(pri) Die Hängepartie um Christian Wulff ist zu Ende. Für die Kanzlerin eine Niederlage, aber auch die Chance, beizeiten ihre Machtbasis zu stabilisieren. Sie ist jetzt auf der Suche nach einer anderen Mehrheit.
Angela Merkels Erklärung war kurz und geschäftsmäßig. Ein knapper Dank an einen Präsidenten, der »die Bundesrepublik im In- und Ausland würdig vertreten« habe und dem sie »höchsten Respekt« zolle; dann ging sie schon zur Tagesordnung über – und das in typisch Merkelscher Weise.
Wieder einmal war sie in ihrer Politik von den Realitäten gestoppt worden und handelte mit dem schon bekannten Machtinstinkt, indem sie umstandslos die Weichen in Richtung einer anderen politischen Konstellation stellte – in der die FDP faktisch keine Rolle mehr spielt. Zwar werde sie mit den Koalitionspartnern sprechen, aber »anschließend unmittelbar auf die Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen zugehen«, um einen »gemeinsamen Kandidaten« für die nächste Bundespräsidentenwahl zu finden. SPD oder Grüne sind also Partner der Zukunft. Endgültig legt sich die Kanzlerin da noch nicht fest, schon um die Konkurrenz zwischen beiden zum eigenen Nutzen zu schüren.
Vorziehen würde sie freilich die Neuauflage der großen Koalition, war doch dieses Bündnis von 2005 bis 2009 aus ihrer Sicht recht erfolgreich – und das nicht nur, weil es zur Basis weiteren Machterhalts wurde, sondern auch wegen des harmonischen Geistes mit dem damaligen SPD-Führungspersonal. Mit Franz Müntefering konnte sie in ihrer Partei geforderte Maßnahmen zum Sozialabbau relativ leicht durchsetzen, zum Beispiel die Rente mit 67. Frank-Walter Steinmeier exekutierte ihre Außenpolitik ohne den Ehrgeiz, eigene Akzente zu setzen. Und in der Finanzkrise 2008 übte sie mit ihrem Finanzminister Peer Steinbrück den perfekten Schulterschluss.
Ganz anders dann in der schwarz-gelben Koalition seit 2009. Schon eine der ersten Entscheidungen, die Einführung einer Steuersubvention für Hoteliers auf Wunsch der FDP, erwies sich als Flop. Dann folgte ein Frühjahr der Entschlusslosigkeit, mit dem man die Wahl in Nordrhein-Westfalen nicht gefährden wollte, was mit dem Abtritt des CDU-Ministerpräsidenten Rüttgers endete. Auch die schwarz-grüne Koalition in Hamburg zerbrach, nachdem der dortige Regierungschef Ole von Beust vorzeitig das Handtuch geworfen hatte. In Hessen suchte sich Roland Koch einen lukrativeren Job, und schließlich kehrte gar Bundespräsident Horst Köhler, der ständigen Gängelei aus dem Kanzleramt überdrüssig, dem Schloss Bellevue den Rücken.
Mit dem »Herbst der Entscheidungen« 2010 sollte alles viel besser werden. Schwarz-Gelb beschloss die Verlängerung der AKW-Laufzeiten. Merkel erklärte die Landtagswahl in Baden-Württemberg zum Volksentscheid über das umstrittene Bahnhofsprojekt Stuttgart 21. Sie beauftragte den »Hoffnungsträger« Karl-Theodor zu Guttenberg mit der Bundeswehrreform. Drei eklatante Fehlentscheidungen.
Den AKW-Beschluss musste sie nach der Katastrophe in Fukushima revidieren. Baden-Württemberg erhielt mit Winfried Kretschmann einen grünen Ministerpräsidenten, und zu Guttenberg, den sie gar noch als betrügerischen »Doktor« in ihrem Kabinett halten wollte, blieb am Ende nichts anderes als der Rücktritt. Schließlich zerbrach erst unlängst das Jamaika-Bündnis im Saarland, und seit acht Wochen wurde der von ihr auserkorene und auch gegen Widerstand in den eigenen Reihen durchgesetzte Bundespräsident Christian Wulff zur Hypothek, die an die eigene Substanz ging.
Dass Angela Merkel bei all dem ziemlich ungeschoren davon gekommen ist und in Meinungsumfragen sogar zulegen konnte, verdankt sie vor allem dreierlei. Zum einen der Schwäche des sonstigen Personals der Koalitionsparteien. Keiner ihrer Minister fällt durch besondere Ideen auf. Von der Arbeitsministerin Ursula von der Leyen kommt überwiegend heiße Luft, Innenminister Hans-Peter Friedrich ist ein Schatten seiner selbst, und bei der FDP streiten Parteichef Philipp Rösler und sein Vorgänger Guido Westerwelle darum, ob nicht doch sie die blassesten Figuren im Kabinett seien.
Wolfgang Schäuble und Thomas de Maizière, die sich davon am ehesten abheben könnten, unterwerfen sich bis zur Selbstaufgabe den Wünschen des Kanzleramtes, wobei der Finanzminister seine einstigen europäischen Überzeugungen dem national-populistischen Kurs der Chefin opfert. Mit ihm reüssiert Merkel als »Krisenmanagerin«, die das »deutsche« Geld zusammenhält, was hierzulande allemal gut ankommt, jedoch nach Meinung vieler sowohl politisch als auch ökonomisch zu einem bösen Erwachen führen kann.
Der wesentlichste Grund für den demoskopischen Erfolg der Kanzlerin dürfte jedoch darin liegen, dass sie es versteht, ihre Politik mit systemstabilisierenden und zugleich populären Positionen von SPD und Grünen abzugleichen und das Ergebnis der eigenen Partei als alternativlos zu verkaufen. Dies war so bei der Familienpolitik, bei der Abschaffung der Bundeswehr, nach dem Fukushima-Schock bei der Atomkraft, vorsichtig sogar in der Integrationspolitik und vielleicht bald auch in der Frage des Mindestlohns.
Merkels Kurs verläuft immer öfter parallel zu jenem einer SPD, in dem deren rechter Flügel den Ton angibt – was ihr zwar in Teilen der eigenen Partei als Verrat an Werten der Union ausgelegt wird, für die Wähler jedoch eher ein Plus ist. Ihre gestrigen Avancen an die beiden ihr genehmen Oppositionsparteien sind nur ein weiterer Schritt auf diesem Weg.