Nur hin und wieder, meist eher zufällig, wird in der aktuellen Debatte über den Kindesmissbrauch in Einrichtungen der katholischen Kirche deren Hauptproblem berührt – die Anmaßung des Katholizismus, sich ein eigenes Gesetz neben der und gegen die Staatsgewalt zu machen. Kommt dieses Thema ins Blickfeld, drehen die Beobachter – Politiker wie Mainstream-Medien – meist ab. Und wenn es jemand – wie Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger – doch thematisiert, dann richtet sich plötzlich die Kritik gegen solche »Respektlosigkeit« gegenüber der katholischen Kirche.
Das erstaunt umso mehr, als ansonsten der Staat eifersüchtig darüber wacht, sein Gewaltmonopol gegenüber jedermann durchzusetzen; gerade das wird – durchaus mit Berechtigung – zu einem Merkmal des Rechtsstaats erklärt und Praktiken in anderen Gesellschaften mit hohem moralischen Anspruch gegenüber gestellt. Man denke nur an den Vorwurf gegenüber dem Islam, sein religiöses Recht der Scharia staatlichem Recht – wo auch immer – entgegenzustellen.
Wenn aber die katholische Kirche die Forderung erhebt (und selbst im Rechtsstaat Bundesrepublik durchsetzt), dass sie bestimmte Vergehen, die nach dem bürgerlichen Gesetzbuch Straftaten sind, in eigener Verantwortung regelt, dann wird dies mit außerordentlicher Nachsicht behandelt – bis heute. Das anschaulichste Beispiel dafür bietet der aktuelle Fall jenes Priesters, der 1980 nach sexuellen Übergriffen auf Jugendliche von der katholischen Kirche dem Zugriff des Staates entzogen und ins Erzbistum München und Freising versetzt wurde. Hier residierte zu jener Zeit der Erzbischof Joseph Ratzinger, schon damals als besonders harter Befürworter katholischer Eigenständigkeit bekannt. Unter seiner Ägide war es undenkbar, dass ein solcher Fall vor den Staatsanwalt kam, ob er nun an der Entscheidung selbst beteiligt war oder nicht. Auch eine Therapie hielt man für überflüssig.
Prompt wurde der Priester erneut straffällig, und 1986 war ein staatliches Verfahren nicht mehr zu umgehen; er wurde zu achtzehn Monaten mit Bewährung verurteilt. Doch selbst dieses milde Urteil – heute wird in solchen Fällen oft undifferenziert von »Wegsperren für immer« gesprochen – erkannte die katholische Kirche offensichtlich nicht an, denn der Priester wurde weiter in der Seelsorge eingesetzt, konnte mit Jugendlichen arbeiten – bis 2008. Was in dieser Zeit geschah, warum er vor zwei Jahren dann doch von seinen Aufgaben entbunden wurde, darüber schweigt sich die katholische Kirche aus, findet es aber zugleich verleumderisch, dass diesbezüglich Fragen gestellt werden.
Ratzinger, inzwischen zum Papst aufgestiegen, war 1982 nach Rom gegangen, an den Entscheidungen danach also nicht mehr beteiligt gewesen, womit der Vatikan seine scharfen Attacken gegen Kritiker, aber auch Fragesteller begründet. Doch dass bei diesem Vorgang so vieles unklar ist, hat eben auch damit zu tun, dass die gebotenen staatlichen Ermitlungen nur unzureichend zugelassen wurden. Die katholische Kirche regelte das weitgehend nach ihren internen Gesetzen, entsprechend ihrer eigenen »Scharia«, der Scharia des Katholizismus.
Man kann sicher sein, dass solche Nachsicht gegenüber gewöhnlich sterblichen Straftätern nie geübt worden wäre. Und man muss die Frage stellen, ob es nicht erforderlich ist, all den Beteiligten aus der katholischen Kirche bis hinauf zum damaligen Münchener Erzbischof Fragen zu stellen – in einem ordentlichen, rechtsstaatlichen Ermittlungsverfahren, inwieweit sie sich der Beihilfe, zumindest aber der Strafvereitelung schuldig gemacht haben. Vielleicht können sie tatsächlich ihre Unschuld beweisen, aber das – wie bei jedem anderen – nur nach gründlicher Prüfung durch die dazu im Rechtsstaat allein befugten Stellen.
Und in der Konsequenz muss Schluss ein mit jeglicher innerkirchlichen Vorprüfung, was an die Staatsanwaltschaft weitergegeben wird und was nicht. So wie auch ansonsten bei begründetem Verdacht ermittelt wird, ist dies bei Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche durchzusetzen. Diesen gibt es natürlich nicht nur bei ihr, aber sie ist offensichtlich die einzige Institution, die sich das Recht herausnimmt – und der es bislang sogar zugebilligt wird, selbst zu entscheiden, wann diesbezüglich eine Straftat vorliegt und wann nicht. Selbst die besonders kirchentreuen, hier aber auch besonders betroffenen bayerischen Katholiken haben offensichtlich inzwischen Zweifel, dass sie in einem Rechtsstaat leben.
Man darf bitte nicht vergessen, dass die CDU/CSU, die unsere Bundesrepublik in ihrem 60-jährigen Bestehen fast 50 Jahre lang regiert hat, sich als Partei der Kirche gegründet hat! Hervorgegangen aus dem Zentrum, das sich ja explizit als Partei der Katholiken verstand, hat sie sich nach dem 2. Weltkrieg auch zur evangelischen Kirche geöffnet – welch letztere aber nie beansprucht hat, ihre eigenen Gesetze über den Staat zu stellen – , aber als christlich im Sinne von „Kirchlich“ hat sie sich immer bekannt. Wen wundert also die Haltung heute? Die ist zwar total gegen das Grundgesetz – bei dessen Zustandekommen Gottseidank auch andere nicht klerikale Parteien etwas zu sagen hatten! – , aber sie entspricht absolut ihrem Selbstverständnis. Die wenigen alten Liberalen, von denen Leuthäuser-Schnarrenberger die letzte in einem politischen Amt ist, sind in der Koalition da ein sehr schwaches Korrektiv.