Die Piraten können den Kapitalismus herausfordern

(pri) Wieder einmal haben die gern hochgelobten »Qualitätsmedien« einen Trend verschlafen. Sie jedenfalls haben das Aufkommen einer neuen Partei, der »Piraten«, nicht kommen sehen, obwohl es seit Monaten dafür deutliche Anzeichen gab und zuletzt auch die Meinungsforscher für die Berliner Wahlen ihren kometenhaften Aufstieg voraussagten. Dennoch drängten sich die Journalisten wie gehabt am Wahlabend bei den Etablierten und beginnen nur langsam ein Phänomen zu begreifen, das – mehr noch als einst die Grünen – das Potenzial hat, diese Republik zu verändern.

 

Alle, die jetzt die Piraten als Anfänger, pubertäre Spinner, kindische Spaßpartei zu diffamieren versuchen, waren gestern übrigens noch jene, die die derzeitige Regierungskoalition als unfähig, dilettantisch, konzeptionslos schmähten und verzweifelt nach neuen politischen Kräften riefen und damit doch nur, wie sich jetzt zeigt, die alten meinten – weil sie sich gar nicht vorstellen können, dass tatsächlich eine neue Kraft die Bühne zu betreten in der Lage ist. Sie haben einfach nicht begriffen, dass gerade die Unfähigkeit der etablierten Politik, ihr Primat gegenüber der Wirtschaft, vor allem dem Finanzkapital, durchzusetzen, die Wähler frustriert. Immer wieder wird ihnen nur eine Spielart des Kapitalismus angeboten, eine immer schlimmer als die andere; sie sehnen sich nach einer Alternative und wählen, sofern sie nicht gleich zu Hause bleiben, unkonventionell, eine Partei, die alles anders zu machen verspricht.

 

Vor diesem Hintergrund war es nur eine Frage der Zeit, dass nun auch für das Prekariat – wie einst für das Proletariat – eine Partei ins Rampenlicht tritt, die sich um seine Interessen kümmert. Und es verwundert nicht, dass intellektuelle Vordenker diese Aufgabe übernehmen; sie sind dem Prekariat nur zum Teil zuzurechnen, stehen dabei durchaus für Bürgerlichkeit, allerdings eine progressive Bürgerlichkeit, die im verkrusteten Parteieinstaat längst verloren gegangen ist. Nicht zufällig sagte Gerhard Anger, Berlins Landesvorsitzender der Piraten, am Wahlabend: »Wir sind jetzt die stärkste liberale Partei in Berlin.« Weil das so ist, denken sie zugleich sozial, emanzipatorisch, paritätisch, in Teilen sogar konservativ. Gerade das aber, die Inkompatibilität der Partei mit der politischen Gesäßgeografie, ist das Neue an den Piraten und mithin ihre Stärke.

 

Das meint freilich keine Beliebigkeit; es ist vielmehr ein sehr moderner, verantwortungsbewusster Freiheitsbegriff, von dem die Piraten ausgehen. Was die Linke bisher nicht zusammenbrachte, nämlich das Soziale und das Libertäre, findet zur Einheit. Insofern muss es der Linkspartei schon zu denken geben, wie die Piraten gerade auch mit sozialen Forderungen bei den Wählern punkteten, die aus ihrem ureigenen Arsenal stammen, aber von ihr nicht durchgesetzt wurden, weil ihr der Machterhalt am Ende wichtiger war als die Interessen ihrer Klientel.

 

Es sind soziale Forderungen, die auch die Kernfragen der sozialistischen Idee waren: Wie gerecht ist das Eigentum verteilt? Und darf der Besitzer von Eigentum den alleinigen Nutzen daraus ziehen oder ist er nicht angehalten, diesen Nutzen mit anderen zu teilen? Es sind also im Grunde »alte« Fragen, die der Kapitalismus mit seinem Entstehen aufwarf und die mit dem Untergang der sozialistischen Alternative nicht erledigt, da nicht beantwortet sind. Jetzt kommen sie wieder auf die Tagesordnung, und das unter den neuen technischen und technologischen Bedingungen, die auch ganz neue Möglichkeiten einer gerechten Umverteilung des jetzt in den Händen weniger konzentrierten gesellschaftlichen Reichtums eröffnen.

 

Weil das die Piraten – wie diffus vorerst auch immer – artikulierten, zogen sie von allen Parteien, die bei den Wählern irgendwie links verortet werden, Stimmen ab und reaktivierten sogar einen Teil der Nichtwähler, die sich von der Politik eigentlich schon abgewandt hatten. Welch ein Zeichen der Sehnsucht nach einem anderen Weg als dem des heutigen deformierten Kapitalismus! Auch er war als Gesellschaftsmodell einmal fortschrittlich, und auch er bediente sich mit dem Buchdruck einer neuen Kommunikationsform, die Massen zu mobilisieren vermochte. Jetzt ist es das Internet, das diesbezüglich eine neue Qualität schafft – vielleicht auch für einen neuen Gesellschaftsentwurf.

 

Beschreiten die Piraten diesen Weg, schärfen sie ihr bereits im Umrissen erkennbares diesbezügliches Profil, haben sie alle Chancen, als neue progressive politische Kraft zu reüssieren und damit sowohl die schon lange ins Establishment abdriftenden Sozialdemokraten und Grünen als auch die ihnen auf diesem Weg folgende Linkspartei konzeptionell hinter sich zu lassen. Sie haben das Zeug zu einer unideologischen Bewegung, unbelastet von Vergangenheitsdebatten, praktisch vorangetrieben durch die sich rasant entwickelnden technischen Möglichkeiten des Digital-Zeitalters und theoretisch fundiert durch eine daher auf immer neue Bereiche ausgreifende Netzkultur.

8 Replies to “Die Piraten können den Kapitalismus herausfordern”

  1. Lächerlich!

    Die Piraten tun alles, aber nicht das kapitalistische Ausbeutungs- und Herrschaftssystem in Frage stellen.

    In Berlin haben sie sich sogar explizit gegen die Förderung des sozialen Wohnungsbaus ausgesprochen.

    Die ökonomischen Machtverhältnisse verschwinden ganz sicher nicht einfach dadurch, dass man die Internetaffinität von überwiegend bürgerlich privilegierten Mittelschichtsjugendlichen aufgreift und daraus eine pseudocoole Marke namens „Piraten“ entwickelt.

    Wer sich einbildet, dass daraus etwas anderes als die Reproduktion des Status quo entstehen kann – nicht umsonst haben bürgerliche Medien die Piraten in den drei Wochen vor der Berlin-Wahl massiv gepusht, um die Linke aus der Regierung zu trennen – leidet entweder unter Realitätsverlust oder verfolgt gerade die Absicht, wirklich progressive linke Kräfte, die unmissverständlich die Systemfrage, also auch die Verteilungs- und Eigentumsfrage stellen, zu schwächen.

  2. @ Change
    Man kann die ökonomischen Machtverhältnisse heute kaum noch mit den Rezepten des 19. Jahrhunderts verändern. Da sollte uns jede neue Idee willkommen sein, vor alle eine solche, die ausdrücklich die Einbeziehung von jedermann in die Lösungssuche proklamiert. Nehmen wir doch die Piraten beim Wort statt gleich abzuwinken!
    Es ist wohl auch zu einfach, eine dreiwöchige Medienkampagne für den Erfolg der Piraten verantwortlich zu machen. Sie wäre kaum erfolgreich gewesen, hätte die Linkspartei nicht zehn Jahre lang in der Senatskoalition versagt.

  3. @Change Besser kann man es nicht auf den Punkt bringen. Der / die Blogger/in scheint genaus so viel Ahnung von Politik zu haben wie die Mehrheit der Piraten und deren Sympathiesant/innen, sorry.

    @Oberblogsaenger Politik sind keine „Rezepte“.

  4. Wie auch immer und was man von den „Piraten“ im einzelnen halten mag: Ein erstaunlich optimistischer, ja beinahe euphorischer Beitrag pro „Piratenpartei“ in diesem ansonsten nüchtern-kritischen Blog. Ob hier nicht eher der Wunsch Vater des Gedankens ist, wegen der Enttäuschung über die Linkspartei?

  5. @ Markus
    Es ist schon Enttäuschung, aber es ist doch viel mehr. Denn es könnte sein, dass die Piraten einen Beitrag dazu zu leisten vermögen, die theoretische Ödnis hinsichtlich einer Alternative zum Kapitalismus, die sich nach 1989 ausbreitete, mit neuen Farben zu beleben und daraus vor allem praktische Politik zu machen, die für viele attraktiv ist, weil sie auf ihre ureigenen Bedürfnisse eingeht. Noch wichtiger als das durchaus ungewisse Schicksal der Piratenpartei könnte ein solcher geistiger Impuls sein, so er denn weiterverfolgt wird.

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