Bereits seit Wochen überschlagen sich viele Medien in ausführlichen Würdigungen des »deutschen Staatsmannes«, des »Kanzlers der Einheit«, des »Architekten Europas«. Helmut Kohl, den sie während seiner Amtsjahre oft mit Hohn und Spott bedachten, ist zu einer solchen Lichtgestalt geworden, dass seine Schattenseiten fast zur Unkenntlichkeit verblassen. Doch fernab aller Mythenbildung ist Kohl ein Mensch, der mit seiner Lebensleistung nur sehr begrenzt zufrieden sein kann.
Karriere ohne Krönung
Jenseits aller Legenden ist es Helmut Kohls Machtstreben, das sein Bild in der Geschichte verdunkelt. Am Sonnabend wird er 80 Jahre alt
Der vielleicht sehnlichste Wunsch Helmut Kohls zu seinem 80. Geburtstag an diesem Sonnabend, die Aussöhnung mit seiner Partei, also die Rückkehr in den Ehrenvorsitz zu seinen Bedingungen, dürfte unerfüllt bleiben. Zwar gibt es in konservativen Kreisen der CDU diese Sehnsucht seit langem, und auch jetzt meldeten sich einige besonders treue Anhänger des einstigen Patriarchen diesbezüglich zu Wort. Aber die amtierende Vorsitzende Angela Merkel erteilte solchem Ansinnen eine ungewöhnlich entschiedene Absage. »Diese Frage stellt sich nicht mehr«, sagte sie ausgerechnet in einem Interview zum bevorstehenden Jubiläum kurz und knapp und mit etwas gequältem Lächeln.
Helmut Kohl ließ in gewohnt barscher Manier streuen, er wolle den Ehrenvorsitz auch gar nicht mehr; dazu dürfte er einen seiner beleidigten Sprüche von der Undankbarkeit der Welt abgelassen haben. »Man beißt die Hand, die einen füttert«, sagte er gern über einstige Kampfgefährten, die ihm angeblich alles verdankten und doch nicht mit ihm durch jeden Sumpf waten mochten. Oder seine wiederholte Klage, in der Politik könne man Dankbarkeit nicht erwarten. Damit spricht er Wahrheiten aus, die er sehr entschlossen auch für sich selbst zu nutzen verstand. Macht reizte ihn von Anfang an. Sehr früh hatte er das Bundeskanzleramt im Visier, aber schon 1970 nannte er es »ein Amt, das voller Schrecken, voller Eiseskälte der Distanz ist und sehr stark die menschliche Nähe und die menschliche Wärme entbehrt«.
Da war er bereits seit zehn Jahren in der CDU von Rheinland-Pfalz aufgestiegen, hatte den langjährigen Landesvorsitzenden Peter Altmeier entthront und dessen 22-jährige Regierungzeit als Ministerpräsident beendet. Doch der Sohn eines Finanzbeamten, der sich das Studium der Geschichte sowie Staats- und Rechtswissenschaften durch Jobben im BASF-Konzern teilweise selbst erarbeitete, strebte in die Bundespolitik.
Beim ersten Anlauf, CDU-Vorsitzender zu werden, scheiterte er an Rainer Barzel. 1973 war es dann so weit, und drei Jahre später griff Kohl auch zur Kanzlerkandidatur, machte die Union zur stärksten Fraktion im Bundestag. Noch musste er auf sein Traumamt warten, denn die FDP hielt an der Koalition mit der SPD fest. Er überstand Konflikte mit dem CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß und dessen erfolglose Kanzlerkandidatur 1980 und warb zugleich verstärkt um die FDP, was schließlich von Erfolg gekrönt war. Am 1. Oktober 1982 begann Helmut Kohls 16-jährige Regierungszeit.
Schon bald aber erwies sich, dass der Katholik zwar viel vom Handwerk des Machtgewinns und Machterhalts verstand und dabei seinen scharfen Intellekt wie einen starken Willen einsetzte, es jedoch nicht gleichermaßen vermochte, langfristige politische Konzepte zu entwickeln und für heranreifende Probleme rechtzeitig Lösungen zu suchen. In den Anfangsjahren halfen ihm seine Vertrauten, zu denen Bernhard Vogel, Heiner Geißler, Norbert Blüm, Kurt Biedenkopf, zeitweilig auch Richard von Weizsäcker und Roman Herzog gehörten und die ihm damals durchaus widersprechen konnten bei der Suche nach dem erfolgversprechenden Weg. Später aber traf Kohl seine Entscheidungen zunehmend allein, wollte von seinen Ratgebern vor allem Bestätigung.
So begann seine Kanzlerschaft mit sieben mageren Jahren und einem – wesentlich von der FDP erzwungenen – Schwenk der Wirtschaftspolitik weg vom so genannten rheinischen Kapitalismus und hin zum Marktradikalismus. Durch Absenkung von Sozialstandards, die vor allem Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Rentner und Familien trafen, sollten die Unternehmen entlastet und neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Tatsächlich aber blieb die Arbeitslosigkeit, die 1983 bei 9,1 Prozent lag, auf hohem Niveau (1989: 7,9 Prozent). Innenpolitisch machte die Regierung Kohl vor allem durch Affären (Entlassung des angeblich homosexuellen Generals Kießling, Flick-Parteispendenskandal mit Kohls »Black-out« im Untersuchungsausschuss) und den schleichenden Abbau der Bürgerrechte (Demonstrationsrecht, Asylrecht, Kronzeugenregelung) auf sich aufmerksam, außenpolitisch durch den Raketen-Nachrüstungsbeschluss und einige Peinlichkeiten wie Kohls Vergleich von Gorbatschow mit Goebbels und die Inszenierung deutsch-amerikanischer Versöhnung mit Ronald Reagan auf dem Soldatenfriedhof Bitburg.
Nach Stimmenverlusten der CDU bei der Bundestagswahl 1987 formierte sich eine innerparteiliche Opposition, die zwei Jahre später unter Führung von Heiner Geißler, Rita Süssmuth und Lothar Späth den Aufstand probte. Kohl jedoch saß die Revolte wie schon einige vorherige Affären aus und wurde letztlich durch den Niedergang der DDR gerettet. Dabei schien es zunächst, als werde er diese Herausforderung nicht bewältigen. Als die Mauer fiel, war er wie alle überrascht und eilte aus Warschau an den Ort des Geschehens. Dort, am Schöneberger Rathaus im Westteil Berlins, schlug ihm lärmende Ablehnung entgegen. Doch nun war er wieder ganz der alte Instinktpolitiker, erkannte die Schwäche des anderen deutschen Staates und mobilisierte kompromisslos die wirtschaftliche und finanzielle Potenz der Bundesrepublik, um innen- wie außenpolitisch den Beitritt der DDR durchzusetzen.
Fast im Alleingang ergriff er mit seinem Zehn-Punkte-Plan Ende November 1989 die Initiative und bewies danach außerordentliches Gespür für die sich dramatisch ändernde Stimmungslage in der DDR. Schritt für Schritt steigerte er seine Forderungen an deren verunsicherte Führung und nutzte den Druck der ostdeutschen Bevölkerung auch dazu, international den Boden für die Vereinigung zu bereiten. Er bewies Augenmaß, indem er die Oder-Neiße-Grenze anerkannte. Er zog die ökonomischen Schwierigkeiten der Sowjetunion ins Kalkül und verschaffte deren Präsident Michail Gorbatschow kurzzeitige Entlastung. Und er überließ es US-Präsident George Bush, die NATO-Mitgliedschaft eines geeinten Deutschland durchzusetzen. Mit Recht bilanzierte Kohl vor einem halben Jahr, der Tag der deutschen Einheit sei für ihn »der wichtigste Tag in meiner politischen Karriere … und er wird in diesem Leben nie mehr übertroffen«. Damals, vor 20 Jahren, legte den Grundstein für acht weitere Regierungsjahre.
Aber erneut versagte Helmut Kohl beim langfristigen Gestalten einer von ihm herbeigeführten politischen Situation. Zwar boomte zunächst die westdeutsche Wirtschaft, doch im Osten brach die Industrie weg, was hier zu einer Massenarbeitslosigkeit führte, die 1998 die 20-Prozent-Marke überschritt. Kohls von der FDP wesentlich vorgegebener Kurs auf Steuerentlastungen für Unternehmen bei gleichzeitig forciertem sozialen Kahlschlag lösten zwar nicht die ökonomischen Probleme, verschärften jedoch das soziale Klima und führten schließlich zur Abwahl von Schwarz-Gelb 1998. Daran konnte auch die außenpolitische Bilanz nichts ändern, die neben Kohls Engagement für die europäische Einigung mit der Beteiligung am NATO-Krieg gegen Jugoslawien den ersten deutschen Militäreinsatz nach dem Zweiten Weltkrieg aufweist.
Helmut Kohl, der so sehr um seine Rolle in der Geschichte besorgt ist, hat letztlich nicht zu erreichen vermocht, dass vor allem die unbestreitbaren Erfolge sein Bild für die Nachwelt prägen werden. Besonders der Umgang mit dem CDU-Spendenskandal, der bald nach seinem Abgang als Kanzler und Parteichef publik wurde, warf einen tiefen Schatten nicht nur über seinen 25-jährigen CDU-Vorsitz, sondern auch über seine Kanzlerschaft. In seinem Machtstreben ließ er sich durch Gesetze und Regeln wenig stören, am wenigsten beim Umgang mit dem begehrten »Bimbes« – dem Geld also, das für Kohl ein entscheidendes und legitimes Element politischen Handelns war, nach innen wie außen. Diesbezügliche Kritik konnte er nie verstehen. Und so sah er im Untersuchungsausschuss zum Parteispendenskandal allein ein Instrument, seine Person und Leistung herabzuwürdigen. Seiner Partei verzieh er nicht, dass sie in dieser Frage nicht zu ihm stand. »Wenn jemand von draußen angegriffen wird, dann muss man zu ihm stehen, ihn verteidigen«, formulierte er einmal sein Credo. »Dann die Tür zumachen und untereinander besprechen, was man von der Sache hält.«
Zuletzt wurde es ziemlich still um den Alt-Kanzler. Er musste persönliche Schicksalsschläge hinnehmen – den Freitod seiner an einer grausamen Krankheit leidenden Ehefrau, einen Schlaganfall, einen schweren Sturz, der ihn seither an den Rollstuhl fesselt, zuletzt eine Gallenoperation, von der er sich nur mühsam erholt. Nachdenklicher ist er jedoch nicht geworden; noch immer schlägt er die alten Schlachten gegen längst ermattete ideologische Gegner, rechnet mit einstigen Kontrahenten ab. So im letzten Herbst, als ihm zum 20. Jahrestag des Mauerfalls vor allem eins Befriedigung bereitete: »Wenn ich daran denke, wer alles gegen die Einheit war, ist es mir ein Genuss zu sehen, wer heute alles dafür ist.«
Helmut Kohls Bilanz ist äußerst zwiespältig. Das »starke langsame Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß«, wie Max Weber Politik definierte, war seine Stärke nicht. Strategisches Denken, so sagte Kurt Biedenkopf über ihn, sei ihm suspekt gewesen, »weil er Strategien als Selbstbindungen empfindet«. Er verließ sich auf seine Intuition und suchte den schnellen Erfolg aus der günstigen Situation heraus, wozu ihm oft jedes Mittel recht war. Machterhalt ging vor Nachhaltigkeit. Das hat ihm im politischen Tageskampf lange genützt, verdunkelt aber sein Bild in der Geschichte. Er selbst war es, der seiner Karriere die Krönung versagte.
(Veröffentlicht in: Neues Deutschland vom 01.04.2010)
In dürftiger Zeit wird selbst die „Birne Helmut“ zu einer Lichtgestalt.