Tunesien als Vorbild

Mit gehörigem Erschrecken hat der Westen auf den Umsturz in Tunesien reagiert, betrachtete er doch den Staat am Mittelmeer bislang als besonders gelungenes Beispiel der Ruhigstellung eines Dritte-Welt-Landes zum Nutzen des Abendlandes. Der seit 23 Jahren einem vornehm als »Präsidialrepublik« bezeichneten Regime vorstehende Zine el-Abidine Ben Ali hatte nach seiner Machtübernahme 1987 tatsächlich einige fortschrittliche Reformen eingeleitet und unter anderem dafür gesorgt, dass viele junge Leute einen hohen Bildungsstand erwerben und auch Frauen ein gewisses Maß an Freiheiten wahrnehmen konnten. Den ökonomischen und sozialen Zwängen, denen er seitens der westlichen Länder ausgesetzt war, konnte er dadurch jedoch nicht entgehen – und so blieben die sozialen Errungenschaften letztlich ohne nachhaltige Wirkung. Heute liegt die Arbeitslosigkeit allgemein bei 14 Prozent, jedoch bei der gut ausgebildeten Jugend bei 40 Prozent. Ursache dafür ist vor allem der unterentwickelte industrielle Sektor, in dem nur 32 Prozent der Tunesier arbeiten. Die meisten verdienen ihr Geld mit Dienstleistungen aller Art, doch dieser Bereich ist hart umkämpft, und hier floriert die Korruption – nicht selten zugunsten des Präsidentenpalais und seines Satelittenfeldes.

Der sich daraus ergebenden Unzufriedenheit konnte Ben Ali immer weniger Herr werden, und so führte er Schritt für diktatorische Regierungsformen ein, mit wohlwollender Duldung des Westens. Er baute seinen Geheimdienst und vor allem die Polizei als Machtstützen aus, schaltete die Medien weitgehend gleich und ließ das Internet überwachen, sorgte schließlich für Präsidentschaftswahlergebnisse von mehr als 90 Prozent, im letzten Jahr trotz schon grassierender Unzufriedenheit von 89, 28 Prozent. Die selbst ernannten Demokratiewächter in den USA und Europa nahmen das klaglos hin, sorgten allenfalls dafür, dass die Welt recht wenig über die tatsächlichen Verhältnisse in Tunesien erfuhr – wie auch in Saudi-Arabien, in Ägypten, in den arabischen Emiraten; selbst Libyens Gaddafi wird mit Samthandschuhen angefasst, seit er partiell mit dem Westen kooperiert. Und wenn es einmal in Iran eine Regierung geben sollte, die auf jede Nuklearnutzung verzichtet, wird auch keinen mehr interessieren, was sie dann mit der inneren Opposition treibt. Geradezu unverfroren ist da Angela Merkels späte Mahnung: »Es ist unabdingbar, die Menschenrechte zu respektieren, Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit zu garantieren.« Einschließlich ihres Angebots: »Deutschland und die Europäische Union stehen bereit, Ihnen bei einem solchen Neuanfang unterstützend zur Seite zu stehen.« 23 Jahre lang hatte man dazu Zeit, doch da genügte es, dass die Geschäfte gut liefen und mögliche Flüchtlinge nicht bis zu den europäischen Grenzen gelassen wurden.

Tunesien war eines der Vorbilder, wie sich der Westen die Länder der Dritten Welt wünscht – offen für gewinnbringende Investitionen wie für jegliche Warenströme und ansonsten bereit, die Probleme der reichen Welt auf dem eigenen Territorium zu »lösen«, mit welchen Mitteln auch immer. Auch wie sehr die sich gern so investigativ gebärdenden westlichen Medien bereits solcher »Arbeitsteilung« und der damit verbundenen Schweige- und Verharmlosungstaktik folgen, ist gegenwärtig eindrucksvoll zu beobachten. Kaum eine Redaktion ist in der Lage oder willens, ein ungeschminktes Bild der tunesischen Verhältnisse und der Ursachen des eruptiven Gewaltausbruchs zu zeichnen, geschweige denn die westliche Mitverantwortung zu enthüllen; bei einigen hat man den Eindruck, sie mussten erst auf der Karte nachsehen, wo das Land überhaupt liegt. Tunesien spielte sich bislang lediglich auf den Tourismus-Seiten ab, und auch jetzt wurden viele Redaktionen erst wach, als deutsche Urlauber in Gefahr gerieten.

Sie sind längst auf dem Weg zu formierten Medienlandschaft, auch da mit klammheimlicher Zustimmung der politischen Autoritäten. Nur widerwillig rügte die EU-Spitze das undemokratische ungarische Mediengesetz, können doch viele europäische Regierungen dessen Regelungen allerhand Positives abgewinnen. Vermutlich beklagen sie nur Orbans taktischen Fehler, alles auf einmal durchdrücken zu wollen. Schaut man auf die Gesamtheit der auf einen autoritären Staat abzielenden Verfassungs- und Gesetzesänderungen in Ungarn, dann kann man sogar den Eindruck gewinnen, die Praktiken diktatorischer Regimes, wie jenes in Tunesien, üben eine wachsende Faszination auf westliche Staaten aus, zumal sie zunehmend mit der Unzufriedenheit der Bürger über die Selbstherrlichkeit der Finanzmärkte, daraus resultierendem sozialen Kahlschlag und eingeschränkte Bürgerrechte konfrontiert sind.

Insofern jedoch können die aktuellen Ereignisse in Tunesien auch zum Vorbild für Widerstand gegen eine verfehlte Politik werden. Sie weisen zahlreiche Parallelen zu den Umbrüchen in Osteuropa an der Wende zu den 90er Jahren auf. Damals verloren abgewirtschaftete Regimes die Kontrolle über ihre Völker und mussten abtreten. Sie taten es unter Verzicht auf den Einsatz ihrer repressiven Machtmittel. In Tunesien sind Ursachen und Entwicklungen ähnlich. Noch nicht entschieden ist freilich die Frage, ob der Übergang zu neuen Verhältnissen ebenfalls friedlich erfolgen kann. Denn das Land gehört zum kapitalistischen System, und kapitalistische Regimes haben das Feld noch niemals kampflos geräumt – vor allem dann nicht, wenn Besitz, wenn Eigentum in Gefahr geriet.

2 Replies to “Tunesien als Vorbild”

  1. Fast schon wie die „Faust aufs Auge“ zu den aktuellen Ereignissen in Tunesien paßt die heutige Bekanntgabe des Unwort des Jahres hierzulande: Alternativlos (als Kritik am diskussionsabwürgenden und demokratieuntergrabenden „Basta-„Politikergerede).

    Ob mit „Alternativlos“ ein diktatorisches Regime in Tunesien gemeint wäre oder ein postdemokratisches in Deutschland und im globalen Kapitalismus überhaupt – man sollte mit Stéphane Hessel auch sagen: Empört euch!

    http://www.vorwaerts.de/artikel/der-zornige-alte-mann-und-sein-pamphlet

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