Die deutsche Einheit und ihre Grenzen

(pri) Hannover, wo sich heute die Politprominenz zur traditionellen und dadurch schon etwas abgestandenen 24. Einheits-Feier versammelte, hatte schon einmal diese Ehre. Damals, 1998, wurde sie nicht nur noch nicht so routiniert abgewickelt wie heutzutage, sondern bezog zusätzliche Brisanz zum einen aus der symbolischen Vorführung eines kleinen Epochenbruchs, mehr aber noch aus aus einem unerhörten Tabubruch.

Erst wenige Tage war es her, dass nach 16 Jahren Kanzlerschaft Helmut Kohl vom Wähler aufs Altenteil geschickt worden war, und nun fand ausgerechnet in der Stadt, wo sein Nachfolger bislang als Ministerpräsident residierte, diese Feier statt, die eine neue Ära anzukündigen schien, was sich freilich als Trugschluss erweisen sollte. Doch nicht dies wühlte die öffentliche Meinung damals sonderlich auf, sondern eine einzige Minute im Musikprogramm der Festveranstaltung, in der doch tatsächlich, variiert und verfremdet, die Nationalhymne des verblichenen östlichen »Unrechtstaaates« zu erkennen war.

Die damalige Debatte, die nachfolgend mit einem zeitgenössischen Bericht über die Einheitsfeier 1998 in Hannover dokumentiert ist, erinnert verblüffend an die gegenwärtige zum ewigen  Thema »Unrechtstaaat«; immerhin geht es jetzt nicht nur um ein paar Takte Musik, sondern um die Bildung einer Landesregierung. Aber die alten Reflexe sind unschwer zu erkennen und liefern damit einen traurigen Beleg dafür, wie sehr es dort, wo Machtfragen berührt sind, noch immer an der viel beschworenen inneren Einheit mangelt. Allein schon deshalb, weil solche demokratischen Rechte wie  Meinungs-, Presse-, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit zwar nicht beseitigt, aber mit klaren Grenzen versehen sind.

 

Tag der deutschen Einheit

»A scheene Musi« als Abgesang und Ouvertüre

Acht Takte deutscher Vergangenheit, einige heutige Taktlosigkeiten und die Suche nach einem neuen Takt für die Zukunft – Beobachtungen von einer Feier acht Jahre nach dem 3. Oktober 1990

Der achte Jahrestag der deutschen Vereinigung wurde für den »Kanzler der Einheit« zugleich zu einer Art Abschied. Sein Nachfolger Gerhard Schröder empfand ihn wohl eher als gelungenen Auftakt der neuen, seiner Regierungszeit.

Eigentlich war schon der Anfang von Bardo Hennings »Variationen zum Thema Deutschland« irgendwie unpassend. Denn seine Big Band mit Streichern schmetterte und tirilierte, als habe sie tatsächlich Oskar Lafontaines Hinweis beachtet, doch noch den bayerischen Defiliermarsch in die Suite einzubauen. Aber es war gar kein Bayer da und Helmut Kohl wohl auch nicht zum Triumphzug zu Mute. Mit dem niedersächsischen Ministerpräsidenten, dem er demnächst den Bonner Kanzlerbungalow übergeben wird und der seine unverhohlene Befriedigung darüber aus allen Knopflöchern quellen ließ, betrat er am Sonnabend eine Minute vor 12 den Kuppelsaal der hannoverschen Stadthalle, in der 1998 der offizielle Staatsakt zum »Tag der deutschen Einheit« stattfand. Zwischen beiden mit der zierlichen Doris Schröder-Köpf wohl nur ein unzureichender Puffer, weshalb ihr das Protokoll bei der Platzzuweisung einige zusätzliche breite Rücken beigab: außer Christiane Herzog an Kanzlers Seite noch die beiden präsidialen Festredner Vaclav Havel aus Prag und Roman Herzog.

Sie alle lauschten dreieinhalb Minuten lang dem schmissigen Entree des Berliner Jazzkomponisten, um alsdann den Atem anzuhalten. Denn nun erklang – unverkennbar für jeden Bürger der fünf neuen Länder, aber auch für viele Sportfans überall auf der Welt, die die Melodie bei Olympischen Spielen und ähnlichen Gelegenheiten Dutzende Male zu hören bekamen – jenes Eisler-Stück, dessen Text immer weniger kannten: »Auferstanden aus Ruinen …« Erst langsam, dann schneller, insgesamt 60 Sekunden, variierte Henning die Hymne der untergegangenen DDR. Und alles schaute auf die erste Reihe. Dort saß Helmut Kohl wie immer ungerührt, ließ sich von der Musik, vor der er – gerade elf Jahre ist es her – sogar einmal stramm gestanden hatte, umspülen wie ein Fels von der Brandung. Schröder grinste frech, und Lafontaine beugte sich nach den erste Takten zu seinem Nachbarn Wolfgang Schäuble hin; vielleicht sagte er ihm: »Hier singt man ›… und der Zukunft zugewandt‹.« – die zweite Zeile also, die der CDU/CSU-Fraktionschef einst eines Buchtitels für würdig befunden hatte.

Das war im Jahre 98, inmitten des Wahlkampfs, alles vergessen. Jetzt mutierten acht Takte der Hymne von Hanns Eisler und Johannes R. Becher zur »Verhöhnung all der Opfer des DDR-Unrechtsregimes«, zu deren Sachwaltern sich unverzüglich der (inzwischen zurückgetretene) CDU-Generalsekretär, der (inzwischen von seinen Wählern nicht wieder in den Bundestag entsandte) Bonner Regierungssprecher, der (inzwischen abgewählte) Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern und vor allem die CSU und die bayerische Staatsregierung mit Edmund Stoiber an der Spitze erklärten. Doch, oh Wunder, die Kuppel der Stadthalle hielt. Oder – wie es der Bundespräsident später ausdrückte – »unser Staat hält das aus«. Längst war die Musikcollage schon bei einem anderen Lied, jenem der Moorsoldaten, das eine ungleich schlimmere Epoche der deutschen Geschichte ins Gedächtnis rief. Vaclav Havel erinnerte später daran, als er über das Böse in der Welt reflektierte und wie gut es für alle sei, wenn Böses zusammenbreche. »Von Deutschland gilt das doppelt, denn das Böse in Deutschland bedeutet das Böse in Europa und das Böse in Europa bedeutet das Böse in der ganzen Welt. Wer das nicht weiß, der hat nicht bemerkt, wie die zwei Weltkriege entstanden sind.«

Ihm antwortete betretenes Schweigen, und da war man ja auch schon über die unangenehme Stelle hinweg – nun bei der korrekten Hymne: »Einigkeit und Recht und Freiheit …« Der Komponist ging auch mit diesem nationalen Symbol spielerisch um. Oder – wie es Hintze bei der musikkritischen Diskussion im Vorfeld genannt hatte – »verhunzte« es. Zwar hatte die niedersächsische Landesregierung zuletzt auf die schon angekündigte interpretatorische Handreichung zu den »Variationen zum Thema Deutschland« verzichtet, aber Roman Herzog gab sich einen Ruck und sprang ein. Nein, die Becher-Eisler-Kreation sei keine Gefahr für das bundesdeutsche Gemeinwesen, »wenn nur zweierlei klar bleibt: Daß das System der SED nicht von irgendwelchen kapitalistischen Machenschaften aus dem Sattel gehoben wurde, sondern daß es selbst abgewirtschaftet hatte und daher von seinem eigenen Volk beseitigt wurde, und daß dieses Volk vor der Geschichte nicht durch die damalige Hymne repräsentiert wird, sondern durch den Ruf: ›Wir sind das Volk‹.«

So grundsätzlich allerdings hatte es Bardo Henning nicht gesehen. Er wollte nur »Schwung in die Verhältnisse bringen und Integration fördern«. Deshalb stimmte er zum Schluß noch Peter Kreuders »Good bye Johnny« an, einen temperamentvollen Schlager, der nicht nur einige Takte mit der Eisler-Komposition gemein hat, sondern auch im Text in schönster Weise mit beiden Nationalhymnen korrespondiert, weshalb ihn der Chor im Schlußgesang jubilierend aufnahm: »Eines Tages, eines Tages, mag`s auf Erden sein, mag`s im Himmel sein, sind wir wieder vereint.« Das Publikum applaudierte heftig, sogar Schäuble stimmte ein, Kohl erst nach langer Bedenkpause und dann kurz und lustlos. Schröder sprang auf und reichte dem Komponisten und Dirigenten die Hand.

Roman Herzog hatte sich in seiner Rede gewünscht, daß »wir noch mehr ins Gespräch miteinander kommen. Erzählen wir uns wechselseitig unsere Biographien, um daraus Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu erkennen!« Bayerns Repräsentanten mochten nicht einmal die unterschiedlichen Lieder hören und zogen sich in beleidigter Abstinenz auf – Franz Josef Strauß zurück. Mit seinem Todestag am 3. Oktober vor zehn Jahren hatte er ihnen vielleicht einen letzten Gefallen getan, denn so konnten sie gleich mehreren Peinlichkeiten fernbleiben: der Reverenz für Gastgeber und gleichzeitigen Wahlsieger Schröder, dem Präsidenten des Nachbarn Tschechien, mit dem sie noch eine Rechnung offen zu haben meinen und schließlich dem »Hymnenmix«, der ihnen den willkommenen »skandalösen« Vorwand dafür gab. Statt dessen sammelte Stoiber die Standhaften – von Waigel über Glos bis Protzner – zum Totengedenken in der Münchener St.-Michaels-Kirche um sich und schickte nur die unglückliche stellvertretende Protokollchefin Gabriele Stauner nach Hannover, die dort das Fernbleiben ihres Chefs mit der »politischen Dimension« der Sache begründete und so einen aufschlußreichen Einblick in christsoziale Weltanschauung gab: Künstlerische Freiheit ja, aber gezügelt durch Staatsräson. Vaclav Havel, die die bayerischen Zumutungen gerade an sein Land genau kennt, warnte denn auch – ohne direkte Adresse – vor der schlimmsten europäischen Tradition: »Hochmut. Die dumpfe Überzeugung, daß gerade ich das Recht habe, meine Idee in der Welt zu verbreiten und sie allen anderen aufzuzwingen. Der unwiderlegbare Irrglaube von der eigenen Unfehlbarkeit.«

Gerhard Schröder jedoch wollte sich die Feierstimmung nicht verderben lassen und kommentierte Bardo Hennings Werk, indem er kurz in die süddeutsche Mentalität schlüpfte: »A scheene Musi, würden die Bayern sagen.« Und hatte die Lacher auf seiner Seite. Sogar Kohl schmunzelte unwillig; er hatte sich immerhin den Tort des Kommens angetan, obwohl er als Wahlverlierer und dazu nach dem Protokoll ohne Rederecht Gefahr lief, als Jammergestalt zu erscheinen. Zwar ersparte ihm Schröder, der als Bundesratspräsident sprach, nicht einige Wahrheiten über die abgelaufene Regierungszeit, aber er rührte ihn zugleich mit seinem »Respekt für Ihren Anteil an der wiedergewonnenen staatlichen Einheit«. So konnte Helmut Kohl einigermaßen versöhnt zurückfahren – es sei denn, ihm blieb aus Hennings Musik eine andere Passage in Erinnerung: das höhnische Hexengelächter, mit dem er die Variationen zum Thema der rheinischen Nonne Hildegard von Bingen abschloß. Es mag ihm noch in den Ohren geklungen haben, während sein Nachfolger schon beim Festempfang ein freudetrunkenes Bad in der Menge nahm.

(Veröffentlicht am 5. Oktober 1998 in »Neues Deutschland«)

One Reply to “Die deutsche Einheit und ihre Grenzen”

  1. Die Deutsche Einheit ist (völkerrechtlich gesehen) keine „wirkliche“ Einheit.

    Die DDR trat nach der alten (!) Fassung des Artikel 23 Grundgesetz der BRD (Gültigkeit von 23. Mai 1949 bis 03. Oktober 1990) in den Geltungsbereich ein (nach Satz 2): „In anderen Teilen Deutschlands ist es nach dem Beitritt in Kraft zu setzen.“
    Nach dem (west-)deutschen Rechtsverständnis von 1949 waren neben der SBZ/DDR auch die Gebiete Deutschlands bis zum 31. Dezember 1937 gemeint.

    Deshalb wurde „vorsichtshalber“ (auf Druck der Siegermächte) nach dem 03. Oktober 1990 der Artikel 23 GG (bis zur 1992 in Neufassung) außer Kraft gesetzt.

    Das „Provisorium“ Grundgesetz konnte dadurch (seit 1992″europäisiert“) überleben.
    Warum Artikel 146 GG nicht zur Anwendung kam, wird bis heute nicht offiziell begründet!

    Die Bürger der DDR und der BRD sind auch nicht „befragt“ worden (gemäß einer Volksabstimmung nach Artikel 146 GG) zum Einverständnis über den gefaßten Beschluß der „Selbstauflösung der DDR“ durch deren Parlament „Volkskammer.“
    Der ganze 03. Oktober 1990 hat in einer völkerrechtlichen „Grauzone“ stattgefunden!
    Daher hält sich auch die „Begeisterung“ in Ost und West bis heute in Grenzen.

    Die jährlichen „Zentralen Festveranstaltungen“, in den wechselnden Landes-Hauptstädten Deutschlands, ähneln auch immer mehr denen aus Zeiten der „erfolgreich integrierten“ DDR.
    Ein Plakat der oppositionellen „Straße“ in Hannover zog daraus ein Fazit:
    „MERKELt ihr nicht? Wir werden verGAUCKelt!“ Wie wahr !

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