Die unerwünschte Revolution im Nahen Osten

(pri) Wenn sich ein System erst einmal fest etabliert glaubt, mag es Aufruhr nicht mehr. Er ist zwar nützlich zur Durchsetzung des eigenen Gesellschaftsmodells, und man hilft ihm auch durch Intervention von außen gern nach, aber dann wird flugs das »Ende der Geschichte« proklamiert – auf dass alles so bleibe, wie man es zu eigenem Nutz und Frommen eingerichtet hat. Ganz offensichtlich ist es diese Grundhaltung, die – nach dem Sozialismus – jetzt der Kapitalismus einnimmt und die ihn daher so verstört auf die Vorgänge im Nahen Osten blicken lässt.

 

Solange dem Westen die Entwicklungen in Tunesien, Ägypten, Libyen, Syrien und anderswo überschaubar und in eine genehme Richtung zu steuern schienen, war er bereit, sie »Revolution« zu nennen. Nun aber, wo diese Revolution eine Eigendynamik gewinnt und zu einem Resultat geführt werden soll, das möglicherweise auch das westliche Herrschaftssystem in Frage stellt, schaut man verstört nach Nahost und tut in der Regel das Falsche – vor allem deshalb, weil man den Dingen nicht ihren von den Menschen vor Ort angetriebenen Lauf lassen will, sondern sie zu bremsen, ins eigene Fahrwasser zu lenken versucht.

 

Was sich im Nahen Osten abspielt, ist im Kern offenbar ein Ringen zwischen den alten, traditionellen Kräften eines streng religiös geprägten Islam und freier denkenden, mehr oder minder liberalen und aufgeklärten Menschen einer neuen Generation – und damit vergleichbar mit den bürgerlichen Revolutionen in Europa, die das Feudalsystem ablösten. So wie sich diese Auseinandersetzung über Jahr über Jahrhunderte hinzog und immer wieder mit blutigen Eruptionen verbunden war, so zeichnet sich eine ganz ähnliche Entwicklung auch in Nahost ab. Es war nicht erstaunlich, dass nach dem Sturz der diktatorischen Regimes, die sich inhaltlich durchaus progressiv vom dogmatischen Islam abhoben, mit ihren repressiven Methoden jedoch jede emanzipatorische Regung erstickten und damit als zukunftsweisende Kraft nicht in Frage kamen, die gut organisierten und über die Religion tief im Volk verankerten Islamisten die Oberhand gewannen. Ihr Denken war vertraut, das der überwiegend jungen Aufrührer neu und unerprobt; man lehnte sich an Geläufige an.

 

Dass die Islamisten zwar anders als die etablierte Macht, aber doch eben auch für die Vergangenheit stehen, wurde schnell klar und zum Auslöser einer neuen revolutionären Welle. Die Aktivisten des »arabischen Frühlings« sahen sich in ihren Zielen betrogen, und immer mehr Bürger folgten ihnen, worauf zum Beispiel die ägyptischen Muslimbrüder – wie zuvor Mubarak – mit Repression und staatlicher Gewalt antworteten. Die Armee machte dem vorerst ein Ende, wobei sie kaum als wirklich progressive Kraft zu betrachten ist, sondern eher als Restbestand des früheren Regimes, der jedoch in dialektischem Sinne plötzlich objektiv eine fortschrittliche Rolle spielt. Wobei abzuwarten bleibt, ob die Militärs letztlich auf die Wünsche und Erwartungen der Volksmehrheit eingehen oder ihr eigenes Spiel zu machen versuchen, was mit großer Wahrscheinlichkeit zu neuen gewaltsamen Ausbrüchen führen würde.

 

Der Westen steht dieser Entwicklung ziemlich verständnislos und ohnmächtig gegenüber. Er hatte sich in seien konservativen Reflexen schnell mit der neuen Macht, den Muslimbrüdern in Ägypten und traditionellen bis fanatischen Islamisten in anderen arabischen Ländern, so machtbesessen und undemokratisch sie auch vorgingen, arrangiert; versprachen sie doch Stabilität und Berechenbarkeit für westliche Einflussnahme und die Neutralisierung der wahren Volkskräfte, die der abendländischen Dominanz über den arabischen Raum ein Ende zu machen drohen. Erst waren es die Mubaraks, Ben Alis oder gar die Gaddafis, auf die der Westen setzte, weil sie für »Ordnung« sorgten, jetzt empfahlen sich die Islamisten als Ordnungsmacht. Ignoriert wurde im einen wie anderen Falle der Wille der Völker; deren revolutionärer Impetus wird als demokratiefeindlicher Aufruhr, als Putsch diffamiert – ungeachtet dessen, dass er sich auf stetig wachsende Mehrheiten stützt.

Im arabischen Raum vollzieht sich eine unerwünschte Revolution. Sie ist so unerwünscht wie jede Volkserhebung, die der Kontrolle der etablierten Macht entgleitet und auf die diese unverzüglich mit Gewalt reagiert, ohne dabei sonderlich zimperlich zu sein. Staatliche, also Macht erhaltende Gewalt einer bestehenden Ordnung ist in dieser Sicht legitim, nicht jedoch systemstürzende Gewalt, und sei sie durch Mehrheiten noch so legitimiert. Dass die Ägypter und andere arabische Völker sich einer solchen ahistorischen Sichtwiese nicht unterwerfen, macht sie zum Hoffnungsträger weit über die Region hinaus.

3 Replies to “Die unerwünschte Revolution im Nahen Osten”

  1. Den Vergleich der Unruhen in der arabischen Welt mit den bürgerlichen Revolutionen im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts halte ich für falsch bzw. nicht vergleichbar (im Sinne von Äpfel und Birnen).
    Die arabische Welt hat eine völlig andere Kulturentwicklung genommen wie die angelsächsische Welt, in der wir leben.
    Mit dem „Arabischen Frühling“ geht lediglich die postkoloniale Entwicklungsphase ihrem Ende entgegen. Jetzt prägt sich die vom Islam geprägte Kultur erneut aus.
    Ansich ein natürlicher Vorgang im Selbstbestimmungsrecht der Völker. Für den Westen natürlich ein geostrategisches Entsetzen ! Bedeutende Bodenschätze für den Import und große Absatzgebiete ihrer Überproduktion drohen außer Kontrolle zu geraten.
    Dagegen soll nun ein Szenarium mit CIA-Bestechungsgeldern, Bildung von „fünften Kolonnen“ und „Hilfeersuchen“ an die NATO gestellt werden.
    Dieses Konzept muß scheitern. Die USA haben das mit ihren Quasi-Niederlagen im Irak und in Afghanistan teuer bezahlen müssen. Auch die „Luftoperationen“ gegen Serbien und Libyen erbrachten keine andauernde Stabilierung dieser Regionen für den Westen.
    Diese Mißerfolge erzeugen immer größere Flüchtlingsströme nach West- Europa.
    Ab einer (bekannten) Größenordnung ist eine Integration nicht mehr möglich. Dann beginnt die Destabilierung Europas !
    Sollte das dann der gewünschte „Europäische Frühling“ werden ?

  2. So wie die abendländische Kultur keine Einheit darstellt, so ist auch der Islam nicht als Monolith zu verstehen. Und wie sich in Europa im vorigen Jahrtausend lange und blutige Kämpfe abspielten, ehe ein bei allen Rückfällen in barbarische Verhältnisse im Kern humanistisches Wertesystem entstehen konnte, so werden sich langfristig auch im Islam nicht rückständig-archaisch geprägte Denk- und Handlungsweisen durchsetzen, sondern solche, die im Wettkampf gesellschaftlicher Konzepte erfolgversprechend sind. Das haben jene, die die »arabische Revolution« in Gang setzten, längst begriffen; allerdings sind entgegenwirkende Beharrungskräfte in der arabischen Welt noch zu stark für ihren schnellen Erfolg. Es ist mit einem langen und blutigem Kampf zu rechnen; in diesem Sinne ist auch vor allem der Vergleich mit Europa zu verstehen.
    Inhaltlich wird das Gesellschaftskonzept der islamisch geprägten Länder sehr viel anders aussehen als das abendländische, was nicht heißt, dass es von vornherein schlechter sein muss. Vielleicht kann es viele der Gebrechen unseres kapitalistischen Systems vermeiden. Auf jeden Fall wird es keine Kopie von letzterem, wie viele im Westen sich wünschen und worauf sie im eigenen Interesse hinarbeiten. Gerade die ägyptische Entwicklung mit ihren spontanen Korrekturen zeigt sehr deutlich, wie die islamische Gesellschaft noch auf der Suche ist. Dass in dieser Zeit der Unsicherheit und Ungewissheiten viele ihr Heil in der Flucht in vermeintlich sichere Zonen suchen, ist normal, endet aber spätestens dann, wenn sich die Verhältnisse stabilisieren Dazu freilich trägt der Westen nichts bei, ganz im Gegenteil. Durch sein Bemühen, früheren Einfluss auf die arabische Welt zu behalten, verschärft er die Lage (siehe vor allem Syrien) und wundert sich dann, dass die Folgen auch ihn treffen..

  3. Widerspruch.
    Die Entwicklung Europas und der Neuen Welt ist eindeutig vom Christentum geprägt worden – von der abendländischen Kultur.
    Die arabische Welt und Persien haben ihre hohe Kultur dem Islam zu verdanken – der morgenländischen Kultur mit ihrer großen Toleranz fremden Religionen gegenüber.
    Der erste große Zusammenstoß waren die christlichen, fremde Religionen vernichtenden Kreuzzüge, die mit der Niederlage der Kreuzfahrer endeten.
    Heute erleben wir die Wiederholung dieser Geschichte – mit dem gleichen Ergebnis.

Comments are closed.