(pri) Die seit Monaten andauernde Kampagne westlicher Politiker und der auf sie eingeschworenen Medien gegen Syrien trägt inzwischen alle Züge des originalgetreuen Remakes eines Thrillers aus der Hochzeit des kalten Krieges. Ideologietreu und starrsinnig zogen sich die USA und ihre Verbündeten in flink erneut ausgehobene Schützengräben zurück und lassen sich daraus durch nichts vertreiben – weder durch den gesunden Menschenverstand, der den auch von vielen westlichen Beobachtern nach einer Intervention von NATO und den reaktionärsten arabischen Regimen in Syrien für unausweichlich gehaltenen ausgedehnten Regionalkonflikt im Nahen Osten in seinen Folgen für unkalkulierbar erachtet, noch durch die absehbaren Opferzahlen eines solchen Waffengangs, die jene des gegenwärtigen Bürgerkrieges innerhalb Syriens noch bei weitem übertreffen würden.
Gegen den gesunden Menschenverstand spricht aus Sicht westlicher Strategen die vage wahrgenommene Chance einer grundlegenden Veränderung der Kräftebilanz im Nahen Osten, also ein typisches Denkmuster aus den Zeiten des kalten Krieges. Die revolutionären Bewegungen in verschiedenen arabischen Ländern haben ein machtpolitisches Vakuum geschaffen, weil sich die neuen, progressiven Kräfte noch nicht sammeln, formieren und zukunftsweisende Konzepte entwickeln konnten, die eine Massenbasis finden. Diese Ungewissheit über die Zukunft und die Kräfte, die sie gestalten könnten, ist übrigens eine direkte Folge der bisherigen westlichen Politik, die die diktatorischen Machthaber im Nahen Osten ausnahmslos mit Geld und Waffen unterstützten und oft auch deren Kampf gegen die innere Opposition Vorschub leisteten. Der Westen verhinderte somit das Erstarken neuer, volksverbundener Gruppen und Persönlichkeiten, was ihm jetzt insofern zugute kommt, dass er Einfluss auf die Entwicklung in seinem Sinne nehmen kann – was im Prinzip heißt, die alte Politik der Unterwerfung und ökonomischen Ausplünderung dieser Länder fortzusetzen.
Dabei stützen sich USA und Europäische Union vor allem auf die noch verbliebenen reaktionären Diktaturen. Es sind Saudi-Arabien und die arabischen Emirate, also teilweise noch mittelalterlich regierte Staaten, in denen weder Menschenrechte geachtet werden noch Meinungsfreiheit herrscht, die als die neuen Verbündeten des Westens in der arabischen Welt firmieren. Beide Seiten eint der Hass gegen fortschrittliche Entwicklungen im Nahen Osten – sei es im Inneren, wo die Könige, Scheichs und Emire solche Entwicklungen m mit allen Mitteln zu verhindern suchen, sei es von außen, sobald diese Länder mit neuem Selbstbewusstsein die Beachtung ihrer politischen und ökonomischen Interessen einfordern. Dass der Iran beanspruchen könnte, die Atomenergie für sich zu nutzen, möglicherweise einschließlich des Baus einer Bombe, wird ihm vor allem von jenen verwehrt, die bereits Atommächte sind, darunter in vorderster Front Israel, das seit langem und als einziges arabisches Land über die Bombe verfügt. Dass Syrien die bisherige politische Architektur im Nahen Osten mit ihrer Dominanz prowestlicher Regierungen und Israels nicht anerkennen will, machte das Land schon unter George W. Bush zu einem »Schurkenstaat«, der mit allen Mitteln bekämpft wurde.
Obama mag angesichts des totalen Scheiterns seines Vorgängers in Irak zwischenzeitlich etwas zurückhaltender aufgetreten sein, doch nun spürt auch er die Gelegenheit, angesichts der Schwäche des »arabischen Frühlings« die alten Machtverhältnisse auf neue Weise zu etablieren. Deshalb haben er und die NATO den Versuch der Arabischen Liga, durch eine Beobachtermission und Dialog für eine friedliche Lösung in Syrien zu arbeiten, torpediert, indem sie Saudi-Arabien und die Emirate zum Verlassen der Beobachtermission veranlassten. Deshalb haben sie im Weltsicherheitsrat das libysche Szenario wiederholen und Russland und China zwingen wollen, ihnen freie Hand für einen erneuten Militäreinsatz zur Durchsetzung der eigenen Ziele zu geben.
Denn einzig Russland und China widersetzen sich – aus guten Gründen – dem erneuten Versuch des Westens, als ein Weltgendarm aufzutreten, der anderen Völkern die Regimes aufzwingt. Bei Libyen ist das noch gelungen, weil weder Russland noch China offensichtlich mit der westlichen Unverfrorenheit rechneten, eine vage UN-Resolution einseitig in ihrem Sinne auszulegen und als Basis für seinen bewaffneten Angriff auf ein UN-Mitglied zu missbrauchen. Dieser Präzedenzfall soll sich am Objekt Syrien nicht wiederholen. Sie wollen nicht zulassen, dass der Westen gemeinsam mit der monarchistisch-arabischen Reaktion die Herrschaft über den gesamten Nahen Osten erlangt – wobei sie natürlich zuerst an den eigenen Nachteil denken, aber objektiv auch einer nachteiligen Entwicklung für die arabischen Völker und ihrer Hoffnungen auf eine Verbesserung ihrer Lebenslage entgegenwirken.
Die erste Wahrheit zu Syrien besteht in dieser machtpolitischen Gemengelage; sie hat mit Menschenrechten und Verhinderung von Opfern unter der Zivilbevölkerung nicht das Geringste zu tun, sondern allein mit den Interessen des Westens, der zu ihrer Durchsetzung übrigens ungerührt über Leichen geht. Man erinnere sich des Libyen-Abenteuers, für das mit so hohem wie hohlem Pathos der Schutz von Menschenleben beschworen wurde – so wie jetzt im Falle Syrien. Doch dass der Libyen-Krieg der NATO nach unverdächtigen Schätzungen im Lande 35000 Tote kostete, vermutlich sogar mehr, wird fast völlig totgeschwiegen; ebenso wie die1500 arabischen und afrikanischen Flüchtlinge, die im Mittelmeer ertranken, weil ihnen die europäischen Menschenfreunde nicht helfen wollten. Dass ein Angriff auf das viel verteidigungsfähigere Syrien noch weit mehr kosten würde, ist ebenfalls kein Thema, während beinahe täglich willkürliche Zahlen über die dortigen Bürgerkriegsopfer in die Welt gesetzt werden. Wobei man auch da unterschlägt, dass es Opfer der Kriegführung beider Seiten sind, denn natürlich schießen die Deserteure, die sich zur »Freien Syrischen Armee« erklärt haben, auch nicht mit Platzpatronen.
Ebenso wenig interessiert die westlichen Politiker und die meisten Medien, dass ihre neuen Verbündeten gegen Syrien erst vor wenigen Monaten die Opposition in den eigenen Ländern blutig niedergeschlagen haben. Saudi-Arabien, das mit immer wieder aufflackernden Unruhen im eigenen Land zu kämpfen hat, schickte sogar Panzer und Soldaten ins benachbarte Bahrain, als dort eine Erhebung des absolutistische Regime hinwegzufegen drohte. In Jemen, wo seit fast einem Jahr die Entmachtung des Präsidenten Ali Abdallah Saleh gefordert wird, ist er noch immer im Amt. Niemand im Westen verlangt einen UNO-Beschluss, um ihn endlich zum Rücktritt zu zwingen. Auch in Kuwait, Oman und den Vereinigten Arabischen Emiraten kommt es immer wieder zu Protestaktionen, über die hierzualnde nicht einmal berichtet wird. Die Handy-Videos der dortigen Opposition finden kein Echo.
Natürlich gibt es in Syrien auch eine zweite Wahrheit, nämlich jene von der Ablehnung des brutalen Assad-Regimes durch eine wachsende Zahl von Syrern. Der von einer Bevölkerungsminderheit getragene Präsident repräsentiert große Teile seines Volkes nicht mehr; ob es tatsächlich schon eine Mehrheit ist, kann kaum jemand zuverlässig sagen. Aus diese Situation eine neue politische Konstellation zu machen, ist nicht Sache äußerer Kräfte, sondern allein des syrischen Volkes. Wenn dort eine Mehrheit den Wechsel will, helfen auch brutale Unterdrückungsmaßnahmen nicht mehr. Tunesien und Ägypten haben dies bereits bewiesen, wobei die Entwicklung im Land am Nil zeigt, dass ihre fortschrittliche Tendenz nicht nur der inneren Reaktion, sondern auch den westlichen Staaten nicht passt. Obwohl der dortige Militärrat mit ähnlicher Brutalität wie Assad gegen die ägyptischen Revolutionäre vorgeht, auch dort Schlägertrupps losgeschickt werden, um die konsequente Opposition niederzuschlagen, sind dazu aus den USA, der EU und den meisten ihrer Medien nur lendenlahme Erklärungen zu hören, keinerlei Forderungen nach Beendigung dieser Praxis durch die herrschenden Militärs. Auch die libysche Entwicklung, wo dem Volk die Revolution aus eigener Kraft verwehrt worden ist und nun die Repression samt Folter von den Schergen der neuen Machthaber fortgesetzt wird, übergeht man im Westen weitgehend mit Schweigen. Das Blut, das man in diesen Fällen durch Kollaboration an den eigenen Händen hat, will man nicht sehen; dafür zeigt man umso heuchlerischer auf das Blut, das nun angeblich an den Händen der Russen und Chinesen klebe.
Dabei ist klar, dass natürlich auch Moskau und Peking bei ihren Entscheidungen vor allem die eigenen Interessen im Auge haben. Sie beobachten mit großem Argwohn die geostrategischen Verschiebungen, die die USA und die NATO intensiv anstreben; die USA haben sie gerade mit der Verkündung einer neuen Militärdoktrin durchblicken lassen. Russland unterhält in Syrien einen Militärstützpunkt – wie die USA einen in Bahrain. China braucht das Öl des Iran – wie der Westenn das Saudi-Arabiens. Russland wie China sind an der Erhaltung eines starken Gegenparts zu Saudi-Arabien interessiert – wie die USA und die EU am Bollwerk gegen Iran. So spielen beide Seiten ihren Part – wie vor mehr als zwanzig Jahren. Eine gewiss unerfreuliche Entwicklung, für die man nur eine Seite – wie gegenwärtig praktiziert – nun wahrlich nicht verantwortlich machen kann.