstration am Fernsehgerät, denn der noch amtierende Minister für Staatssicherheit hatte für alle Mitarbeiter Anwesenheit in den Diensträumen befohlen, verbunden mit »erhöhter Einsatzbereitschaft«. Dabei wollten viele – zumindest aus heimlicher Sympathie – auf dem Alexanderplatz dabeisein.
Manche hatten damals noch die Hoffnung, es könne zumindest für die Hauptverwaltung Aufklärung eine Zukunft geben. Immerhin gehörte ihr langjähriger Chef Markus Wolf zu den Rednern auf dem Alexanderplatz, war die Aufklärung erstmals aus ihrer Konspiration getreten und hatte sich der Öffentlichkeit gestellt. Am 17. November gab die Regierung Modrow dem Ministerium für Staatssicherheit einen neuen Namen – Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) – und einen neuen Chef – eben jenen Wolfgang Schwanitz, der sich in den Oktobertagen einschlägig ausgezeichnet hatte. Für die Leitung des fortbestehenden Apparates und damit auch der HVA war das Grund, an eine nahtlose Fortsetzung der bisherigen Arbeit zu glauben. Das aber stand in scharfem Widerspruch zu den Erwartungen des Volkes, aber auch vieler Mitarbeiter und ihrer inoffiziellen Partner. Nicht zuletzt aus dem Operationsgebiet trafen auf verschiedenen Wegen dringende Anfragen ein, die Zweifel und Unverständnis ausdrückten – und zugleich Forderungen nach radikaler Kursänderung. So schrieb ein Kundschafter, er sei 1970 aus politischer Überzeugung bereit gewesen, für die HVA zu arbeiten. Er habe das Ideal einer anderen, besseren Gesellschaft und wollte dafür etwas tun. Die Unterstützung der Politik der DDR sei für ihn eine solche Möglichkeit gewesen; jetzt aber fürchte er, einem riesigen Irrtum aufgesessen zu sein. Er wolle nicht, dass sein Ideal zerbricht. Er flehe darum, dass die HVA mit ihren Mitte!n etwas tut, damit die Alternative auf deutschem Boden nicht untergeht. Das war eine legitime Erwartung; zugleich aber wurden die Möglichkeiten der HVA in tragischer Weise überschätzt.
Viele Mitarbeiter aber fühlten sich davon angesprochen und formierten einen vorsichtigen Widerstand, der sich jedoch vor allem gegen Missstände im eigenen Haus richtete. Mit ihrer Kritik an den seit langem missbilligten Privilegien der Leiter hatten sie sogar Erfolg. Die Sonderläden zur besseren Versorgung der »Nomenklatur-Kader« wurden schnell abgeschafft, die dienstlichen West-PKW (Volvo und Fiat) gegen Lada-Modelle ausgewechselt, die medizinische Sonderbetreuung aufgehoben. Plötzlich aßen alle MfS-Angehörigen – ungeachtet des Dienstgrades – im gleichen Saal zu Mittag. Über diesen lächerlichen Erfolgen verschwand beinahe das Hauptanliegen, die Änderung der Politik. Doch die ersten Erklärungen ihres neuen Amtschefs wie auch der letzte Auftritt ihres früheren Ministers holten sie schnell in die Wirklichkeit zurück – und die lautete für die MfS-Führungsriege: Kleine Zugeständnisse machen und damit das große Ganze retten!
Während Mielke am 13. November, in seiner ersten und letzten Rede vor der Volkskammer, vehement und zugleich grotesk seine Arbeit verteidigte, bei der »die Vertretung der Interessen der Werktätigen stets oberster Auftrag« gewesen sei, tat Schwanitz so, als beginne er beim Punkte Null. Mielke habe ihm nur zwei leere Stahlschränke hinterlassen. Zugleich aber strapazierte er die alten Schlagwörter von der unverzichtbaren staatlichen Sicherheit. Tatsächlich neue Ideen waren nirgends zu entdecken.
Die Mitarbeiter der HVA reagierten mit einer Demonstration auf ihrem Dienstgelände. Nach Feierabend, in der Dunkelheit, versammelten sich einige Mutige gegen den dringenden Rat der meisten ihrer Vorgesetzten und stellten die Frage, ob der neue Name nur die Beibehaltung der alten Inhalte kaschieren sollte. Denn in ihren Augen versuchte das AfNS, seine alten Machtpositionen zu erhalten; auch die Richtung seiner Arbeit – die Opposition, welche mittlerweile das gesamte Volk erfasste – blieb, von einigen kosmetischen Korrekturen abgesehen, unverändert. Weder wurde offen und selbstkritisch zu den Gesetzesverletzungen der ferneren und jüngsten Vergangenheit Stellung genommen, noch fand überhaupt eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des MfS statt. Mit Pauschalverweisen auf eine »falsche Sicherheitsdoktrin«, die das Politbüro und namentlich Mielke zu verantworten hätten, schien es manchem getan. Auch für die »internen Demonstranten« gab es keine Antworten. Schwanitz versicherte lediglich, Tag und Nacht zu arbeiten. Als er ausgepfiffen wurde, zog er sich zurück.
Seine wie auch die Arbeit vieler anderer Generäle lief offensichtlich darauf hinaus, die alten Strukturen möglichst unverändert in die neue Zeit hinüberzuretten. Auch in der HVA wurden derartige Pläne geschmiedet. Und sie schienen sogar nicht chancenlos, akzeptierte doch die Bürgerbewegung die Aufklärung als besonderen Teil des MfS, der weitgehend in Ruhe gelassen wurde. Doch auch diese – objektiv wohl schon damals unrealistische – Chance wurde nicht genutzt.
Inzwischen waren die Mitarbeiter immer aufsässiger geworden. Als Ende November der SED-Sonderparteitag näher rückte und überall die Delegierten für die Vorbereitungskonferenzen der verschiedenen Ebenen gewählt wurden, geschah es erstmals, dass die Regie von oben nicht klappte. Statt sorgsam ausgesiebter Delegierter – wie in den Vorjahren – wählten die Parteimitglieder weitgehend ihre eigenen Kandidaten. Das Abonnement der hohen Dienstgrade auf einen solchen »Ehrenplatz« war vorbei. Das galt auch für den Parteitag. Hier konnte zwar Großmann noch knapp über die Hürde kommen, aber sein Vorgänger Wolf bekam bedeutend mehr Stimmen als er. Doch Konzepte, wie es weitergehen sollte, waren noch immer nicht zu vernehmen. Selbst der »Hoffnungsträger« aller Aufklärer, Markus Wolf, hielt sich bedeckt. »Ich habe dem ZK meine Vorstellungen schriftlich vorgelegt«, beschied er Frager.
Tatsächlich brüteten zu jener Zeit Leiter der HVA intensiv über ihre Zukunft. Dabei konnten sie sich aber von alten Doktrinen nicht befreien, und für die neuen Herausforderungen wussten sie keine praktikablen Antworten. Sie dachten weiter in den alten, zementierten Bahnen der Vergangenheit. Die Ausgangsüberlegung war: Ein Nachrichtendienst wird immer gebraucht. Er müsste von allem ideologischen Ballast befreit werden und sollte gewissermaßen als professionelles Dienstleistungsunternehmen fungieren. Schon beim Dienstherr aber schieden sich die Geister. Die einen – sie glaubten damals noch an ein Überleben der DDR – sahen deren Regierung in dieser Funktion; ihr wurde Interesse an internen Informationen aus dem Ausland a priori unterstellt. Andere aber ahnten die kommende Entwicklung und wollten aufs richtige Pferd setzen. Sie dachten vor allem an die erkleckliche Mitgift, die die HVA in Form von Personen und konspirativem Wissen in jede Ehe einbringen konnte und planten, die Positionen im Ausland dem Bundesnachrichtendienst übergeben; die Quellen im Westen Deutschlands sollten natürlich stillgelegt und amnestiert werden. Einige wenige setzten diese Variante auf eigene Faust sofort selbst um.
Nicht ganz klar war bei beiden Modellen, gegen wen sich künftig die Spionage richten sollte. Bei der zu erwartenden engen Zusammenarbeit mit der BRD war eine Fortführung ihrer Ausspähung, zumal in der bisherigen Größenordnung, undenkbar. Sie würde also eingestellt werden; an ihre Stelle sollte eine verstärkte Geheimdienst-Tätigkeit in der dritten Welt und in den wichtigsten westlichen Staaten treten. Bei der Variante eines Zusammengehens mit dem BND waren auch diese Vorstellungen nur begrenzt realisierbar, denn der bundesdeutsche Nachrichtendienst brauchte vor allem Quellen im Osten. Die der HVA saßen jedoch ausschließlich im Westen, allenfalls noch in Dritte-Welt-Staaten.
Über diesem Pläneschmieden ging die Entwicklung außerhalb der Normannenstraße stürmisch weiter. Am 3. Dezember wurde als erste MfS-Bezirksverwaltung die in Erfurt besetzt. In der Nacht auf den 4. Dezember begann auch in Leipzig – nach einer der berühmten Montags-Demos – die Sicherung der dortigen Stasi-Unterlagen. Weitere Bezirksstädte folgten. Der zentrale Runde Tisch, der sich am 7. Dezember konstituierte, musste sich gleich in seiner ersten Sitzung mit dieser Entwicklung befassen. Er verlangte als erstes die Sicherung aller Unterlagen und forderte dazu die Ablösung der Objektbewachung, soweit sie noch in der Verantwortung des Wachregiments »Feliks Dzierzynski« lag, durch Kräfte des Ministeriums des Innern. Die zweite Forderung betraf die Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit unter ziviler Kontrolle. Während die Bewachung durch die Deutsche Volkspolizei unmittelbar einsetzte, folgte die Regierung Modrow dem Verlangen nach Auflösung des Geheimdienstes am 14. Dezember nur zögernd. Denn zugleich wurde der Aufbau zweier neuer Dienste bekanntgegeben – eines Verfassungsschutzes und eines Auslandsnachrichtendienstes. Die Trennung der HVA vom Abwehrapparat, die auch im Herbst 1989 trotz zahlreicher entsprechender Vorschläge der Aufklärer nicht zustande gekommen war, sollten nun vollzogen werden.
Die Leitung der HVA und auch eine Reihe von Mitarbeitern schöpften neuen Mut. Als am 21. Dezember Ministerpräsident Modrow mit den Vertretern der Armee, des Innenministeriums und des in Auflösung befindlichen AfNS das weitere Vorgehen beriet, forderte Großmann für den künftigen Auslandsnachrichtendienst mit 4000 Mann kaum weniger, als er zu jenem Zeitpunkt offiziell umfasste. In der gesamten vorherigen Diskussion hatte sich niemand zu radikalen Kürzungen des Personalbestandes durchringen können. Noch aber hatte die HVA eine Gnadenfrist. Die Arbeitsgruppe Sicherheit des Runden Tisches sprach sich zwar am 27. Dezember gegen einen Verfassungsschutz aus, äußerte aber zu dem geplanten Spionagedienst keine Meinung. Für die Sitzung des Runden Tisches am 15. Januar bereitete man ein Konzept vor, das das Überleben der HVA faktisch sicherstellen sollte.
Wolf, Großmann und andere führende Vertreter der Leitung hofften, dass die unsichere Haltung der Bürgerrechtler, wie die Aufklärung zu bewerten und zu behandeln sei, ihnen ein Comeback ermöglichen würde. Sie hatten ein leidliches Verhältnis zu den Vertretern der Bürgerbewegung hergestellt, das seitens letzterer gewiss aus dem Respekt vor den Aufklärern im Operationsgebiet herrührte, aber wohl auch aus der Unkenntnis über die Verstrickung der HVA in den Gesamtorganisrnus des MfS. Je mehr darüber bekannt wurde, desto kritischer wurde auch die Haltung der Bürgerrechtler gegenüber dem Spionagebereich des Ministeriums. Und insofern war die Hoffnung auf ein Weiterbestehen von vornherein Illusion; sie basierte darauf, dass die eigenen Sünden verschwiegen werden könnten oder aber eine differenzierte Betrachtung des Gesamtphänomens Staatssicherheit Platz greift. Beides war kaum zu erwarten, das Ende der DDR-Aufklärung somit vorprogrammiert.
Heute wird von ehemaligen Mitarbeitern der Hauptverwaltung Aufklärung oft darüber spekuliert, ob ein klügeres, die kommende Entwicklung weitsichtiger einbeziehendes Vorgehen den Zusammenbruch der DDR-Spionage hätte verhindern können – ein angesichts der Gesamtentwicklung wohl müßiges Unterfangen. Sinnvoller ist da schon die Frage, inwieweit mehr Offenheit, mehr Schonungslosigkeit gegenüber der eigenen Vergangenheit und weniger Taktieren im Umgang mit der Bürgerbewegung und der Modrow-Regierung zwar nicht den ohnehin obsoleten Apparat hätte retten, aber vielleicht den Mitarbeitern der Aufklärung einen besseren Abgang hätte verschaffen können. Das Zögern und Zaudern, die nutzlose Suche nach einem Ausweg, der einem die radikale Selbstbefragung erspart – all das hat wohl nicht ganz zu Unrecht das ohnehin latent vorhandene Misstrauen gegenüber der HVA anwachsen lassen. Und auf der anderen Seite wurde versäumt, vorurteilsfrei auf die Aufklärung zu blicken, sie differenziert mit ihren Verstrickungen in den MfS-Apparat , aber auch ihren Unterschieden von diesem zu betrachten. All das hat schließlich den Zusammenbruch und eine chaotische Hinterlassenschaft des DDR-Spionageapparates bewirkt.