(pri) Der kometenhafte Aufstieg von Martin Schulz zum umjubelten Hoffnungsträger einer lange deprimierten, gar depressiven SPD ist das Resultat einer politischen Dynamik, die die politische Klasse einschließlich der auf den Mainstream festgelegten Medien aus gutem Grund nicht wahrhaben wollte, die sich aber nun doch durchsetzte. Gerade deshalb jedoch, wegen der Unvereinbarkeit der durch Schulz geweckten, aber schon lange in der SPD und ihrer originären Anhängerschaft wie weiteren Kreisen der Bevölkerung vorhandenen Erwartungen nach mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft und der diametral entgegengesetzten, für alternativlos erklärten Politik in beinahe allen europäischen Ländern werden nun die Probleme für Martin Schulz erst beginnen. Und zwar sowohl dann, wenn er seinen Worten tatsächlich entsprechende Taten folgen lässt als auch für das Fall, dass er dies nicht tut.
Schulz verdankt seinen Aufstieg der lange geleugneten Wechselstimmung hierzulande, die bereits im Herbst 2014 mit den ersten Pegida-Demonstrationen begann. Das wollte damals kaum jemand wahrhaben, weshalb sich die etablierten Parteien vor allem an den Begleiterscheinungen dieser Bewegung abarbeiteten anstatt ihre Ursachen in den Blick zu nehmen und – vor allem von links – eine offensive Antwort auf die Wechselstimmung zu suchen und zu finden. Da sich besonders die SPD, Regierungspartner der Union, als starke Stütze des staatstragenden Establishments verstand, überließ sie wie – aus anderen Gründen – die Grünen und die Linkspartei den Rechten auf den Straßen und später der ins politische Vakuum eindringenden AfD das Feld – mit dem Ergebnis des Aufstiegs dieser Partei, die die Unzufriedenheit aufgriff und darauf eine Antwort gab, wenn auch die falsche.
Es war mehr ein zufälliges Ereignis, nämlich der Unwille des vorherigen SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel, sich in einem ebenso kräftezehrenden wir erfolglosen Wahlkampf aufzureiben, das den Umschwung möglich machte. Dass es dazu dann tatsächlich kam, ergab sich nur sekundär aus der Person von Martin Schulz; primär dafür war seine inhaltliche Botschaft, endlich wieder zu Grundzügen sozialdemokratischer Politik zurückzukehren, die seit Gerhard Schröders Schwenk in neoliberale Praktiken verschüttet waren und danach von den SPD-Kanzlerkandidaten Steinmeier und Steinbrück ebenso wenig wieder freigelegt wurden wie vom Ex-Vorsitzenden Gabriel. Auch Schulz hat bislang nur einen sehr begrenzten Blick auf die traditionellen Werte der Sozialdemokratie zugelassen; das allein genügte aber schon, ihn als einen Messias erscheinen zu lassen, dem die Seele der SPD-Mitglieds- wie Anhängerschaft zufliegt. Und der damit erreichte, dass die AfD in Umfragen an Zustimmung einbüßte.
Für die Zukunft jedoch wird das nicht genügen. Die derzeitige Wechselstimmung zielt auf weitergehende Veränderungen, und es ist äußerst zweifelhaft, dass die SPD-Führung in ihrer derzeitigen Zusammensetzung dazu tatsächlich in der Lage ist. Schon bei Schulz selbst ist da Skepsis angebracht, gehört er doch zu jenen, die für die derzeitige, sich ganz anders darstellende Beschlusslage der Partei verantwortlich sind. Er wird damit nur nicht vordergründig in Zusammenhang gebracht, weil er in Brüssel agierte und in der bundesdeutschen Innenpolitik kaum wahrgenommen wurde. Das ändert sich nun, da er die SPD führt, grundsätzlich. Jetzt trägt er für alles, was die Partei politisch tut, die Hauptverantwortung.
Er selbst mag ja – durch den unerwarteten Erfolg und die damit verbundene politische Dynamik – subjektiv entschlossen sein, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen und die SPD wieder zu einer wirklich sozialdemokratischen Partei zu machen, doch in seinem Umfeld wird er dabei nur wenige bedingungslose Unterstützer finden. Schon hat sein Vorgänger ihn gemahnt, neben der sozialen Gerechtigkeit den wirtschaftlichen Erfolg nicht zu vergessen, denn Unternehmen seien »nicht der Klassenfeind« und die SPD »keine Verteilungspartei«. Das klingt schon sehr nach Gerhard Schröder, dem »Genossen der Bosse«, und Gabriels Lobpreisung des französischen Präsidentschaftskandidaten Emmanuel Macron, der – obwohl zwei Jahre Wirtschaftsminister der derzeitigen sozialistischen Regierung – mit einem stark an die Agenda 2010 erinnernden Programm auch gegen einen Bewerber der Sozialistischen Partei antritt, lässt ungute Erinnerungen an Schröders mit dem britischen Labour-Premier Tony Blair 1999, unmittelbar nach der Ausbootung Oskar Lafontaines aus der damaligen rot-grünen Bundesregierung, verfasstes Papier zur »Modernisierung der Sozialdemokratie« aufkommen.
Zwar ist die SPD eine durch und durch opportunistische Partei und – wenn die Macht winkt – zu überraschenden Richtungsänderungen durchaus bereit und in der Lage, aber allein mit Taktik und ohne echte innere Überzeugung von der Richtigkeit des Weges dürfte einem solchen Projekt kein langes Leben beschieden sein. Nun neben der Mitgliedschaft auch die bisher ganz anders tickenden Führungsgremien seiner Partei nicht nur zu wohlfeilem Beifall zu veranlassen, sondern für echtes, glaubwürdiges Engagement zu gewinnen, wird die viel schwierigere Aufgabe Martin Schulz‘ für die nächste Zukunft sein. Doch damit steht oder fällt die Chance, aus der Wechselstimmung politische Realität zu machen.