(pri) … dann wird das Heulen und Zähneklappern, das schon jetzt ziemlich vernehmlich ist, erst so richtig losgehen. Denn dann haben wir auch hier griechische oder spanische oder britische Verhältnisse. Und viele werden überrascht tun – so, als habe man das absolut nicht kommen sehen.
Dabei ist solche Perspektive schon heute mit Händen zu greifen. Und das umso mehr, wenn man gerade aus Norwegen zurückgekehrt ist, einem derzeit gewiss traumatisierten Land, das aber dennoch nicht in Rat- und Hilflosigkeit versinkt – und schon gar nicht zum Unruheherd zu werden droht.
Dass die brennenden Autos in Berlin irgendwie die Vorboten der brennenden Vorstädte von London sein könnten, hat – immerhin – Angela Merkel erkannt. Dagegen unternehmen wird sie nichts – außer vielleicht die Repressivorgane des Staates nicht durch Sparmaßnahmen zu schwächen. Sie kann auch nichts dagegen tun, solange sie sich als loyale Dienerin jenes Systems versteht, das sich – spontan, weil nicht gebändigt – nach dem Gesetz der Wölfe entwickelt, das nicht den Hunger, sondern die Gier zur Basis hat.
Die kapitalistische Realwirtschaft bezieht ihre Stärke daraus, dass sie auf die Bedürfnisse der Menschen schaut, diese auch schon mal erzeugt und entsprechend diesem Bedarf produziert. Da werden natürlich Profite auf Kosten der Konsumenten gemacht, diese aber in der Regel für neue Produkte verwendet – entsprechend der gewachsenen oder auch manipulierten Bedürfnisse. Das System ist zumindest in Teilen ungerecht, aber funktioniert, da die Menschen um des eigenen kleinen Vorteils willen den größeren Vorteil der Produzenten relativ klaglos hinnehmen. Es verhindert Reich und Arm nicht, begrenzt aber die Unterschiede und sorgt so für eine fragile Balance, die immer wieder austariert werden muss.
Ganz anders funktioniert die Finanzwirtschaft, zumindest dann, sobald sie ihre einzige Daseinsberechtigung, die Unterstützung der materiellen Produktion, aufgibt und sich verselbständigt. Sie kann dies freilich nur dann, wenn der Staat es versäumt, die genannte Balance zwischen Reich und Arm sicherzustellen, also das Finanzkapital einer gewissen Kontrolle und Regulierung zu unterwerfen. Eins dieser Versäumnisse betraf zum Beispiel den Verzicht auf die Abschöpfung des Gewinns, der nicht aus menschlicher Arbeitskraft, sondern aus der technischen und technologischen Entwicklung erwirtschaftet wurde. Obwohl auch er letztlich aus gemeinschaftlicher Anstrengung hervorging, wurde er nicht dem Gemeinwohl zugänglich gemacht, sondern allein bei den Kapitaleigentümern belassen, die ihn aber – aus objektiven wie subjektiven Gründen – nur bedingt in neue Produktion investierten, sondern damit auf Spekulationskurs gingen.
Im Kapitalismus kann man auch ohne materielle Produktion, allein durch Umschichten des Kapitals, Geld »verdienen« – allerdings nur, wenn ihm dabei keine Grenzen gesetzt, die Wolfszähne gezogen werden. Es genügt ihm nicht, den natürlichen Hunger zu stillen und sich dabei vielleicht noch ein Wohlstandbäuchlein anzufuttern, sondern er entwickelt schnell eine grenzenlose Gier, die sich so viel wir möglich habhaft machen will, jenseits sogar aller vernünftigen Verwertungsmöglichkeit. Und er lässt sich dafür immer neue »Instrumente« einfallen, die nicht selten die Grenzen ins Kriminelle überschreiten. (Man versuche nur einmal, im gewöhnlichen Handelsleben so etwas wie einen »Leerverkauf« zu tätigen; schnell griffen die Betrugsparagrafen der Gesetze.)
Dennoch laufen lupenreine Kapitalisten und die von ihnen gesponserten Politiker, natürlich jene der FDP, mehr oder minder aber auch schon solche der anderen Parteien, und Meinungsmacher beinahe aller Medien Sturm gegen jegliche Restriktionen für das Kapital. Und lamentieren gleichzeitig über die Verschuldung des Staates, die ganz wesentlich dadurch hervorgerufen wurde, dass eben dieser Staat zur Bewältigung der Finanzkrise 2008 Milliarden und Abermilliarden zur Rettung der Banken aufbringen musste, die ohne diese Kapitalspritze – direkt oder indirekt durch Konjunkturprogramme – pleite zu gehen drohten. Sie zahlten diese Milliarden nicht etwa zurück, sondern setzten damit ihr verderbliches Tun fort, ungeachtet der horrenden Verschuldung, die auch der deutsche Staatshaushalt zu verkraften hat und die ihn schon bald ins Visier der Finanzmärkte bringen wird.
Vielmehr verlangen sie staatliche Ausgabenkürzungen – ob für die ihm obliegenden Aufgaben zur Erhaltung und Entwicklung des Gemeinwesens oder bei Sozialprogrammen. Was die Probleme aber nicht nur nicht löst, sondern erst schafft und verschärft. Bis hin zum Aufruhr. Denn ist die parasitäre Finanzbranche die eine Seite der Medaille, so zeigt ihre Rückseite die Empörung, den Zorn und die sinnlose Zerstörungswut der durch sie Verarmten und Verelendeten.
Ein Wesensmerkmal des Kapitalismus ist die Anarchie – und zwar auf jeder Ebene. Anarchisch vollzieht sich oben, wo das Geld regiert, das Spiel der Börsen, die es mit allen Mitteln zu mehren versuchen. Ebenso anarchisch reagiert unten, wo das Geld fehlt und zugleich die Begehrlichkeit gezielt stimuliert wird, der Geprellte, der Ausgegrenzte, indem er angreift, was er in heimlicher Sehnsucht hasst, weil es nicht erreichbar ist. Das eine ist so irrational wie das andere. Aber das eine ist Ursache, und das andere ist Wirkung. Fehl geht, wer – wie jetzt Englands unter die Regierungsräson gezwungene Justiz – die Wirkung bekämpft, die Ursache aber ungeschoren lässt. Das aber geschieht nicht nur in Großbritannien, sondern überall, wo sich der Aufruhr erhebt. Auch hierzulande wird dies das Mittel der Wahl sein, wenn demnächst die deutsche Kreditwürdigkeit herabgestuft wird – mit all den Folgen, die jetzt schon in einem europäischen Land nach dem anderen zu beobachten sind.
Und was passiert, wenn die „Kreditwürdigkeit“ (Was immer damit auch gemeint sein mag) der Schweiz herabgestuft würde? „Nestbeschmutzer“ Jean Ziegler ruft in seiner Radikalkritik zu nichts weniger als zu heftigem Widerstand und offener Revolution gegen die Finanzbranche auf:
http://www.woz.ch/artikel/newsletter/21069.html