(pri) Was die etablierten Parteien wie auch die ihnen verbundenen Medien – von rechts bis links – zum Wahlerfolg der Piraten im Saarland zu sagen haben, ist wie bisher nichts anderes als schlecht kaschierte Herablassung und offene Überheblichkeit. Zwar dämmert ihnen inzwischen, dass das Berliner Ergebnis der neuen Partei keine Eintagsfliege war, sondern – belegt durch die jetzige Wiederholung in einem Flächenland – einen Trend begründete, doch eine intelligente Antwort haben sie darauf nicht. Und das ist wenig überraschend, sind doch die Piraten gerade deshalb entstanden und werden absehbar immer stärker, weil es der Politik hierzulande schon lange an Intelligenz und Innovationsfähigkeit mangelt, weil sie mit ihren Inhalten weitab von den Interessen der Bürger und in total verkrusteten Strukturen agiert. Sich daraus zu lösen, ist ihnen wohl ein zu langer und schmerzhafter Prozess; genau dies aber garantiert den Piraten weiteren Aufschwung bis hin wohl zum Einzug in den Bundestag im kommenden Jahr.
Eine solche Prognose ist vor allem deshalb kaum gewagt, weil die Piratenpartei Wähler aus allen politischen Lagern anzieht. Fast ein Drittel der CDU-Verluste (4000) kamen ihr zugute, aber auch ein Viertel der Abtrünnigen bei der Linken (7000), fast die Hälfte der Abwanderer von den Grünen (3000) und sogar 4000 ehemalige FDP-Wähler und schließlich 3000, die nicht mehr für die SPD votieren wollten. Vor allem aber holten sie 8000 Stimmen von ehemaligen Nichtwählern, überwiegend junge Leute, die sich von der Politik schon verabschiedet hatten und nun plötzlich doch wieder einen Sinn darin sehen, sich zu engagieren.
Vor solch unideologisch breiter Zustimmung stehen alle anderen Parteien fassungslos, weil sie einfach nicht in ihr Weltbild passt. Womit sie freilich nur ihre Abgehobenheit von den Menschen und ihre historische Vergesslichkeit beweisen, sonst wüssten sie von der Attraktivität eines Politikansatzes, der von der Sache ausgeht und sich nicht auf parteiliche Vorteilsnahme beschränkt. Denn möglicherweise sind die Piraten die zeitgemäße und durch das Internet optimierbare Variante der einstigen Runden Tische in der Wendezeit, wo es auch nicht um eine starre Gesäßgeografie ging, sondern darum, aus allen Beteiligten deren kluge und vernünftige Ideen zu destillieren und daraus konkrete Projekte zu machen. Schon damals lächelten die Führungen der etablierten Parteien darüber hinweg und brachten diesen neuen Politikansatz zu Fall – mit dem Ergebnis stets wachsender Parteienverdrossenheit und Wahlabstinenz, aber auch der hartnäckigen Suche nach anderen Formen demokratischer Teilhabe der Bürger.
Nun also ein neuer Versuch mit den Mitteln der Piratenpartei, der vor allem durch die Begeisterung und das Engagement fasziniert, mit dem sich junge Leute in die Politik stürzen und ohne zuerst nach Posten und Privilegien zu fragen, geradezu lustvoll um Veränderung kämpfen. Ihren Charme macht es aus, dass sie bisher der Versuchung widerstanden, möglichst schnell die Hardware wie die Software der Etablierten zu kopieren, sondern dass sie für ihre Politik auch neue Programme schreiben. Orientiert am Bürger und seinen Interessen, stellen sie jeweils das in den Vordergrund, was ihm auf den Nägeln brennt, was ihn unmittelbar interessiert, und finden nichts dabei, andere Fragen zunächst außen vor zu lassen – bis diese dann zu drängenden und klärungsbedürftigen werden.
Vor allem aber behandeln sie die anstehenden Probleme nicht in vermeintlichen Expertengruppen unter Ausschluss der Öffentlichkeit, aber stets unter zielführender Mitwirkung undurchschaubarer Lobbyistenzirkel, sondern beziehen alle ein, die dazu etwas sagen können und wollen. In diesem urdemokratischen Austausch der Meinungen und Positionen kommen sie zu einem Ergebnis, das viele kluge Gedanken in sich trägt, aber auch dort, wo sich der Einzelne nicht wiederfindet, auf Akzeptanz stößt, weil die Methode der Entscheidungsfindung überzeugt. Demokratielehrer in der Aktion also und nicht nur als beredsame Prediger, die den Praxistest gerade im Saarland glänzend bestanden haben, gelang es dort doch, in kürzester Zeit und unter widrigen Bedingungen ein Wahlprogramm zu präsentieren, das auf Anhieb 7,4 Prozent der Wähler ansprach.
Eine Erfolgsgarantie auf Dauer ist das freilich nicht. Und das weniger, weil den Piraten die Inhalte und Ideen ausgehen, Begeisterung und Hartnäckigkeit erlahmen könnten, sondern wegen ihrer Inkompatibilität mit dem bestehenden System. CDU/CSU und SPD blicken am gelassensten auf die neue Konkurrenz, denn sie verlassen sich auf den Überbau, die Strukturen, die sie in langer Parteigeschichte schufen und zementierten und die bisher noch jede Basisinitiative erstickt haben. Die Grünen, einst mit ähnlichem Überschwang wie die Piraten angetreten, sind längst in dieses System integriert. Die Linke nur deshalb nicht, weil sie von den Etablierten rechts von ihr unverändert als Schmuddelkind behandelt wird, doch der innerparteiliche Streit dreht sich weniger um die Beschreibung einer Alternative als um das Abschleifen aller Kanten, um vielleicht doch in den Schoss des Establishments zu gelangen.
Hinsichtlich der Piraten ist die ganz große Koalition von CSU bis Linkspartei längst geschmiedet. Sie sind sich einig in der Ablehnung der neuen Alternativen, besonders da, wo sie an einstige eigene Vorstellungen erinnern und hoffen, mit ihnen fertigzuwerden – ob durch Vereinnahmung oder Ausgrenzung oder auch nur hilflose Verächtlichmachung. Insofern kann es gut sein, dass zwar in der Parteieinlandschaft eine neue attraktive Farbe aufscheint, aber diese vor der Beständigkeit des grauen Untergrunds bald verblasst. Dann wäre abermals eine Hoffnung der Bürger auf politischen Wandel, der ihnen nützt, dahin. Doch jede dieser Erfahrungen macht auch klüger – für die nächste, dann vielleicht erfolgreichere Unternehmung.
Es stimmt, die SPD hat sich selbst zum Mehrheitsbeschaffer der CDU degradiert.
Und selbst, als sie noch unter Schröder und Rot/Grün gestalten konnte, all ihrer sozialer Kleider entledigt.
Der Vergleich zwischen den runden Tischen, die demokratisch gestalten wollten, im Gegensatz zu den von den Parteien ernannten Expertenrunden ist sehr treffend.
Denn letztere haben uns die Hartz Gesetzgebung, die Riesterrente auf Kosten der Rentenversicherten, sowie viele andere für den Bürger schlimme „Reformen“ gebracht.
Es bleibt zu hoffen, dass die Piraten nicht den Weg der Grünen gehen werden, sich nicht kaufen lassen werden.
Denn was ist von den früheren Grünen Forderungen übrig geblieben?
Als sie damals, unter dem Namen Bunte Liste in Hamburg antraten, da forderten sie natürlich auch den Atomausstieg, aber nicht nur. Die Hauptforderungen waren ein kostenloser Nahverkehr, ein Bedingungsloses Grundeinkommen von etwa 800 DM, bezahlbaren Wohnraum, höhere Benzinpreise von denen dann der ÖPNV finanziert und vor allem im ländlichen Raum ausgebaut werden sollte.
Was ist aus diesen Forderungen bei den Grünen geworden? Als sie in das Rathaus einzogen, später eine Koalition mit der SPD eingingen, da war von diesen Forderungen nichts mehr zu hören. Was unter einem SPD Bürgermeister auch kaum verwunderlich war.
Vielleicht werden ja die Piraten standhafter bleiben, durch ihre Form der Bürgerbeteiligung und nicht derartig enttäuschen wie die Grünen es taten.
Vielleicht ist es aber auch nur ein Traum, für den die Zeit mal wieder reif ist, bis er wieder ausgeträumt ist.
Ich hoffe es nicht und vielleicht sind oder werden sie ja wirlich die wahren „Demokratielehrer“.
Liebe Grüsse
Also die Forderung der Grünen nach höheren Benzinpreisen sehe ich erst mal erfüllt. Nur, das Geld kommt halt woanders an. Das kennt man ja vom eigenen Konto. Unser Geld ist nicht weg, es ist eben nur halt woanders. Sollten die Piraten diese Schieflage hinkriegen, kaufe ich mir sofort eine Augenklappe.
Das Wort „Gesäßgeografie“ im Text ist wirklich eine verbale Kostbarkeit!
In einigen Punkten stimme ich Ihnen durchaus zu. Zum Beispiel finde ich es beachtlich und begrüßenswert, dass dank dieser neuen Partei viele Nichtwähler mobilisiert werden können. Nichts schadet unserer Demokratie mehr als eine geringe Wahlbeteiligung und geringes politisches Interesse der Bevölkerung. Auch der Zielsetzung, den politischen Prozess transparenter und offener für die Bürger zu gestalten, stehe ich positiv gegenüber.
Jedoch kritisieren Sie in Ihrem Artikel für meinen Geschmack die anderen Parteien in einer zu pauschalen Art und Weise. Es ist ein großer Unterschied, in Regierungsverantwortung (gewesen) zu sein oder als (außerparlamentarische) Opposition Kritik zu üben (womit ich nicht bestreiten will, dass die Opposition eine ebenso wichtige Rolle spielt wie die Regierung).
Auch bezüglich der verkrusteten Strukturen in den anderen Parteien, die Ihrer Meinung nach „bisher noch jede Basisinitiative erstickt haben“, muss ich Ihnen leider widersprechen. Gerade die Basis ist es, die heute durchweg die Qualität des politischen Meinungsbildungsprozesses ausmacht. Auch in CDU/CSU, SPD und bei den Grünen gibt und gab es schon immer ein starkes Mitspracherecht für die Basis. Zu nennen sind unter anderem bereits ausgearbeitete Pläne für die Urwahl des Kanzlerkandidaten und der Politikrichtung der SPD, die Nähe der Union beim Bürger durch aktive Kreis- und Ortsverbände bis hin zu den Grünen, die auf eine starke Einbindung der Bürger etwa in Fragen der Nuklearpolitik oder bei Planfeststellungsverfahren für Bauvorhaben setzen.
Es ist richtig, dass es natürlich in allen Parteien seitens ihrer Basis Bemühungen gibt, die eigene Meinung einzubringen und – so weit möglich – „nach oben“ zu transportieren. In den Kommunen kann dies auch erfolgreich sein, wenn nicht die berühmten „Sachzwänge“, meist finanzieller Art, dagegen stehen. Aber schon in den Ländern und erst recht auf Bundesebene ist es selten, dass von Basisinitiativen, sofern sie nicht mit der Programmatik der jeweiligen Partei konform gehen, etwas oben ankommt und dann dort auch noch umgesetzt wird. Selbst die direkt gewählten Wahlkreisabgeordneten müssen oft oihnmächtig Fraktionsdisziplin üben, auch wenn ihnen ihre Basis etwas anderes nahe gelegt hat.
Und die Diskussion über die Piraten zeigt, dass man daran nichts ändern will, nicht einmal den Versuch dazu machen. Gerade diese Erfahrung bei den Wählern macht die Piraten so attraktiv, auch wenn sie bisher nicht mehr als eine Hoffnung verbreiten – eine Hoffnung freilich, die sie mit den anderen Parteien immer weniger verbinden.
Hab eben erst dies Blog entdeckt. Schreib ich mal trotzdem was: Zustimmung zu Uwe Gerig, “Gesäßgeografie” ist wirklich köstlic!. Aber auch inhaltlich finde ich den Vergleich mit den runden Tischen gut.