(pri) Helmut Kohl prägte die BRD über Jahrzehnte – doch nur weniges aus seiner Amtszeit hatte Bestand. Am vergangenen Freitag ist er im Alter von 87 Jahren gestorben.
Am Ende wollte Helmut Kohl nur noch ein wenig privates Glück. Fast sein gesamtes Leben hatte er – in seinem Verständnis – in den Dienst des Landes gestellt. Tatsächlich aber war immer Macht sein Lebensziel – er hat sie genossen. Und er wollte Ruhm, in die Geschichte eingehen. Als Bundeskanzler in jenen Jahren, als aus den beiden Deutschlands, die der Zweite Weltkrieg hinterlassen hatte, wieder eins wurde, ist ihm auch das gelungen – aber zumindest im Rückblick weiß man, dass dies weniger sein persönliches Verdienst als eine glückliche Fügung war.
Denn mitunter gehört zum Platz in den Geschichtsbüchern nur wenig, wie das Beispiel Günter Schabowski zeigt. Ihn machte eine Dämlichkeit zum Maueröffner; dabei wäre diese Geschichte auch ohne seinen berühmten Zettel so oder kaum anders abgelaufen – allerdings weniger chaotisch. Die DDR hatte im Herbst 1989 weder die Kraft noch den Willen, nennenswert lange weiterzubestehen. Das als einer der ersten erkannt und entschlossen genutzt zu haben, war Helmut Kohls Leistung – nicht weniger, aber auch nicht mehr.
Hingearbeitet auf diese Vereinigung hatte er kaum, auch wenn das in Sonntagsreden immer wieder behauptet wurde. Kohl setzte mit seinem Einzug ins Kanzleramt 1982 lediglich fort, was einst von Willy Brandt und Egon Bahr konzipiert worden war: die Politik des Gebens und Nehmens zwischen BRD und DDR, des – vereinfacht gesagt – Handels von ökonomischer Hilfe gegen politische Zugeständnisse, die freilich in der Regel auch von der DDR-Bevölkerung gewünscht wurden. Es waltete Pragmatismus, ohne dass Kohl bis zum Ende des Jahres 1989 an eine schnellen Vereinigung glaubte. Als die Grenze geöffnet wurde, weilte er ahnungslos in Warschau, und noch in seinem Zehn-Punkte-Plan von Ende November brachte er vorsichtig lediglich »konföderative Strukturen« ins Spiel. Erst als er bei seinem Besuch in Dresden drei Wochen später von den DDR-Bürgern umjubelt wurde, begriff er die Chance, die sich ihm bot, und handelte ohne Zögern. In der alten Bundesrepublik schien sich seine Zeit schon dem Ende zuzuneigen, aber eine Laune des Schicksals, der er kräftig nachhalf, machte ihn nun noch zum »Kanzler der Wiedervereinigung«.
Helmut Kohl spielte damit eine Stärke aus, die ihm in seiner langjährigen Karriere immer wieder geholfen hatte – die Fähigkeit, instinktsicher Gelegenheiten zu erkennen und sie zu nutzen, unter Mithilfe eines kleinen, aber schlagkräftigen Teams loyaler Gefährten. 1966 war er CDU-Landesvorsitzender in Rheinland-Pfalz geworden, schon drei Jahre später stieg er zum Ministerpräsidenten auf – und zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden seiner Partei. 1973 wurde er CDU-Chef, musste aber noch bis 1982 warten, ehe ihm die FDP durch den Wechsel zur Union den Kanzlerposten verschaffte. Mit Rainer Barzel und Franz Josef Strauß hatte er seine Rivalen ausgeschaltet und war zur unumstrittenen Führungsfigur der Union geworden, die nun die CDU über 25 Jahre lang führten und 16 Jahre als Bundeskanzler amtierten sollte.
Politik war seine eigentliche Heimat, schrieb sein Sohn Walter 2011: »Seine wahre Familie heißt CDU, nicht Kohl. Er fühlte sich in einem archaischen Sinne als der Clanchef eines Stammes, der sich CDU nennt … Jahrzehntelang hat er sein Bestes in Partei- und Gremienarbeit investiert, hat er ‚Entscheidungen am Fließband getroffen‘, wie er es nannte.« Vor diesem Hintergrund ist verständlich, wenn er am Ende oft mit seinem vermeintlich unverdienten Schicksal haderte, das ihm die ganz große historische Würdigung versagte. Gerade er, den geschichtliche Vorgänge, Schicksale, Personen stets fasziniert hatten und der sich beizeiten einen Platz in ruhmreicher Vergangenheit zu sichern suchte, hat dies als unerträglich empfunden.
Dabei hat es nie an gegenläufigen Bemühungen gemangelt. Vor allem natürlich in seiner Partei gab es viele, die den Patriarchen immer wieder auf das Podest heben wollten. Doch dessen schmählicher Abgang aus Kanzleramt und Konrad-Adenauer-Haus, vergiftet später durch die bis heute nicht aufgeklärte Schwarzgeldaffäre, ließ wenig Raum für einen Herrenkult. Weil er den Verzicht auf solche Apotheose seinen Nachfolgern bis zuletzt übel nahm, stand er erst gegen die CDU, am Ende allenfalls neben ihr.
Für Helmut Kohl zählte nur der Erfolg – ob in der Politik oder im Privaten. Blieb der ihm versagt, mangelte es ihm an Fantasie und Ausdauer, mit der Situation so umzugehen, dass es doch noch zu einem positiven Ausgang kam – ob im eigenen Haushalt oder im Staatsamt. Kurt Biedenkopf, einer seiner frühen Vertrauten, sah in ihm »weniger einen Politiker, der in ungeklärten Situationen gestaltend eingreift, sondern er wird dann lieber … warten«. Kohl saß Probleme einfach aus und nahm dabei Scheinlösungen in Kauf. So fehlte es ihm auch an langfristiger Gestaltungskraft, als die deutsche Einheit erreicht war; viele der nach 27 Jahren noch immer bestehenden Probleme gehen auf sein Konto.
Bei der europäischen Einigung war Helmut Kohl der historische Symbolwert des Augenblicks ebenfalls wichtiger als ein krisenfestes und nachhaltiges, weil auf fairen Ausgleich von Geben und Nehmen entsprechend den jeweiligen Möglichkeiten gerichtetes Reglement. Der Maastricht-Vertrag orientierte nicht auf Solidarität zwischen den Euro-Staaten, sondern legte sie auf eigenverantwortliches Handeln fest. Dies wurde aber durch den Druck gewaltiger Heilserwartungen, die mit der Euro-Einführung geschürt wurden, für die meisten zur unlösbaren Aufgabe. So profitierten die Reichen vom Euro zu Lasten der ärmeren Länder, die ihren europäischen Einstand mit immer weiter wachsenden Schulden erkauften. So weitsichtig war Kohl nicht, dass er diese Entwicklung erahnte, die gerade jetzt am Beispiel Griechenland kulminiert ist. Nach nur einem Dutzend Jahren europäischer Währung stand auch er zuletzt vor dem Scherbenhaufen seiner eigenen Politik.
Wesentlicher Grund dieses Mankos war Kohls ideologische Sicht auf die Welt, vor allem in der Innenpolitik. Hier sah er zum Beispiel in den »Soz’n« einen auch persönlichen Feind, dem »auf’s Haupt zu schlagen« sei; auf das häufig strapazierte Bonmot von seinem Hund, der beim Nennen des Namens eines Sozialdemokraten geknurrt habe, antwortete er grinsend, das sei ein besonders intelligenter Hund, ein deutscher Schäferhund gewesen, der eben zu differenzieren vermochte.
Aus dieser Unversöhnlichkeit zu Gegnern seiner Politik resultierte auch sein unbeherrschtes Reagieren ihnen gegenüber – bis hin zu cholerischen Ausbrüchen. Legendär wurde sein Vorgehen gegen einen Eierwerfer in Bitterfeld, den er zum Schrecken seiner Sicherheitsbeamten persönlich zu verprügeln gedachte. Aber auch Pfiffe und Buhrufe bei Wahlkampfveranstaltungen quittierte er oft mit rüden Gegenattacken. Auf kritische Fragen von Journalisten reagierte er gern harsch und ablehnend; selbst die ihn fast nur hofierende »Bild«-Zeitung fiel einmal in Ungnade, als sie ihn als »Umfaller« in horizontaler Position abbildete. Und Kohls ewige Klage über die mangelnde Dankbarkeit, die »Eiseskälte« in der Politik kommt letztlich auch aus dem Unverständnis darüber, dass andere eine andere Sicht auf die Welt haben und sich von ihm nicht überzeugen lassen.
Helmut Kohl traf ziemlich genau den vorherrschenden Charakter des bundesdeutschen Nachkriegsbürgers. Mit solch rechthaberischer Haltung, die sein zeitweiliger und dann in Ungnade gefallener Ghostwriter Heribert Schwan vor einigen Jahren in einer geballten Ladung ehrenrühriger Zitate über »Freund« wie Feind vor wenig überraschtem Publikum ausbreitete und die ihren Höhepunkt wohl im Umgang mit dem CDU-Parteispendenskandal Anfang der 1990er Jahre fand. Und auch mit seiner »Ausstrahlung des biederen Hausvaters«, wie es der Publizist Peter Merseburger einmal nannte. Kohl gab – schon durch seine körperliche Präsenz – den durch den Krieg verunsicherten Menschen das Gefühl, wieder wer zu sein, hob sich aber zugleich von ihnen nicht allzu sehr ab. Seine beliebten Inszenierungen, bevorzugt an Soldatengräbern mit den früheren Kriegsgegnern, dienten dem ebenso wie die Zurschaustellung einer bodenständigen Lebensweise vom »Deidesheimer Hof« mit seinem Saumagen über das Basteln im Hobbyraum und die Hans-Albers-Lieder auf dem Plattenspieler bis zum Urlaubsdomizil inmitten deutschen Nutzviehs am Wolfgangsee. Dieser Mischung verdankte er nicht zuletzt seine wiederholten Wahlerfolge. Noch einmal Merseburger: »Der Wähler glaubt sich seiner Normalität näher, vielleicht auch seiner anständigen Durchschnittlichkeit.«
Helmut Kohl war ohne Zweifel ein erfolgreicher Politiker, auch wenn ihm dazu immer wieder auch das Glück verholfen hat. Wo es das nicht tat, half er nach – nicht zuletzt mit Mitteln am Rande der Legalität. Insofern war er auch ein typischer Politiker, der – nach Max Weber – »daran nicht zerbricht, wenn die Welt, von seinem Standpunkt aus gesehen, zu dumm oder zu gemein ist für das, was er ihr bieten will«, der »all dem gegenüber: ›dennoch!‹ zu sagen vermag«. Helmut Kohl hat das vermocht, weil er Politik vor allem anderen zu seinem Lebensinhalt machte, darüber sogar seine Familie zerbrechen ließ. Ganz am Anfang seiner Karriere hat er das Amt des Bundeskanzlers einmal als eins bezeichnet, »das voller Schrecken … ist und sehr stark die menschliche Nähe und die menschliche Wärme entbehrt«. Diese hellsichtige Erkenntnis hat ihn nicht aufgehalten, weil er, der Machtmensch, ihr dann wohl doch nicht glaubte.
(Veröffentlicht in: »Neues Deutschland« vom 19.06.2017)