(pri) Inzwischen ist es ein schon ziemlich abgegriffenes Szenario: Wenn eine Regierung innenpolitisch in Bedrängnis gerät, gar um ihre Macht fürchten muss, wird geschwind ein äußerer Feind aus dem Hut gezaubert, um die kritische Öffentlichkeit wieder hinter sich zu bringen. Selbst sich gern als klassische Demokratien bezeichnende Staaten sind gegen solche Versuchung nicht gefeit, wie aktuell der Alarmismus der britischen Premierministerin Theresa May im Fall Sergej Skripal anschaulich zeigt.
Denn May steht aufgrund ihres bislang total erfolglosen Brexit-Managements schon seit einiger Zeit mit dem Rücken zur Wand. Selbst in der eigenen Partei wird ihr starrköpfiges Vorgehen kritisiert, und im Parlament riskiert sie eine Abstimmungsniederlage, die zu Neuwahlen führen könnte. Deren Ausgang ist alles andere als sicher, weshalb die Premierministerin eine solche Entwicklung um jeden Preis vermeiden muss. Offensichtlich scheint ihr ein Konflikt mit Russland dafür ein geeignetes Mittel. Sie, die in der Brexit-Problematik vor allem durch Entscheidungsschwäche auffällt, griff plötzlich zur großen Keule und antwortete auf den vermutlichen Giftanschlag auf den russischen Ex-Geheimdienstler Sergej Skripal und seine Tochter mit dem faktischen Abbruch der Beziehungen zu Moskau. Sie behauptete, der Kampfstoff stamme »eindeutig aus russischer Produktion«, und der Angriff sei mithin ein »Angriff gegen Bürger Großbritanniens auf britischem Boden«.
Beweise lieferte sie dafür freilich nicht, und die russische Forderung, ihr Proben des Kampfstoffs für eigene Analysen zu überlassen, beschied sie abschlägig. Das mochte der frühere Bundestagsabgeordnete der Linken, Jan van Aken, der auch einige Zeit als Chemiewaffen-Inspekteur der UNO gearbeitet hat, nicht kritisieren; zugleich jedoch verwies er darauf, dass Hinweise auf einen Giftgaseinsatz der Organisation zum Verbot von Chemiewaffen, der OPCW, vorzulegen sind, allerdings nicht nur als bloße Vermutungen, sondern »dass die Engländer mehr auf den Tisch legen müssen als nur dieses ganz simple „wir wissen, die Russen haben das vor 40 Jahren mal entwickelt; deswegen seid ihr heute schuldig„. Das reicht nicht aus«. Nach einer solchen Verdachtsanzeige hat die beschuldigte Seite, in diesem Falle Russland, zehn Tage Zeit sich dazu zu erklären.
Gegen diese völkerrechtlich klar formulierten Grundsätze hat die britische Seite bislang verstoßen und nichts an die OPCW geliefert. Stattdessen brach sie eine Kampagne vom Zaun, als ginge es ums Wohl und Wehe des Königreichs. Sie erklärte bisher weder, wie das Gift auf die Insel kam, noch wer es dort wie dem Opfer zugeführt hat und stellte damit den Geheimdiensten ihrer britischen Majestät das denkbar schlechteste Zeugnis aus. Sie konnte auch nicht plausibel machen, warum Russland einen Ex-Spion, der 2004 wegen Zuarbeit für den britischen Dienst MI6 zu 13 Jahren Arbeitslager verurteilt worden war, jedoch 2010 begnadigt wurde, um gegen russische Spione ausgetauscht zu werden und seitdem unbehelligt in England lebte, nun plötzlich aus angeblicher Rachsucht »bestraft« werden sollte. Und das auf dem Wege einer aufwändigen und riskanten Aktion, die Moskau so oder so nur in ein schlechtes Licht setzen konnte. Londons argumentative Not treibt inzwischen sogar absurde Blüten: Putin ginge es bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen um eine hohe Beteiligung, und diese sei vor allem dadurch zu erreichen, dass man den Westen maximal gegen Russland aufbringt und so das Land zusammenschweißt; allerdings weisen Meinungsumfragen seit Wochen unverändert darauf hin, dass der russische Präsident um seine Wiederwahl nicht fürchten muss.
Weit weniger absurd erscheinen Hinweise, dass gerade in dem Städtchen Salisbury das Auftauchen chemischer Kampfstoffe keineswegs ein Zufall sein muss. Immerhin befindet sich ganz in der Nähe, in Porton Down, mit dem Defence Science and Technology Laboratory die einzige und streng geheime britische Chemiewaffenforschungseinrichtung. Sie dient auch dazu, chemische Kampfstoffe weltweit zu analysieren, um zum Schutz der eignen Bevölkerung Gegenmittel entwickeln zu können. Proben der verschiedensten Chemiewaffen sind dort also Voraussetzung ihrer Tätigkeit. Deshalb könnte, würde man ähnlich fahrlässig und voreingenommen vorgehen wie die britische Regierung, gerade hier die Quelle des Gifts lokalisiert werden, um davon ausgehend leicht Szenarien der verschiedensten Art zu entwickeln – vom leichtfertigen Umgang mit dem Wirkstoff bis hin zum organisierten Anschlag aus persönlichen oder gar politischen Motiven. Solche verschwörungstheoretische Interpretation verbietet sich freilich für den seriösen Beobachter; es wäre nichts als eine billige Retourkutsche zu den Vorwürfen der britischen Regierung gegenüber Russland.
Diese aber werden vom größten Teil der europäischen Medien weitgehend unkritisch übernommen, auch hierzulande. Keine der sich gern ihrer besonderen Qualität rühmenden Zeitungen mit ihren bombastischen Recherche-Netzwerken macht sich die Mühe, die Londoner Behauptungen auf ihre Plausibilität zu überprüfen oder gar eigene Untersuchungen anzustellen. Sie beten einfach nach, was sie von Theresa May, ihrem Kabinett und ihren Parteigängern hören und verstärken eher noch den dissonanten Sound. Damit stehen sie – wie in der Regel auch sonst – dicht bei ihren Regierungen, die sich flugs auf die britische Seite schlugen; gilt es doch einmal mehr, gegen Putin in die Schlacht zu ziehen und die bröckelnde Sanktionsfront wieder zu stabilisieren.
Das erscheint umso wichtiger, als das Scheitern der westlichen Strategie in Syrien immer offensichtlicher wird. Assad ist im Bündnis mit Russland dabei, die Kontrolle über sein Land zurückzugewinnen und dadurch den Krieg allmählich zu beenden. Nach Aleppo, in das inzwischen immer mehr der früher geflüchteten Bewohner zurückkehren, könnte bald auch Ost-Ghuta befriedet werden, auch wenn derzeit dort noch opferreiche Kämpfe toben. Krieg führt neben Assad und Russland auf der einen sowie den versprengten Resten des IS auf der anderen Seite jetzt vor allem das NATO-Land Türkei in Syrien, doch dazu ist von dessen Verbündeten kein Wort der Kritik zu hören. Im Gegenteil, die Bundesrepublik liefert dem völkerrechtswidrigen Aggressor noch die Waffen. Setzt sich diese Entwicklung fort, verliert der syrische Kriegsherd sukzessive seine propagandistische Bedeutung für den Westen.
Ähnliches gilt für die Ukraine, bei der sich immer deutlicher zeigt, dass das Minsker Abkommen vor allem durch Kiews Unwillen, dessen Festlegungen zu erfüllen, nicht vorankommt. Moskau betrachtet das als willkommene Gelegenheit, nun seinerseits hartleibig zu bleiben und darauf zu warten, dass die Kritik an der Aufrechterhaltung der Sanktionen gegen Moskau, vor allem aus der Wirtschaft, weiter zunimmt.
Vor diesem Hintergrund erscheint der Fall Skripal als geeignetes Mittel, ihn trotz oder gerade wegen des bisherigen Fehlens belastbarer Informationen über seinen Ablauf und seine Hintergründe ohne Zögern zu einer neuen antirussischen Kampagne zu nutzen. Fast hat man den Eindruck, als betrachte man ihn in London, bei der NATO und anderswo als ein Geschenk des Himmels. Einmal mehr beweist der Westen damit, dass in seinem sogenannten Wertesystem offensichtlich über allem anderen steht, die Feindschaft gegen Russland immer wieder neu zu schüren.