(pri) Mit ihren Personalentscheidungen vor dem CDU-Sonderparteitag verfolgte Angela Merkel zwei Ziele – kurzfristig die Sicherung ihrer Machtposition und langfristig den Einstieg in die geordnete Bewahrung ihres politischen Erbes. Dass ihre Taktik aufgeht, ist nicht sicher.
Das hatte sich Angela Merkel gewiss anders vorgestellt. Am liebsten wäre es ihr gewesen, die Union hätte zusammen mit einer wiedergeborenen FDP bei der Bundestagswahl im vergangenen September die Mehrheit gewonnen. Aber da machten ihr die Wähler einen Strich durch die Rechnung. Zwar kehrten die Freidemokraten mit 10,7 Prozent in den Bundestag zurück, aber CDU und CSU brachten nur 32,9 Prozent auf die Waage, ihr zweitschlechtestes Ergebnis seit Bestehen der Bundesrepublik. Nicht ausreichend zum Regieren, eine Schlappe für die sieggewohnte Kanzlerin.
Sie versuchte es nun zusätzlich mit den Grünen, denn schon damals war ihr klar, was auch heute noch stimmt: »Es ist offenkundig, dass die SPD auf Bundesebene auf absehbare Zeit nicht regierungsfähig ist. Wir sollten deshalb keine weiteren Gedanken darauf verschwenden.« Das Jamaika-Projekt kam ihr in gewisser Weise sogar entgegen, hoffte sie so doch, beiden »Partnern« die scharfen Kanten abzuschleifen und sie auf Positionen festzulegen, die sie auch der eigenen Partei schmackhaft machen konnte und für die sie zudem noch die Urheberschaft beanspruchte.
Während die Grünen in ihrem unwiderstehlichen Drang hin zu den Regierungsämtern beinahe blindlings in die Falle stolperten, erinnerte sich der anfangs so forsche FDP-Chef Christian Lindner des Schicksals seines Vorvorgängers Guido Westerwelle und zog verängstigt die Reißleine. Jamaika blieb eine ferne Insel; die nächste Schlappe für Angela Merkel.
Nun musste sie nicht nur wieder Gedanken an die SPD verschwenden, sondern warb sogar inständig um die Fortsetzung der eben noch ausgeschlossenen Großen Koalition. »Wir haben gut zusammengearbeitet«, hieß es jetzt, und wenn es die CDU-Vorsitzende nur mit der Führung der Sozialdemokraten zu tun gehabt hätte, wäre sie »schnell zu einer Regierung«, ihrem vordringlichen Ziel, gekommen. Denn schon in den Sondierungen räumte die SPD etliche ihrer Positionen gründlich; so gründlich, dass die ohnehin misstrauische Basis mit den Jusos an der Spitze den Aufstand probte. Dass dies nicht nur ein »Zwergenaufstand« war, wie die CSU spottete, zeigte der SPD-Sonderparteitag im Januar; nur hauchdünn erhielt die Parteispitze das Mandat für Koalitionsverhandlungen.
Die CDU-Chefin trug dieser Situation Rechnung, immer ihr Hauptziel im Auge – die Verfügung über das Kanzleramt. Zwar gelang es ihr, inhaltlich vor allem dadurch zu punkten, dass Anliegen der Union wie die Schuldenbremse, der Verzicht auf Steuererhöhungen oder die von der CSU ultimativ verlangte Obergrenze bei der Integration sehr konkret im Koalitionsvertrag auftauchten, während SPD-Forderungen darin oft nur allgemein und vage formuliert sind. Dafür musste sie aber Zugeständnisse bei der Postenverteilung machen, die sie selbst als sehr schmerzhaft empfand und die vor allem von ihren innerparteilichen Kritikern als weitere Schlappe verstanden wurden.
Die standen denn auch gleich auf der Matte, angeführt von einigen älteren Herren, die noch eine Rechnung mit der Kanzlerin offen haben. Der frühere hessische Ministerpräsident Roland Koch kritisierte, »dass die CDU fast alles mit sich machen lässt, damit es zu einer Regierung kommt« und verlangte von Merkel eine Antwort auf die Frage, »welches die nächste Generation ist, die Verantwortung übernimmt«. Ex-Unionsfraktionschef Friedrich Merz sprach von einer »Demütigung«, Ex-Generalsekretär Volker Rühe monierte, es sei »desaströs verhandelt« worden, und Norbert Röttgen, von Merkel einst geschasster Umweltminister, diagnostizierte, die CDU sei »strukturell geschwächt und verliert an Einfluss«.
Könnte Angela Merkel solche Kritiker wie auch die schon lange grummelnden Konservativen innerparteilicher Initiativen wie Christean Wagner oder der Bundestagsabgeordneten wie Klaus-Peter Willsch und Kai Wegner noch ignorieren, so sieht das mit nachdrängenden Politikern der zweiten und dritten Reihe schon anders aus. Carsten Linnemann, Chef der Unions-Mittelstandsvereinigung, tadelte, die CDU gebe ihren »Gestaltungsanspruch in entscheidenden Bereichen ab«, der Chef des Parlamentskreises Mittelstand der Unionsfraktion, Christian von Stetten, sekundierte, die Ressortverteilung sei ein »politischer Fehler«.
Der Vorsitzende der Jungen Union, Paul Ziemiak, verlangte »ein Zeichen der Erneuerung«, wozu es auch neue Köpfe brauche, und CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn betrieb beinahe schon Majestätsbeleidigung: »Wir sind doch nicht in einer Monarchie, in der man seine eigene Nachfolge selbst regelt.« Selbst aus ihrem eigenen Landesverband Mecklenburg-Vorpommern wurde Merkel gerügt. »Das deutsche Volk jedenfalls hat diese Regierung nicht verdient«, sagte der stellvertretende Vorsitzende Sascha Ott.
Angela Merkel sah Handlungsbedarf. Zwar musste sie eine solch vehemente Debatte wie in der SPD auf dem Berliner Parteitag nicht fürchten, aber schon eine allzu schwache Zustimmung zum Koalitionsvertrag hätte Prestigeverlust bedeutet. Mit der Nominierung Annegret Kramp-Karrenbauers als neue Generalsekretärin und weiteren jüngeren Gesichtern auf der Ministerliste hofft sie die Partei zu beruhigen, und die fast einhellige Zustimmung der Parteitages zur Groko gibt ihr zunächst einmal recht.
Die saarländische Ministerpräsidentin steht auch beim eher rechten Flügel der CDU in solidem Ansehen. Sie ist bekennende Katholikin und vertritt in Fragen der Ehe oder des Lebensschutzes dezidiert konservative Positionen, wenn auch ohne Schaum vorm Mund. In der Flüchtlingspolitik schwenkte sie lange vor Merkel auf eine harte Linie um, die ihr grobschlächtiger Innenminister Klaus Bouillon auch kompromisslos umsetzte. Zugleich war sie stets loyal gegenüber der Vorsitzenden, gilt gar als deren Vertraute. Mit ihr an der Seite konnte eine Frischzellenkur gewagt werden, bei der die Nebenwirkungen in Grenzen bleiben.
Das betrifft vor allem Jens Spahn, den sie wegen der positiven Resonanz, die er in weiten Teilen der verunsicherten CDU findet, nicht mehr verhindern konnte, der aber als Kabinettsmitglied – so es denn dazu kommt – eingebunden und grundsätzlich auf seine Ressortzuständigkeit verwiesen wäre. Für despektierliche Kommentare über die Kanzlerin ist da kein Platz; schon das erschwert die weitere Profilierung innerhalb der Partei. Außerdem muss Spahn nun auf einem schwierigen Arbeitsgebiet Ergebnisse liefern, was Merkel zwar von allen Ministerkandidaten erwartet, jedoch sehr direkt an seine Person adressierte. Dass jemand auch einmal kritische Anmerkungen mache, sei okay: »Trotzdem gibt es dann den Auftrag, für Deutschland was Gutes zu bewegen. Dazu, glaube ich, will er genauso wie andere Kabinettsmitglieder seinen Beitrag leisten.«
Ähnliches ist zu Julia Klöckner zu sagen, die zwar die CDU-Vorsitzende nicht so direkt herausforderte, aber vor allem in der Flüchtlingspolitik frühzeitig eine kompromisslose Position vertrat, auf die Merkel inzwischen selbst eingeschwenkt ist. Auch sie, die dadurch die Wahlniederlage im rheinland-pfälzischen Landtagswahlkampf nicht verhindern konnte, muss im ebenfalls nicht unproblematischen Landwirtschaftsressort erst noch beweisen, was sie leisten kann. Mit der überraschenden Nominierung der weitgehend unbekannten Anja Karliczek als Bildungsministerin hat Angela Merkel schließlich wohl demonstrieren wollen, dass sie ihr Kabinett nicht nur nach Zuruf aus der Partei zusammenzustellen gedenkt; ein doch etwas verzweifelt wirkender Versuch, die unübersehbare Einbuße an Autorität zu kaschieren.
Gerade auch deshalb soll vor allem Annegret Kramp-Karrenbauer der Kanzlerin bei drohenden neuen Herausforderungen den Rücken in der CDU freihalten. Noch ist die Große Koalition nicht unter Dach und Fach, es könnte zu einer Minderheitsregierung und vielleicht baldigen Neuwahlen kommen. Dann braucht Merkel eine geschlossen agierende Partei. Und für die Zukunft jemanden, der ihr Erbe im Grundsatz fortführt. Die Kanzlerin mag das neue Amt für Kramp-Karrenbauer durchaus als Probezeit verstehen – für Höheres.
Worin freilich auch ein Risiko für Merkel liegt, denn nicht nur mit ihrer Rochade nach Berlin beweist die 55-jährige Ministerpräsidentin, dass sie weiß, wie man nach oben kommt. »Wenn ich nur mit Sympathie und Netzwerken agieren würde, wäre ich heute nicht hier, wo ich bin«, gestand sie freimütig in einem Rundfunkinterview. »Sondern da braucht man auch ein Stück Ellenbogen dazu, um auch eigene Interessen durchzusetzen.«