Kürzlich machte ein ehemaliger MfS-Offizier noch einmal von sich reden, der schon fast vergessen war. Werner Stiller, der durch seine Flucht aus der DDR in die Bundesrepublik 1979 die DDR-Spionage in eine ziemliche Krise stürzte, hatte bereits in den 80er Jahren ein Buch über seinen Wechsel von einem Geheimdienst in den anderen geschrieben, bei dem allerdings der Bundesnachrichtendienst weitgehend die Feder führte. Offensichtlich wollte er das Propagandawerk so nicht stehen lassen und verfasste nun die Neufassung »Der Agent« über sein »Leben in drei Geheimdiensten«, denn auch der CIA hatte ihn zeitweise unter seine Fittiche genommen.
Die erste zusammenfassende Darstellung des Falles Stiller aus Sicht der Hauptverwaltung Aufklärung war in einer früh erschienenen Darstellung der Geschichte und Arbeitsweise der HVA, die im Handel nicht mehr verfügbar ist, dem Buch »Wolfs West-Spione. Ein Insider-Report«, publiziert 1992 im Berliner Verlag ElefantenPress, nachzulesen. Sie folgt hier als achter Teil der Online-Veröffentlichung dieses Buches.
Als ein Stiller zu sprechen begann
Das dritte Januar-Wochenende 1979 war für viele HVA-Mitarbeiter alles andere als geruhsam. Besonders im »Sektor Wissenschaft und Technik« (SWT) musste rund um die Uhr gearbeitet werden – zur Schadensbegrenzung. Am Morgen des 19. Januar fand der Leiter der Abteilung XIII, Gerhard Jauck, nicht nur den Panzerschrank seiner Sekretärin aufgebrochen, sondern auch in seinem eigenen Zimmer einen Meißel, der offenbar dem Zweck gedient hatte, seinen Safe ebenfalls zu knacken. Das schien nicht gelungen, doch die Sache war alarmierend genug: Ein Mitarbeiter der Abteilung hatte sich – zusätzlich zu dem, was er wusste – mit konspirativem Material versorgt und war offensichtlich auf dem Wege in die Bundesrepublik. Wie immer in einem solchen Fall, ging es zunächst um die Identifizierung des »Abgangs«. Der war an diesem Freitag schnell gefunden, wenn auch beinahe unglaublich. Ausgerechnet der frisch gewählte Sekretär der SED-Parteiorganisation hatte sich in den Westen abgesetzt, der 30jährige Werner Stiller, der bis dahin als ein »entwicklungsfähiger Kader« galt.
Nun wurde er zu einer der größten Schlappen der H VA. In 17 Fällen gelang der bundesdeutschen Polizei nach seinen Hinweisen die Festnahme von DDR-Spionen. Mehr als ein Dutzend weitere Gefährdete setzten sich in die DDR ab. Der Generalbundesanwalt leitete über 100 Ermittlungsverfahren ein, von denen allerdings zahlreiche ins Leere griffen. Das Innenministerium konstatierte dennoch zu Recht: »Stiller ist einer der wertvollsten Überläufer. Seine umfassenden Aussagen in Verbindung mit dem mitgebrachten Originalmaterial vermittelten den westlichen Abwehrdiensten ein nahezu lückenloses Bild über die spezielle Entwicklung des >Sektors Wissenschaft und Technik< sowie der Struktur, Aufgabenstellung und Arbeitsmethoden der HVA des MfS.«
Tatsächlich war das Verschwinden Stillers ein Schock für die Hauptverwaltung Aufklärung. Sofort wurden alle erreichbaren Mitarbeiter informiert; ein jeder musste detailliert schriftlich darlegen, über welche konspirativen Fakten und Vorgänge der Geflohene Kenntnis hatte. Innerhalb weniger Stunden war so das Ausmaß des vermutlichen Verrats übersehbar, und es konnten Maßnahmen zur Schadensbegrenzung eingeleitet werden. Vor allem galt es, alle diejenigen, die durch ihn unmittelbar gefährdet waren, zu warnen. Das gelang nur noch begrenzt. Die genannte Erfolgsmeldung der BRD-Sicherheitsbehörden entsprach den Tatsachen.
Bei aller Aufregung, die der Übertritt Stillers in die Bundesrepublik auslöste, hat er dennoch zu keiner Zeit die Arbeit der HVA paralysiert. Mittlerweile waren vor allem die älteren Aufklärer so erfahren, dass sie einen solchen Einbruch nie ausschlossen. HVA-Chef Markus Wolf hatte noch einen Tag (!) vor der Flucht Stillers auf einer Parteiveranstaltung vor Sorglosigkeit in dieser Hinsicht gewarnt. Stiller selbst, der dabei anwesend war, gab später zu, dass ihm dabei sehr unbehaglich wurde und er sogar nicht ausschloss, dass Wolf »gleich mit ausgestrecktem Finger auf mich weisen würde«. Möglicherweise hat dieses Ereignis zu seiner zwar schon seit einiger Zeit geplanten, dann aber doch recht überstürzten Flucht beigetragen.
Außerdem war Stiller nicht der erste, der einen solchen Schritt tat. Nach Krauß und Heim war 1961 mit Günter Männel ein dritter HVA-Offizier diesen Weg gegangen; mittlerweile lagen also Erfahrungen vor, und die Maßnahmen zur Schadensbegrenzung waren erprobt. Durch die seither erheblich verbesserte Quellensituation wurde auch aus dem Operationsgebiet sehr schnell bekannt, was Stiller tatsächlich verraten hatte und was von der vom Bundesnachrichtendienst in die Welt gesetzten Legende zu halten war, Stiller hätte seit Jahren für ihn gearbeitet.
Dennoch bedeutete seine Flucht natürlich eine schwere Niederlage – und das um so mehr, als die Untersuchungen schnell ergaben, dass genügend Signale vorhanden waren, die in diesem konkreten Fall das ansonsten latent immer vorhandene Misstrauen gerechtfertigt hätten. Zugleich wurden erhebliche Mängel in der Arbeitsweise der HVA deutlich, die oft mit den zum Teil schon geschilderten Praktiken, aber auch mit Nachlässigkeit und Leichtsinn zusammenhingen.
So zeigte sich, dass die sogenannte Kaderauswahl in der HVA entgegen allen Beteuerungen von Sorgfalt und Wachsamkeit viele Schwächen aufwies. An erster Stelle standen dabei formal immer die »marxistisch-leninistische Überzeugung« und die »Parteitreue«. Wer die in seinem bisherigen – kurzen – Leben »nachgewiesen« hatte, was in der Regel nur verbal geschehen sein konnte, erschien erst einmal grundsätzlich geeignet. So bürgerte sich auch bei der HVA bald die Praxis ein, die Nachwuchsarbeit auf eine Art »innere Reproduktion« zu reduzieren. Besonders gern wurden Mitarbeiter angeworben, die Kinder oder zumindest Verwandte anderer MfS-Angehöriger waren. Das sprach – ohne Ansehen der konkreten Person – schon einmal für »Qualität« und ersparte umfangreiche Ermittlungen. Vor allem aber war sichergestellt, dass diese Kandidaten keinerlei Verbindungen zum Westen unterhielten. In diesen Kreis der Bevorzugten gehörten natürlich auch die Kinder führender Parteifunktionäre – einschließlich der Politbüromitglieder der SED.
Stiller, der aus einfachen Verhältnissen stammte, gehörte zwar nicht in diesen exklusiven Kreis, aber er schien aus anderen Gründen gut ins Raster der Kaderoffiziere zu passen. Da seine Eltern geschieden waren und die Mutter nicht allzu viel Zeit für Erziehung aufwenden konnte, fiel diese Aufgabe überwiegend auf Schule und FDJ. Sie vermittelten dem Halbwüchsigen jene oberflächlichen marxistisch-leninistischen Lehren, die zwar ein Vakuum im Kopf auszufüllen vermochten, nachhaltige Wirkungen aber bei vielen Jugendlichen nicht hinterließen. So waren Stillers Entscheidungen für die Übernahme von Funktionen – FDJ-Sekretär schon auf der Oberschule, dann auch beim Studium, Eintritt in die SED bereits mit achtzehn Jahren – mehr Selbstverständlichkeiten für jemanden, der vorwärtskommen wollte, als Ausdruck natürlich gereifter politischer Überzeugung. Stiller begriff schnell, was man von ihm hören wollte – auch später, als er seine Motive für den Eintritt ins Ministerium für Staatssicherheit darlegen sollte. Und seine Werber fanden, dass sich die Worte des Kandidaten auf dem Papier gut ausmachten; sie verzichteten darauf, ihn gründlicher zu prüfen, denn der Werbeplan saß ihnen im Nacken.
Werner Stiller erfüllte zunächst alle Erwartungen. Er fragte nicht viel, tat, was ihm aufgetragen, und hatte – so erforderlich – die ideologischen Klischees parat. Er gehörte bald zu jenen Aufklärern, die wenig Skrupel verrieten und – wenn doch – in der Lage waren, sie mit vordergründigem Zynismus zu überdecken. So war er erfolgreich, brachte die geplanten Werbungen, und seine IM lieferten durchaus brauchbare Informationen. Ihm kam dabei zugute, dass im SWT-Bereich oft das Geld, das für Spionagematerial gezahlt wurde, eine größere Rolle spielte als jede ideologische Überzeugung. So brauchte er meist keine politischen Verrenkungen zu machen – aber er wäre sicher auch dazu in der Lage gewesen. Stiller fiel auf; man wählte ihn zum Parteisekretär seiner Abteilung – nach Praxis der HVA ein Schritt auf dem Weg zu einer aussichtsreichen Karriere.
Und doch nagte in ihm das Unbehagen. Möglicherweise war es die Oberflächlichkeit und Unausgegorenheit seines marxistischleninistischen Weltbildes, das ihn immer öfter am Wahrheitsgehalt dessen zweifeln ließ, was in der Parteischulung gepredigt wurde. Allzu sehr wich es von dem ab, was er um sich herum sah, und auch von dem, was in der HVA praktiziert wurde. Er machte sich Gedanken, was viele um ihn herum nicht taten. Und er zog Konsequenzen, was noch viel seltener war. Aus heutiger Sicht wäre es vermessen, Stiller dafür zu tadeln, dass er einen Weg ging, auf dem er manchen, der durchaus auch lautere Motive für seine Entscheidung hatte, ins Unglück stürzte. Er wählte für sich diese Alternative. Heute müssen sich jene, die das Unbehagen unterdrückten und weitermachten, fragen, ob sie sich in einem besseren Licht sehen können.
Zum Frust über die Kluft zwischen politischem Anspruch und Realität, die Stiller täglich erlebte, kamen private Probleme, die niemand wirklich ernst nahm. Seine ungarische Frau entfremdete sich ihm bald, der Umgang mit Freunden und Bekannten verflachte, auch im persönlichen Bereich blieb jener Zynismus nicht ohne Wirkung, der bei den dienstlichen Kontakten oft dominierte. Signale dessen wurden in seiner Arbeitsgruppe nicht registriert; schon gar nicht wurde auf sie reagiert – eine häufige Erscheinung, die zeigt, wie sehr das immer mehr moralischer Antriebe entkleidete Geheimdienst-Geschäft das in den Anfangsjahren der HVA durchaus noch vorhandene Zusammengehörigkeitsgefühl der Aufklärer zerstörte. Man tat seinen Job, versuchte dabei möglichst wenig aufzufallen – und ansonsten wollte man seine Ruhe haben. Diesen Rückzug in die trügerische private Nische teilte Stiller mit vielen seiner »Genossen«. Aber fast alle unterwarfen sich dem Fatalismus dieser Situation, da für sie die Rigorosität von Stillers Ausbruch, die sich letztlich auch nur aus seiner Entwicklung im »realen Sozialismus« erklärt, nicht in Frage kam. Seine Entscheidung für den Bundesnachrichtendienst traf er eben sowenig aus Überzeugung wie die seinerzeitige für das MfS. In einer aus seiner Sicht ausweglosen Situation nutzte er die ihm gegebenen Möglichkeiten zur Flucht; was er dazu mitbrachte, war das Resultat hektischen Zusammensuchens, wobei er allerdings wusste, wo man fündig werden konnte.
Die tieferen Gründe für den Abgang Stillers liegen letztlich in der trotz der hohen Leistungen bei der Informationsbeschaffung insgesamt negativen Entwicklung der Hauptverwaltung Aufklärung, in der er – wohl zu Recht – für sich keine Perspektive mehr sah. Sie wurden ergänzt durch ein gerüttelt Maß von Nachlässigkeit und Leichtsinn in der operativen Arbeit, das die gleiche Ursache der Entfremdung vom ursprünglich so idealistisch geprägten Auftrag hat. So wusste Stiller weitaus mehr, als ihm bei strenger Anwendung der Regeln der Konspiration hätte bekannt sein dürfen. Er kannte von anderen Mitarbeitern Namen, Sachverhalte und Zusammenhänge. Er konnte aus der prahlerischen Beispieldarstellung in den Fachschulungen seine Schlüsse ziehen. Er selbst hat später konkret dargestellt, wie leicht es ihm gemacht wurde, Klarnamen von Spionen in der Bundesrepublik zu erfahren.
Auch die Sicherheitsbestimmungen im Gebäude der HVA wurden zu lax gehandhabt. Jeder Mitarbeiter, der nach Dienstschluss noch einmal in sein Zimmer wollte, konnte dies ohne jede vorherige Anmeldung. Er erhielt dazu sogar die Schlüssel seiner gesamten Abteilung ausgehändigt. Er hatte dadurch Zugang zu allen Diensträumen. Nur so war es Stiller möglich, Materialien aus dem aufgebrochenen Panzerschrank der Abteilungssekretärin zu entwenden. Weder bestimmte sensible Räume noch die Stahlschränke der Spitzenleute der HVA waren elektronisch gesichert. Eine Kontrolle mitgenommener Unterlagen fand nirgends statt.
Ähnliche Nachlässigkeiten gab es beim Umgang mit fiktiven Dokumenten, also falschen Pässen und Ausweisen sowie Papieren, die zum Beispiel am Bahnhof Friedrichstraße zur Grenzpassage ausgestellt wurden. Vertrauensseligkeit und Kumpelhaftigkeit verhinderten oft die Einhaltung der Bestimmungen. Was in den Anfangsjahren der HVA noch mangelnde Professionalität gewesen war, ging nun auf das Konto unzureichender Motivation, einer Dienstauffassung, gekennzeichnet durch Achtlosigkeit und Frust.
Nachdem das Kind in den Brunnen gefallen war, wurde er abgedeckt. In den zehn Jahren seit dem »Fall Stiller« bis zur Auflösung der H VA perfektionierte sie ihr inneres Sicherheitsregime. Schon wenige Wochen später formulierte eine für alle Abteilungen verbindliche Dienstanweisung Schlussfolgerungen aus dem Vorfall. Später erdachte eine spezielle »Arbeitsgruppe Sicherheit« unaufhörlich Maßnahmen, die die HVA vor weiteren Verratsfällen schützen sollten; ihre Vorschläge scheiterten jedoch nicht selten an finanziellen oder auch technischen Grenzen. Vor allem aber konnten sie nicht das moralische Defizit und die fehlende Motivation wettmachen, die die Dienstauffassung der DDR-Aufklärer immer mehr prägten. Zwar kam es nicht so bald wieder zum Übertritt eines HVA-Angehörigen zum erklärten Gegner, aber es häuften sich Vorkommnisse wie Alkoholmissbrauch, arrogantes Auftreten in der Öffentlichkeit, Unterschlagungen, Ehekonflikte, Probleme in der Kindererziehung und ähnliches. Das »Sicherheitsrisiko Mensch« wurde immer größer – trotz einiger durchaus vernünftiger Schlussfolgerungen.
So sorgte man dafür, dass ähnliche »Blitzkarrieren« wie bei Stiller in der Regel nicht mehr vorkamen. Für eine Einstellung in die HVA vorgesehene Kandidaten wurden zuvor in operativen Außengruppen (OAG), die sich fast alle Abteilungen schufen, erprobt. Diese Gruppen, getarnt als solche zivile Einrichtungen wie Konstruktionsbüros, Übersetzungsdienste, Außenstellen von Betrieben usw., bestanden meist nur aus drei, vier oder fünf, nur selten aus mehr Mitarbeitern. Sie waren nicht in die zentrale Hauptverwaltung eingebunden und konnten – natürlich unter Kontrolle ihrer jeweiligen Vorgesetzten – relativ ungestört und dadurch oft unbefangener arbeiten als die Mitarbeiter in der Normannenstraße. In mindestens ein-, in der Regel aber zwei- bis dreijähriger Tätigkeit wurden die »Nachwuchskader« auf ihre Befähigung hin überprüft, und erst dann entschied man über die weitere Verwendung. Dieser im Prinzip recht fruchtbare Ansatz ging jedoch bald verloren, wenn die Neulinge später in die HVA eingegliedert wurden und die dortigen Verhältnisse kennenlernten. Die Ernüchterung rief dann auch bei den so besser Getesteten die gleichen Symptome hervor, wie sie seit Jahren ei ihren Vorgängern registriert werden mussten.
Aus diesem Grunde nahmen auch die Überwachungsmaßnahmen gegenüber den Mitarbeitern der HVA zu. Sie gingen vor allem von der Hauptabteilung Kader und Schulung aus, zu deren Aufgaben die lückenlose Kontrolle des Verhaltens aller MfS-Angehörigen gehörte. Dabei war es gewiss kein Zufall, dass zum Leiter dieser Abteilung mit Günter Möller ein Spezialist der Spionageabwehr berufen wurde. Das Ziel bestand darin, jeden unkontrollierbaren Kontakt zu verhindern. Daher durften Verwandte ersten Grades keinerlei Beziehungen ins westliche Ausland unterhalten. Reisen wurden nur äußerst restriktiv gewährt; selbst der Urlaub ins sozialistische Ausland war melde- und bei immer mehr Ländern auch genehmigungspflichtig. Reisen durften grundsätzlich nur in Gruppen erfolgen. Ein Campingurlaub oder das Mieten privater Unterkünfte waren untersagt. Kontaktaufnahmen – wie zufällig auch immer – mussten unverzüglich gemeldet werden. Um das Verhalten der Mitarbeiter zu testen, wurden derartige Situationen fingiert. Jeder Verdacht konnte gedeckte Ermittlungen auslösen, und kein Aufklärer war davor geschützt, wie jeder andere DDR-Bürger auch abgehört oder der Postkontrolle unterworfen zu werden. Abhöreinrichtungen konnten sogar in den Diensttelefonen installiert werden. Mit der Zunahme der technischen Möglichkeiten wurden diese gezielt zur »Gewährleistung der inneren Sicherheit« eingesetzt. So kam es vor, dass das Gespräch mit einem verdächtigen Mitarbeiter der HVA aufgezeichnet wurde, um ihn mit Hilfe eines Sprachmodulators auf Ehrlichkeit seiner Aussagen zu überprüfen. Dieses Gerät, in der HVA unter dem Decknamen »Medium« ursprünglich für operative Zwecke eingesetzt, ließ aus der Sprachmodulation – ähnlich wie der Lügendetektor aus physiologischen Abläufen – Erregungszustände erkennen, die als Bestätigung eines Verdachts interpretiert werden konnten.
Der Fall Werner Stiller belebte innerhalb der HVA einmal mehr frühere Diskussionen darüber, wie mit solchen »Abtrünnigen« umzugehen sei. Als 1961 Günter Männel die Seiten wechselte, wurde von der Leitung der HVA eine Arbeitsgruppe gebildet, die versuchte, seinen Aufenthaltsort zu ermitteln und über seine weiteren Aktivitäten Klarheit zu gewinnen. Als dann entsprechende Informationen vorlagen, stellte sich die Frage, ob man Männels wieder habhaft werden könne und wenn ja, was dann mit ihm passieren sollte. Dazu bestanden sehr unterschiedliche Auffassungen, aber im Prinzip waren sich bei der Aufklärung alle einig, dass durch eine solche »Sonderjustiz« der schon durch die Flucht eingetretene Schaden nicht noch größer werden dürfe. Das hieß, spektakuläre Aktionen wurden ebenso ausgeschlossen wie etwa eine Liquidation des Überläufers. Es war vor allem zu bedenken, dass damit eine Kampfform in die Auseinandersetzung der Geheimdienste hineingetragen worden wäre, die unabsehbare Folgen auch für die eigenen Leute in den gegnerischen Reihen hätte haben können.
Als schließlich klar wurde, dass eine »lautlose Rückführung« Männels nicht möglich war, blies man die ganze Sache ab. Hatte es bis dahin seitens der HVA schon keine Entführungen Missliebiger aus dem Westen gegeben, so in der Folgezeit erst recht nicht. Als Stiller verschwand, wurde eine vergleichbare Arbeitsgruppe gar nicht erst gebildet. Hier ging es einzig um die Begrenzung des aufgetretenen Schadens; jeder Versuch, Stiller zurückzuholen oder auch im Operationsgebiet zu »exekutieren«, wie es Mielke bei einigen Gelegenheiten tatsächlich angedroht hatte, schied von vornherein aus. Die HVA hat dazu keine Vorkehrungen getroffen. Dennoch traute der BND dem Frieden nicht. Er ließ Stiller nicht ein einziges Mal direkt als Zeuge vor Gericht auftreten und besorgte ihm eine neue Identität.
Im Umfeld der Stiller-Schlappe musste die HVA Erfahrungen mit einer speziellen Sorte von Überläufern machen. Zwei der DDR-Spione, denen die Flucht aus der Bundesrepublik – wenn auch auf ganz verschiedene Weise – gelang, kehrten nach einem kurzen Aufenthalt zurück, obwohl ihnen in Westdeutschland eine Strafverfolgung sicher war: Rainer Fülle und Erich Ziegenhain. Dabei war der Fall Fülle so abenteuerlich, dass man hätte annehmen können, er entstamme einem Spionage-Thriller.
Der Angestellte der Gesellschaft zur Wiederaufbereitung von Kernbrennstoffen in Karlsruhe war zwar festgenommen worden, entkam aber auf dem Weg zu einem Verhör seinem (einzigen!) Bewacher, da der – es war ein kalter Wintertag – auf Glatteis ins Stolpern geriet und ihn nicht festhalten konnte. Fülle floh und meldete sich bei der sowjetischen Militärmission in Baden-Baden, von wo aus er in einer Holzkiste in die DDR geschmuggelt wurde. Hier konnte er studieren, erhielt ein weit überdimensioniertes Stipendium, lebte in einer Villa – und auch sonst wurde ihm fast jeder Wunsch erfüllt. Seine »tschekistischen Kampferfahrungen« vermittelte er jungen HVA-Mitarbeitern und Kursanten der Schule des Spionagedienstes in Vorträgen und Gesprächsrunden. All das aber verschaffte ihm offensichtlich keine Befriedigung. Seine Familie war ihm nicht in die DDR gefolgt, und über sie nahm er Kontakt zum Bundesamt für Verfassungsschutz auf, das bald darauf für seine Rückkehr sorgte. Ansonsten aber tat auch diese Bundesbehörde wenig für ihn: Das Oberlandesgericht Stuttgart verurteilte ihn zu sechs Jahren Haft.
Erich Ziegenhain war nach einem Rückruf aus der Berliner Zentrale Ende Januar 1979 in die DDR geflohen. Aber auch seine Familie – mit seiner nachrichtendienstlichen Tätigkeit konfrontiert – wollte nicht im Osten Deutschlands bleiben, sah aber letztlich keinen anderen Ausweg. Doch Ziegenhain, anders als Fülle auf ideologischer Grundlage angeworben, verkraftete die Realität des Sozialismus nicht. Immer häufiger kritisierte er die Verhältnisse, die er sich so ganz anders vorgestellt hatte, und stellte schließlich den Antrag auf Rückkehr. Bei der HVA stieß er damit natürlich nicht auf Gegenliebe, doch nach längeren Auseinandersetzungen sah man schließlich ein, dass es sinnlos sei, ihn gegen seinen Willen festzuhalten. Ziegenhain kehrte mit seiner Familie zurück und wurde zu zwei Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Leider wurde in der HVA nicht ernst genommen, was der frühere Oberregierungsrat im hessischen Sozialministerium zur Begründung dieses spektakulären und für die HVA blamablen Schrittes sagte. Er sei durch seinen DDR-Aufenthalt »zu einem überzeugten und engagierten Antikommunisten geworden …; denn die DDR ist, nicht zuletzt für ehemalige Sozialisten, die > Schule des Antikommunismus<«.
Je mehr sich die gesellschaftliche Realität in der DDR von ihren frühen Idealen, deren Verwirklichung allerdings nie ernsthaft betrieben wurde, entfernte, desto größer wurden die Probleme mit jenen Spionen, die sich aus dem Operationsgebiet wegen akuter Gefährdung zurückziehen mussten bzw. die aus eigenem Antrieb flohen. Die Schicksale von Fülle und Ziegenhain machten insofern nur etwas sichtbar, was unter der Oberfläche schon lange schwelle. In den Anfangsjahren der DDR-Aufklärung, als erst Positionen geschaffen wurden und die Betreuung zurückgezogener oder geflohener Kundschafter lediglich Einzelfälle darstellte, bereitete sie noch keine Probleme. Später, als sich solche tragischen Vorfälle häuften und – vor allem Mitte der 70er Jahre – ihren Ausnahmecharakter verloren, stand die HVA plötzlich vor einem Phänomen, das bis dahin ungekannte psychologische Probleme aufwarf. Der Spion, bis dato zumeist ein in guter Position stehender, über Sozialprestige verfügender Bürger der Bundesrepublik, wurde förmlich über Nacht zum Nobody. Zwar erfuhr er durch das MfS und die HVA, mitunter auch einmal in einem öffentlichen Auftritt im DDR-Fernsehen hohe Würdigung als »Kämpfer an der unsichtbaren Front«, doch war diese Phase der Ehrungen beendet, dann trat bald Leere ein. Die hohen Erwartungen der Ex-Kundschafter, die sich ihr Bild von der DDR meist vor allem aus den Berichten ihrer Instrukteure zusammengesetzt hatten, wurden oft tief enttäuscht. Einstige Versprechungen konnten nun nicht gehalten werden. Eine berufliche Laufbahn war oft schwierig, da elementare Voraussetzungen fehlten und bestimmte Entwicklungen aus Sicherheitsgründen versperrt blieben. Die neuen DDR-Bürger wurden auch mit den Unbilden des täglichen Lebens konfrontiert, mit Versorgungsmängeln, Reisebeschränkungen und bürokratischen Hürden, die es zwar auch im Westen gegeben hatte, hier jedoch von ganz anderer Art waren. Die Verärgerung schlug bald in Forderungen um, die in einzelnen Fällen bis zur Erpressung gingen. Einige der Ex-Spione wollten ihre Erlebnisse veröffentlichen, andere sich auf Vortragsreisen im Ausland vorstellen. Seitens des MfS wurde das alles abgeblockt, wobei oft kleinliche Begründungen herhalten mussten. Auch hier hatte das ideologische Kalkül Primat, wurde ihm die Befindlichkeit des jeweiligen Kundschafters untergeordnet. In den 80er Jahren gründete man an der HVA eine spezielle Betreuungsgruppe, die nichts anderes zu tun hatte, als sich rund um die Uhr um die zurückgezogenen oder geflohenen früheren Aufklärer zu kümmern. Dennoch änderte das an den gegenseitigen Irritationen wenig, und in vielen Fällen gelang die Integration bis zuletzt nicht.
Der Versuch, durch öffentliche Würdigung der Spione die Spannungen bei der Eingliederung in eine völlig neue Gesellschaft zu mindern, hatte durchaus seinen Sinn; die formalistische Handhabung verkehrte aber auch hier die gute Absicht beinahe ins Gegenteil. Lange Jahre hatten die sozialistischen Länder überhaupt nicht zugeben mögen, dass auch sie Spionage betrieben. Dieser Begriff war von vornherein negativ besetzt und galt nur für die entsprechenden »imperialistischen Machenschaften«. Erst mit der Würdigung des sowjetischen Aufklärers Richard Sorge änderte sich daran etwas; von nun an wurden »Kundschafterleistungen«, wie man sie euphemistisch nannte, als »Beiträge zur Friedenssicherung« hervorgehoben. Das war nicht falsch, wenn man sich die meisten der so Geehrten ansieht. Zugleich aber verband sich mit dieser Anerkennung auch der Anspruch, im Gegensatz zu den »Agenten und Diversanten« des Westens einer guten Sache zu dienen und den Sozialismus zu stärken.
Auf diese Weise wurde das Spionage-Gewerbe ideologisiert – ein Vorgang, der bis heute mit umgekehrten Vorzeichen erneut zu beobachten ist. Doch ungeachtet dessen entsprach der Schritt hin zur öffentlichen Heraushebung der Aufklärung und ihrer Sachwalter auch einem Bedürfnis dieser selbst. Im Einsatz lebt der Spion in einer ständigen psychischen Anspannung, die sich sowohl aus den Risiken seiner (Neben-)Tätigkeit als auch aus der Tatsache ergibt, dass er zwar etwas Besonderes, etwas Geheimnisvolles tut, damit aber nicht in die Öffentlichkeit gehen kann. Im Gegenteil, oft musste der konspirativ Arbeitende im Interesse des Erfolgs und seiner Sicherheit besonders unauffällig agieren, durfte zum Beispiel seine finanziellen Zuwendungen nicht nach Bedarf verwenden, sondern stets dosiert, in Übereinstimmung mit seinem offiziellen Status. Nicht wenige wurden mit diesem Widerspruch nicht fertig und enttarnten sich durch Unvorsichtigkeiten, mitunter sogar Prahlereien. Grundsätzlich gilt das auch für die Führungsoffiziere, die Mitarbeiter der Zentrale, die oft auf Ehre und Ansehen, die sie mit ihren Fähigkeiten im zivilen Leben durchaus hätten erwerben können, verzichten müssen. Beide Gruppen haben den Drang, anerkannt zu werden – und diesem Wunsch wurde die HVA dadurch gerecht, dass sie – überwiegend intern, zunehmend aber auch in der Öffentlichkeit – den »sozialistischen Kundschafter« zu würdigen begann.
Aber die Hauptverwaltung Aufklärung verband natürlich mit der Kundschafterehrung noch einen zweiten Zweck; sie sollte erzieherische Wirkung auf den Nachwuchs haben. Und damit wurde auch sie in ein propagandistisches Korsett gezwängt. Bald kam es zu Übertreibungen, dem Verschweigen von Fehlern und Mängeln. Selbst ganz normale Pannen hatte es plötzlich nicht mehr gegeben; der »Held« oder die »Heldin« sollte ohne Makel sein. Dass zum Beispiel einer der DDR-Spione häufig zu spät zum Treff kam, hatte in der Zentrale nicht selten Stirnrunzeln ausgelöst. Denn der Instrukteur musste sich jedes mal fragen: Ist etwas passiert? Hat eine Beobachtung stattgefunden? Oder gibt es gar schlimmere Gründe für das Fernbleiben? Später aber wurde dieses in der konspirativen Arbeit äußerst problematische Verhalten jedoch heruntergespielt oder gar mit einem Scherz abgetan.
Einzelne Leistungen wurden übergebührlich aufgewertet, was auch Missgunst im Kreis der Ex-Spione hervorrief. Mancher öffentliche Auftritt geriet zur Peinlichkeit, da der frühere Aufklärer – abgeschnitten von seiner Umwelt – den Blick für die Realität verloren hatte und nur noch in der Vergangenheit lebte. Dennoch hinderte das den einen oder die andere nicht, überheblich und anmaßend aufzutreten. Die schon genannten Integrationsprobleme fanden hier ein Ventil, das jedoch nicht im Sinne der Zentrale war. Die voluntaristische Geschichtsschreibung, in der DDR zu einem Prinzip erhoben, setzte sich auch auf diesem kleinen Feld durch und stiftete damit letztlich mehr Schaden als Nutzen.
In den letzten Jahren der HVA wurde die »Traditionspflege« zu einem Kult erhoben. Auf Weisung der Leitung intensivierte man die Erforschung früherer Erfolge, richtete »Traditionskabinette« ein und berauschte sich an der Vergangenheit. War dies vielleicht eine Flucht vor den Schwierigkeiten und Schlappen der Gegenwart, ein Ignorieren der im Unterbewusstsein möglicherweise dämmernden Zweifel am Sinn der Arbeit? Sollten Frustration und Resignation, die diese lähmende Einsicht bedingten, mit Blick auf das Gewesene verdrängt werden?