Mit großer Empörung hat die US-Regierung auf einen urdemokratischen Vorgang reagiert – die Aufklärung der Öffentlichkeit über die Regierungspolitik. Die Publizierung von fast 400000 geheimen amerikanischen Dokumenten durch die Internet-Plattform Wikileaks über den Irakkrieg gefährde Menschenleben, erklärten der oberste Stabschef der US-Streitkräfte und Außenministerin Clinton gleichermaßen – ohne freilich Belege dafür zu erbringen. Eilfertig stimmte auch NATO-Generalsekretär Rasmussen nach einem Gespräch mit Angela Merkel in den von der westlichen Vormacht angestimmten Chor ein. Die Veröffentlichung könne »Soldaten und auch Zivilisten in Gefahr bringen«.
Möglich ist das sogar, und wenn es sich um Täter handelt, die sich schwerster Kriegsverbrechen schuldig gemacht haben, dennoch aber weder von der amerikanischen noch von der irakischen Justiz verfolgt werden, ist es sogar wünschenswert. Dabei geht es nicht um die Rechtfertigung irgendwie gearteter Selbstjustiz, sondern um die Herstellung von Gerechtigkeit gegenüber den Opfern. Wenn sich die USA wie der Irak wie Rechtsstaaten verhielten, würden sie die Mörder und Folterer in ihren Reihen nicht schützen, sondern durchsetzen, dass sie sich vor ordentlichen Gerichten verantworten. Das lehnen beide ab; vor allem die USA kämpfen seit Jahren auch vehement dagegen, dass die internationale Gerichtsbarkeit, die sie gern gegen andere Staaten einsetzen, auch Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen von US-Amerikanern ahndet.
Ging es darum, Kriegsverbrecher der Balkankriege der 90er Jahre zu jagen und vor das Tribunal in Den Haag zu bringen, konnte das Engagement der NATO, der EU und ihrer Mitgliedsstaaten nicht groß genug sein. Serbien wurde und wird sogar als Staat weitgehend geächtet, weil es nicht entschieden genug gegen auf seinem Territorium vermutete Kriegsverbrecher vorgeht. Die Untaten von Soldaten und Befehlsgebern des Verbündeten USA jedoch werden unter den Teppich gekehrt und die Aktivitäten der Aufklärer über solche Verbrechen oftmals mit unverhohlener Missbilligung kommentiert. Auch wer sich vehement für die Offenlegung der Stasi-Akten in der DDR einsetzte, kann jetzt nicht glaubwürdig verlangen, dass US-amerikanischer Geheimdienstberichte unter Verschluss bleiben – zumal es dabei um ganz andere Dimensionen als jene geht, die die Birthler-Behörde verwaltet.
Wieder einmal erweist sich an der Kritik an Wikileaks, wie sehr vergleichbare Vorgänge nach unterschiedlichen ideologischen Maßstäben bewertet werden. Was im Lager vermuteter Feinde zu heiliger Empörung Anlass gibt, wird bei den eigenen Verbündeten mit dem Mantel nachsichtigen Verständnisses zugedeckt. Gerade um von solcher Heuchelei den Schleier wegzureißen, ist die Arbeit von Wikileaks und ähnlicher Plattformen unabdingbar. Sie verteidigen die Prinzipien der Demokratie, während ihre wütenden Kontrahenten sich faktisch mit den Praktiken von Unrechtsstaaten und Diktaturen gemein machen.
Vielleicht, sogar, bestimmt sieht investigativer Journalismus im globalen Medienzeitalter so aus, wie er von Wikileaks bereits heute praktiziert wird.