(pri) Wenn der Historiker sich allzu sehr der Gegenwart nähert, begibt er sich in aller Regel auf Glatteis. Heinrich August Winkler, der als der Doyen hiesiger Geschichtsschreibung gilt, ist dem nicht entgangen, als er jetzt im vierten Band der »Geschichte des Westens« bis zum November 2014 ausgreift. Doch für »Die Zeit der Gegenwart« fehlen dem Historiker fast alle Instrumente. Er kennt weder die Papiere, die in den Regierungszentralen zu aktuellen Problemen und daraus folgenden Aktivitäten erarbeitet werden noch verfügt er schon über »Memoiren« der handelnden Personen. Es gibt noch keine tiefgründigen Analysen von Historikerkollegen, allenfalls journalistische Interpretationen mit ihrem kurzatmigen Gültigkeitsanspruch.
Dies wohl wissend beschränkt sich Winkler weitgehend auf eine lexikalische Aufzählung der Ereignisse der Jahre seit 1991. Diese Chronologie ist subjektiv, muss es naturgemäß sein, was zu akzeptieren wäre, wenn sie wissenschaftlich neutral erfolgte. Das tut sie aber nicht. Vielmehr folgt sie überwiegend dem hiesigen politischen Mainstream, lehnt sich an dem an, was aus Leitartikeln und Kommentaren der führenden Medien bereits hinlänglich vermittelt wurde. Ein Beispiel: Bei der Darstellung des Umsturzes in Kiew im Februar 2014 handelt der Autor die Bemühungen der Außenminister Frankreichs, Deutschlands und Polens sowie der ukrainischen Opposition um einen gewaltfreien und verfassungskonformen Machtverzicht Janukowitschs zwar noch auf gut zehn Zeilen ab, geht dann aber mit keinem Wort auf den sofortigen Bruch dieser Vereinbarung und die demonstrative Tatenlosigkeit ihrer westlichen Garanten ein, verschweigt mithin einen wesentlichen Aspekt zur Erklärung der folgenden Entwicklung (S. 502f.)
Dass eine solche Fehlstelle kein Versehen des Autors ist, wird auch bei vielen anderen Passgen seines 687-seitigen Werkes klar, vor allem aber beim wertenden Schlusskapitel »Vom normativen Projekt zum normativen Prozess: Rückblick und Ausblick«. Es wird offensichtlich, dass Winkler mit der Geschichte des Westens auch eine Rechtfertigung des Westens verbunden hat, natürlich nicht vordergründig propagandistisch, sondern sehr gediegen, Widersprüche nicht auslassend, aber doch mit dem unerschütterlichen Glauben: Alles wird gut!
Dabei ist sein Ausgangspunkt durchaus bestechend. Winkler betrachtet die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die die französische Revolution von 1789 als die Geburtsstunden eines »normativen Projekts des Westens«, das neben den Menschen- und Bürgerrechten auch die Herrschaft des Rechts, die Gewaltenteilung, die repräsentative Demokratie und die Volkssouveränität umfasst. An diesem Projekt müssten sich seitdem alle Staaten messen lassen (S. 585), und Winkler lässt auch durchblicken, dass der Westen gerade daraus seinen Anspruch ableitet, dieses Projekt überallhin in der Welt zu »exportieren«.
Dabei verschweigt er keineswegs, dass der Westen diese seine eigenen Prinzipien und Werte oft genug missachtet und verletzt hat – angefangen bei den amerikanischen Sklaven, für die die »Virginia Declaration oaf Rights« nicht galt, über den Kolonialismus, über Rassismus, Ausbeutung bis hin zu zwei von ihm vom Zaun gebrochenen verheerenden Weltkriegen (S. 584 ff.) – und auch danach ist ein Durchbruch für das westliche Projekt keineswegs zu konstatieren. Denn dieses vermeintliche Projekt krankte von Anfang an an seinem Widerspruch zwischen Menschenrechten, demokratischen Rechten für die einen und ihrer Verweigerung für andere. Insofern war die Geschichte des Westens seit dem späten 18. Jahrhundert weniger eine Geschichte der Durchsetzung dieser Prinzipien als eine ihrer Abwehr, wobei diese freilich immer wieder die Benachteiligten; die von den demokratischen Rechten Ausgeschlossenen zum Kampf für eben diese Rechte veranlasste. Gerade dies meinten Marx und Engels mit ihrer Deutung der Geschichte als einer »Geschichte von Klassenkämpfen«, nämlich der unterprivilegierten Klassen gegen jene mit den Privilegien des Besitzes, der darauf fußenden Regeln seiner Erhaltung, Sicherung, Mehrung, also letztlich mit dem Privileg der Herrschaft.
Winklers Materialsammlung reizt zu einer alternativen Deutung der historischen Abläufe; seine Belege führen nicht zwangsläufig auch zu seiner Interpretation, sie können auch ganz anders gelesen werden. Die akribisch beigebrachten Fakten und ihre Bewertung durch Heinrich August Winkler klaffen oft weit auseinander.
Aus dem zunächst dominierenden Kampf der Privilegierten gegen die Unterprivilegierten im Inneren wurde spätestens im 20. Jahrhundert ein Kampf der Privilegierten untereinander; es war ein Kampf um die Weltherrschaft, ausgetragen in zwei Weltkriegen. Damit geriet der im kapitalistischen System angelegte Widerspruch zwischen Inanspruchnahme der Prinzipien von Demokratie und Recht und ihrer Verweigerung in eine Sackgasse permanenter Auseinandersetzung zwischen Völkern, verbunden mit gigantischer Zerstörung. Er gebar aber zugleich eine Lösungsidee, die sich parallel mit der Ausprägung dieses Widerspruchs entwickelt hatte und nun sogar staatliche Gestalt annahm: den Sozialismus.
Bei Winkler wird dieser aber – in Übereinstimmung mit der gängigen, Partei nehmenden Lesart von Geschichte – nicht als objektives Resultat eines historischen Prozesses gewertet, sondern als ideologische Verirrung (S. 592) und als solche mit dem Faschismus unter dem Rubrum Totalitarismus gleichgestellt. Dabei ergibt sich aus Winklers akribischer Beschreibung der Abläufe vor allem im 19. und 20. Jahrhundert, dass der Faschismus und der von ihm ausgelöste 2. Weltkrieg der brutale Versuch waren, die 1776 und 1789 formulierten demokratischen und Menschenrechte weitgehend zu eliminieren, um die Herrschaft der Privilegierten zu optimieren.
Der Kommunismus hingegen strebte in der Theorie an, die demokratischen und Menschenrechte nicht nur gegen alle Einschränkungen zu erhalten und als solche zu optimieren (was eine Utopie mit bedenklichen Folgen sein mag, zunächst aber nichts an der guten Absicht ändert, S. 596). In der Praxis freilich führte auch er zu Einschränkungen der Freiheit und grausamen Verbrechen, was jedoch zumindest zum Teil seine Ursache darin hatte, dass er Macht gegen erbitterten Widerstand erst erkämpfen und dann erhalten musste, um überhaupt Wirkung entfalten zu können. Er teilte damit als Idee das Schicksal jener Ideen aus der US-Unabhängigkeitserklärung und der französischen Revolution, die ebenfalls zu blutiger Unterdrückung der (in der Regel, aber nicht immer rückwärtsgewandten) Widersacher geführt hatten. Gerade der faschistische Krieg, der sich sich ganz allgemein gegen Konkurrenten beim Kampf um die Weltherrschaft richtete, ist dafür ein überzeugender Beleg.
Nach der Niederwerfung des Sozialismus besann sich der Westen zwar verbal seiner einstigen Geburtsurkunden, indem er sie erneut in Worte fasste, doch wieder hielt er sich nicht daran. Er führte Kriege in Korea und Indochina – erst Frankreich, dann die USA, brauchte beinahe zwei Jahrzehnte, um seinen Widerstand gegen die Beendigung der Kolonialregimes aufzugeben, scheute auch neue Konflikte, vor allem in der nah- und mittelöstlichen Welt (Ägypten, Iran) und Lateinamerika nicht. Der Burgfrieden zwischen den westlichen Staaten war brüchig und wurde vor allem durch dass Vorhandensein des sozialistischen Weltsystems erzwungen, gegen das man sich mit NATO, EU und anderen regionalen Bündnissen zu wappnen suchte. Demokratische, gar Menschenrechtserwägungen spielten dabei zumeist kaum eine Rolle; Winkler selbst räumt ein, dass autoritäre und undemokratische Regimes in diesen Allianzen willkommen waren, wenn es nur gegen die Sowjetunion und ihr Bündnissystem ging (S. 599). Dass später einige dieser Diktaturen – in Spanien, Portugal, Griechenland – überwunden werden konnten, ist zwar nicht nur, aber wohl auch auf die Einflüsse aus dem Osten (Aufschwung kommunistischer Parteien) zurückzuführen, findet bei Winkler allerdings keine Erwähnung.
Tatsächlich waren diese Jahre, wie der Autor schreibt, »ein goldenes Zeitalter des Kapitalismus« (S. 598), als er im Wettbewerb der Systeme die ihm innewohnenden destruktiven, selbstzerstörerischen Kräfte zurückdrängte und die positiven Seiten seiner Wirtschaftsweise – Unternehmertum, Risikobereitschaft, Kreativität – zur Geltung brachte. Er war in dieser Hinsicht der sozialistischen Praxis, die ohne fortschrittliche theoretische Fundierung mehr reagierte als planvoll agierte, deutlich überlegen und spielte zusätzlich seine finanzielle Macht aus. Um den Sozialismus zu stoppen, entfachte der Westen zudem ein kostspieliges Wettrüsten, dem der Osten glaubte adäquat antworten zu müssen. Dazu kamen strukturelle Mängel des Sowjetsystems, das sich auf neue Herausforderungen nicht einzustellen vermochte und dogmatischen Vorstellungen des Regierens nicht nur verhaftet blieb, sondern sie auch als Modell für die gesamte östliche Gemeinschaft durchsetzte. All dies führte schließlich zur Auflösung des sozialistischen Systems und seiner Vormacht, der Sowjetunion; die dadurch neu entstehenden Staaten gliederten sich – zumeist mehr schlecht als recht – ins bestehende kapitalistische System ein, und man hätte meinen sollen, nun sei die Bahn frei für die Durchsetzung des normativen Projekts des Westens.
Das aber erwies sich als großer Trugschluss. »Mit dem Sowjetkommunismus trat der bislang hartnäckigste und langlebigste Widersacher des normativen Projekts des Westens von der Bühne ab« (S. 602), schreibt Winkler und verfällt damit dem gleichen Irrtum wie offensichtlich viele westliche Politiker. Vielmehr erhielten jetzt die systemimmanenten Widersacher dieses Projekts freie Bahn, und der Kapitalismus fiel in seine reaktionärsten Praktiken zurück. Die USA spielten sich fortan als Hegemon in der ganzen Welt auf. Sie ließen eine Wirtschaftsentwicklung zu, die immer mehr den Profit für wenige und immer weniger den sozialen Ausgleich in den Vordergrund stellt. Sie griffen noch ungenierter als zuvor nach den materiellen Ressourcen fast überall auf dem Erdball und aktivierten auf diese Weise zugleich starke Gegenkräfte. Das traf vor allem auf den Nahen und Mittleren Osten mit seinem Erdölreichtum zu, weshalb dort die antiamerikanischen Strömungen besonders wuchsen und selbst von reaktionären Herrscherhäusern nicht gebremst wurden. Die Folge war Widerstand gegen das expansive Vordringen der USA, der sich angesichts derer militärischen Überlegenheit nur in spektakulären Terroranschlägen äußern konnte, am sichtbarsten am 11. September 2001.
Darauf reagierte die vermeintlich einzige Supermacht reflexartig und exzessiv, was Winkler immerhin insoweit verstört, dass er Habermas‘ Befund zitiert, die USA »hätten ihre normative Autorität zertrümmert« (S. 604). Tatsächlich ist mit dem Ende des Sozialismus auch das Scheitern des »normativen Projekts des Westens« und das Ende jeglichen »normativen Prozesses« eingeläutet worden. Letzterer dient nicht mehr dazu, die eigene, auf Abwegen in Abgründe befindliche Gesellschaft wieder darauf festzulegen, sondern allein zur Diversion gegen andere Staaten und deren wie auch immer alternative Gesellschaftsentwürfe. Die Folgen sind verheerend und werden von Winkler dankenswerterweise bis in die Gegenwart hinein detailliert beschrieben (S. 604 ff.).
Angesichts dessen erstaunt allerdings der ungebrochene historische Optimismus des Autors, der seine Befunde diametral entgegengesetzt zu ihrem Gehalt bewertet. Nichts spricht derzeit für eine Korrektur dieses Irrwegs, der bei G. W. Bush vielleicht noch als mehr oder minder subjektiv bedingter »Unfall der Geschichte« bewertet werden konnte, bei Barack Obama aber nicht mehr. Der derzeitige US-Präsident hat die Politik seines Vorgängers in allen wesentlichen Fragen fortgesetzt. Damit ist das »normative Projekt des Westens« für viele in der Welt so unglaubwürdig geworden, dass es seine einstige Anziehungskraft immer mehr verliert.
Denn die jüngste Entwicklung hat die Welt in eine beträchtliche allgemeine Verunsicherung gestürzt. Jene Kräfte, die einst die beiden Weltkriege auslösten, sind derzeit wieder bestimmend für das Weltgeschehen. Die 50-jährige Periode zwar angespannten, aber weitgehend friedlichen Ringens um die Durchsetzung des »normativen Projekts« ist vorbei. Und allmählich dämmert dies auch dem einen oder anderen Politiker, der sich – ähnlich wie Heinrich August Winkler – allzu sehr auf die guten Absichten des Westens, vor allem aber ihrer Vormacht USA verließ. So gab in einer kürzlichen Diskussion mit Winkler Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier bezüglich des europäischen Gewichts in der Weltarena zu bedenken, dass der Rest der Welt sich nicht mehr »an die europäische Sonne« dränge, wie überhaupt das »normative Projekt« inzwischen Konkurrenz bekommen habe – und zwar von Staaten, die wie China zu wirtschaftlicher Macht aufgestiegen sind.
Tatsächlich sind es nicht nur die einstigen ideologischen Gegner Russland und China, die in den heutigen Unsicherheiten Demokratie und Rechtsordnung deutlich anderes definieren als die Gründungsväter der USA und die französischen Revolutionäre. Selbst unzweifelhaft westorientierte Länder wie Singapur oder gar Verbündete wie der NATO-Staat Türkei und das EU-Mitglied Ungarn begegnen dem »normativen Projekt« mit Skepsis; auch anderswo gewinnen Parteien an Zulauf, die autoritäre Muster favorisieren. Das Unbehagen über den schnellen Rückgriff auf vermeintlich probatere Mittel als jene der Diplomatie bezog Steinmeier ausdrücklich auch auf die Ukraine; er hoffe nicht, dass sie dort eine Chance erhielten. Er warb für vielleicht bescheidenere, aber vertretbare Mittel.
Winkler zählt möglicherweise schon eine solch vorsichtige Differenzierung zum sich verschärfenden »transatlantischen Dissens«, der ihm Sorge bereite. Es spricht für sich, dass ihm ausgerechnet zwei kriegerische Entwicklungen, die Ukraine-Krise und der Kampf gegen den islamistischen Terror, als Belege dienen, dass sich »die Demokratien beiderseits des Nordatlantiks wieder nähergekommen« sind. Es ist eine Annäherung auch an jene Kräfte in den USA, die ihre hegemonialen Träume nie aufgegeben haben. Für sie ist das »normative Projekt« nur noch eine hohle verbale Hülle, ein Tarnmantel, hinter dem sie ihre Politik umso aggressiver betreiben.
Das Fazit des Historikers ist denn auch bei aller Apologetik am Ende ziemlich resignierend:: »Die Infragestellung der normativen Grundlagen des Westens durch den Westen selbst dürfte also weiter voranschreiten« (S. 609).
(Eine gekürzte Fassung wurde gedruckt in »Neues Deutschland« vom 21. März 2015)
Eine Weltmacht sollte über Jahrhunderte langsam aufwachsen. Erst dadurch kann sie Stabilität erreichen, wie die Großreiche der Antike beweisen.
Sowohl die USA als auch die Sowjetunion entstanden dagegen aus dem Chaos von relativ kurzen Bürgerkriegen und wuchsen blasenhaft schnell auf. Es kommt bzw. es kam keine innere Festigkeit zustande.
Die Sowjetunion implodierte 1991, die USA schleppen sich nun auch in diese Richtung: verschieben ihren Staatsbankrott von einem Jahr ins andere. Die „private“ FED druckt dafür (an sich wertlose) Dollar in Massen. Die EZB ahmt das nun mit dem Euro nach.
Diese sogenannte „einzige Supermacht“ wird nur noch durch den eigenen Militär-Industrie-Komplex zusammengehalten, der als Folge zweier Weltkriege unabschaffbar entstanden ist. Dieses Kartell aus Superkonzernen benötigt die weltweiten Kriege zur eigenen“Blutauffrischung“, sprich: zur Gewinn-Maximierung und damit zur eigenen Existenzverlängerung.
Doch aufstrebende Regionalmächte setzen diesem Drang Grenzen. China ist auf dem unmittelbaren Weg zu einer Weltmacht. Rußland konnte sich in letzter Minute selber aus dem „Sumpf einer Balkanisierung“ retten und wieder an Stärke gewinnen. Militärisch ist Rußland (als Chance zur Erhaltung der menschlichen Existenz) eine Weltmacht geblieben!
Die „Werte des Westens“ werden außerhalb seines Einflußbereiches zunehmend kritisch bis ablehnend bewertet. Die brutale Diktatur des Kapitals kann keine ideellen Werte hervorbringen. Die westlichen „Demokratie-Schleier“ sind dadurch sehr durchsichtig geworden!
Der Westen schadet sich damit vor allem selber. Die Weltbevölkerung ist in Aufruhr geraten, vom passiven bis zum bewaffneten Widerstand. In kaum einem Land des Westens ist kein (!) Politiker-Überdruß oder Politik-Verdrossenheit anzutreffen.
Erkenntnis: der Westen ist (in seiner Verfaßtheit) bereits gescheitert und wir stehen vor einer – hoffentlich weitgehend friedlichen – Zeitenwende.