(pri) Wer glaubte, die Bundeskanzlerin könnte – nach einigermaßen verstörenden Erfahrungen – von ihrem Hang zu überraschenden Kehrtwendungen geheilt sein, erlebt möglicherweise gerade wieder eine solche. Denn die demonstrative Vertraulichkeit, mit der sie und ihr Apparat in den letzten Wochen das Gespräch mit Russland und dessen Repräsentanten bis hinauf zu Präsident Wladimir Putin suchten und führten, steht in auffälligem Gegensatz zur Kühle, gar Kälte, mit der die Beziehungen in den letzten Jahren gerade mal noch am Leben erhalten wurden.
Zwar müssen nach außen ein Blumenstrauß in Sotschi und in Berlin ein repräsentatives Schlösschen als Zeichen der Erwärmung genügen, aber gerade hinter diesem Minimalismus im Zeremoniellen kann sich durchaus Substantielles in der Sache verbergen. Dies umso mehr als letzthin die Schlagzahl der deutsch-russischen Treffen sowohl in Moskau als auch in Berlin erheblich zunahm und – wie »neues deutschland« süffisant bemerkte – dazu sogar der russische Generalstabschef Gerassimow einreisen durfte, obwohl er auf der EU-Sanktioinsliste steht.
Diesbezüglich von einem Sinneswandels Angela Merkels zu sprechen, wäre freilich vermessen, hat diese doch ihr Handeln kaum je von ideologischen Prämissen abhängig gemacht, sondern stets von der aktuellen Situation und den realen Möglichkeiten ihrer Beherrschbarkeit. Das selbständige politische Agieren war und ist weder im Inneren noch nach außen ihre Sache; dafür beherrscht sie die Kunst des Reagierens – selbst wenn die Lage noch so ausweglos erscheint – wie kaum eine andere oder ein anderer. In einer Zeit zunehmender Unwägbarkeiten und plötzlicher Überraschungen ist dies zweifellos eine Fähigkeit, die zählt und ihr nicht ganz zu Unrecht den Ruf einer begnadeten Krisenmanagerin einbrachte. .
Was nun die derzeitige Lage angeht, hat sie Merkel bereits vor über einem Jahr beschrieben. »Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei«, sagte sie nach dem G7-Gipfel auf Sizilien und zog damit nüchtern Bilanz einer Entwicklung, die sich schon einige Zeit abgezeichnet hatte und nun einem ersten Höhepunkt zustrebte. Ein Jahr zuvor hatten sich die Briten aus der EU verabschiedet, und im folgenden Herbst kam in den USA mit Donald Trump ein Präsident an die Macht, der mit seinem Wahlslogan »America first!« den nationalistischen Tendenzen in zahlreichen Ländern gewaltigen Auftrieb verlieh – nicht zuletzt innerhalb der Europäischen Union. Hier reklamierten vor allem die osteuropäischen Staaten für sich das Recht auf eigenständige Entscheidungen – auch gegen EU-Beschlüsse. Die Südeuropäer schwenkten und schwenken ebenfalls teilweise auf einen Sonderweg ein, vor allem in ökonomischen Fragen. Ganz besonders auseinander gehen die Positionen zur Reaktion auf die anhaltende Fluchtbewegung nach Europa.
Auch wenn das niemand so unverblümt sagt, in der Sache ist offensichtlich ein unaufhaltsamer Zerfall der EU im Gange, der auch für die NATO nicht ohne Folgen bleiben dürfte, vor allem wegen des erkennbaren Unwillens Trumps, weiterhin die Hauptlast für europäische Feindseligkeit gegenüber Russland zu tragen. Zwar thematisierte dieser dies bislang nur am weit von Russland entfernten Montenegro (»Montenegro ist ein kleines Land mit sehr starken Menschen. Sie sind sehr aggressive Menschen, sie könnten aggressiv werden, und – Gratulation – man ist im Dritten Weltkrieg.«), aber dies wurde durchaus als Wink mit dem Zaunpfahl auch an andere verstanden.
Das Ende und die Folgen solcher Erosion kann derzeit noch niemand absehen. Umso mehr drängt die Zeit, sich auf diese neue Situation einzustellen. Und Angela Merkel, die schon einmal erlebte, wie ein anscheinend monolithischer Block innerhalb weniger Monate zusammenbrach, dürfte anders als viele der an die Ewigkeit der Vorherrschaft des westlichen »Abendlandes« glaubenden Politiker nicht ausschließen, dass gegenwärtig gerade eine neue Weltordnung entsteht, in der auch ihr Land eine neue Rolle suchen muss.
Sie ist diesbezüglich in einer Situation, mit der zum Beispiel Wladimir Putin schon seit Jahren zu tun hat. Er, der von den Mechanismen westlicher Demokratien ohnehin nicht viel hält und stattdessen autoritäre Herrschaftsformen und eine nationalistische Identitätsfindung favorisiert, stellte sich rechtzeitig auf gleichlaufende Tendenzen in anderen, auch europäischen Staaten ein. So hat er keinerlei Berührungsängste gegenüber rechtsradikalen Bewegungen und Parteien, weiß er doch, dass sie eines Tages an die Macht kommen könnten und dann mit ihnen Politik gemacht werden muss.
Letzten Endes gilt das auch für die Bundeskanzlerin. Um aus dem syrischen Bürgerkrieg Flüchtende an der Ankunft in Deutschland zu hindern, schloss sie schon mit dem Autokraten Erdogan ein Abkommen, das bisher alle Friktionen des deutsch-türkischen Verhältnisses überstand. Jetzt geht es darum, Syrern nach dem Ende des Krieges in zahlreichen Regionen des Landes die Rückkehr zu ermöglichen, was nach Lage der Dinge nur mit stillschweigender Akzeptanz des syrischen Machthabers Assad möglich ist, der eigentlich gestürzt werden sollte, was letztlich Putin verhinderte, der seinerseits nun aber die wirtschaftliche Kraft des Westens für den Wiederaufbau Syriens braucht. Es gibt also aus unterschiedlichen Motiven ein gemeinsames Interesse, weshalb seitens der Bundesrepublik die unveränderte Kritik an der Heimholung der Krim nach Russland derzeit schweigen muss und auch das Nordstream-Pipeline-Projekt in der Ostsee nicht gefährdet werden darf.
Wieder einmal also muss Angela Merkel in einer komplizierte Situation reagieren – und wie es scheint, tut sie es. Ungeachtet hysterischen Alarms der ewig Gestrigen, weitgehend geräuschlos, dafür aber vielleicht mit Erfolg für alle Seiten.