(pri) In dieser Woche ist Marco Bülow, SPD-Mitglied seit 26 Jahren und Bundestagsabgeordneter seit 16 Jahren, aus seiner Partei ausgetreten. Vergleichbares kommt zwar nicht häufig, aber doch gelegentlich vor; meist ist es kein Anlass ausführlicherer medialer Erörterungen. Bei Bülow war das anders, denn sein Schritt legt wie unter einem Brennglas das Grundproblem der SPD offen, den Verlust ihrer Identität und ihr Absturz in die Beliebigkeit, die sie für den Wähler mehr und mehr überflüssig macht. Bülows Abgang verdeutlicht, dass originär sozialdemokratische Politik in der SPD nicht mehr möglich ist; wer sich dieser verpflichtetet fühlt, muss die Partei verlassen.
Bülow hat es sich nicht leicht gemacht. In einer ausführlichen Stellungnahme begründet er seinen Schritt, mit der er lange zögerte. Gerade er, der 2017 als einer der wenigen SPD-Parlamentarier ein Direktmandat gewann und dies auch noch mit 38.8 Prozent der Stimmen, galt in der Partei, freilich nicht bei deren Führung, als Hoffnungsträger, denn er verlangte eine konsequent linke Politik und warnte seit Jahren vor dem bequemen Einrichten des Parteiestablishments in der Großen Koalition. Damit blieb er sich treu, vertrat unbeirrt eine Linie, die er schon bei seiner ersten Legislatur formuliert hatte. Damals wurde er in einem Artikel über Neulinge im Bundestag (»Neues Deutschland« vom 17. Oktober 2002) vorgestellt und war noch voller Tatendrang, um dem Vertrauen seiner Wähler gerecht zu werden. Es hieß da:
Reden kann er schon ganz ordentlich. In einer knappen Stunde entwirft Marco Bülow seine Visionen von einer besseren Welt: Generationengerechtigkeit, Nachhaltigkeit, gleiche Bildungschancen, Solidarität. Er will nicht nur für den nächsten Tag arbeiten, sondern auch an die nächsten zehn oder 20 Jahre denken. Pragmatismus reiche dazu nicht, auch wenn ihm dieser nicht fremd sei. »Aber allein mit Pragmatismus werden wir die künftigen Aufgaben nicht meistern.«
Bülow will mit seinen 31 Jahren kein stromlinienförmiger Bundestagsabgeordneter werden, wie es schon allzu viele gibt. »Quer-, Weiter-, Nachdenker sind gefragt«, sagt er selbstbewusst, »keine Jasager.« Das Juso-Mitglied möchte einen engen Kontakt zu seinem Wahlkreis in Dortmund halten, dort Rechenschaft über sein Tun in Berlin ablegen und sich vergewissern, dass sich die Erwartungen seiner Wähler darin wiederfinden. Alles sehr sympathische Absichten, mit denen gewiss schon viele vor ihm in die jeweilige Bundeshauptstadt gekommen sind, denen die meisten aber wohl inzwischen nachtrauern – etliche vielleicht nicht einmal das.Der frisch gebackene MdB nickt. »Ich weiß, dazu braucht man einen langen Atem.« Und fügt nach kurzem Zögern hinzu: »Aber ich glaube, den habe ich.« Immerhin kommt er nicht von irgendwoher, sondern aus der »Herzkammer« der Sozialdemokratie, dem Ruhrgebiet mit seinen einstigen Industriezentren. Einer seiner Vorgänger auf dem Parlamentsstuhl im neu zugeschnittenen Wahlkreis war der Gewerkschaftssekretär Hans-Eberhard Urbaniak; er saß schon im Bundestag, als Bülow noch gar nicht geboren war. Und der wollte den jungen Mann, der weder ein Arbeiter noch ein ausgewiesener Gewerkschafter ist, ursprünglich gar nicht. Bereits 1998 hatte sich der freie Journalist und PR-Berater um den Dortmunder Wahlkreis beworben, doch da trat Urbaniak lieber selbst noch einmal an. »Man kann nicht einfach so kommen und sagen: Hallo, hier bin ich, jetzt wählt mich mal«, sagte der damals 68-Jährige.
Marco Bülow aber war hartnäckig – eine Tugend, auf die er auch für die Zukunft setzt. Er blieb dran, arbeitete aktiv im SPD-Stadtvorstand mit, im Dortmunder Stadtrat, wurde stellvertretender Vorsitzender eines der 46 Ortsvereine der Ruhrstadt. Gute Voraussetzungen, die erste Hürde zum Bundestag zu nehmen, die wohl die größte war. Elf Kandidaten bewarben sich ursprünglich um den Wahlkreis, dann noch vier. Am Ende brauchte Bülow zwei Wahlgänge, um mit gut 53 Prozent aufgestellt zu werden. Die Bundestagswahl war dann schon fast die leichtere Übung, denn der Newcomer holte 57,8 Prozent der Erststimmen, sechs Prozent mehr, als seine Partei an Zweitstimmen bekam. Ergebnis eines engagierten Wahlkampfes, bei dem sich der Kandidat vorrangig um jene kümmerte, die die SPD immer seltener erreicht: Schüler, Studenten, junge Selbstständige. »Da ist ja einer, der sich mit uns abgibt«, konstatierten diese überrascht. Aber Marco Bülow verpönte auch die »traditionelle« Stimmenwerbung nicht: Er ging in Kleingartenanlagen, Altersheime, an Straßenstände. Und schaffte damit zumindest für den Dortmunder Wahlkreis einen tief greifenden Generationswechsel.
Was er nicht schaffte, war die Verfolgung konsequent sozialdemokratischer Politik. Seine Partei begann damals unter Gerhard Schröder mit der Entsorgung derer traditionellen Ziele und Prinzipien, als sie die »Agenda 2010« beschloss und damit den Niedergang der deutschen Sozialdemokratie einleitete. Auch Bülow, der immer dagegen angekämpft hatte, verlor sukzessive das Vertrauen seiner Wähler und in der Folge fast 20 Prozent der Stimmen. Er empfindet sich als ohnmächtig und möchte nicht weiter am absehbaren Sturz der SPD in die Bedeutungslosigkeit teilnehmen.
Gerade sein Beispiel zeigt, wie erfolgreich die SPD sein könnte, wenn sie sich zu glaubhaft linker Politik entschließen würde. Mit 57,8 Prozent der Erststimmen hatte er begonnen und 2005, 2009 und 2013 stets über 40 Prozent erhalten; sogar jetzt noch 38,8 Prozent. Damit lag er jeweils deutlich über dem SPD-Zweitstimmen-Resultat, d. h. man vertraute ihm persönlich mehr als der Partei, die er vertrat. Auch Martin Schulz hatte das erfahren, als er als Kanzlerkandidat die Rückkehr zu sozialdemokratischen Grundsätzen versprach; sein Absturz war dem Unwillen der rechtslastigen Führung, ihm zu folgen, und der eigenen Unentschlossenheit bei der Realisierung seiner Ankündigungen geschuldet.
Seither setzt sich Verfall der SPD beschleunigt fort. An der Wahlurne kann sie nur verlieren, solange sie diesen Kurs fortsetzt; daher auch ihre panische Angst, es könnte in absehbarer Zeit zu Neuwahlen kommen. Marco Bülow müsste davor keine Furcht haben. Seine Wahlspruch lautet: »Wenn einer alleine träumt, ist es nur ein Traum. Wenn viele gemeinsam träumen, ist es der Anfang einer neuen Wirklichkeit.« Seine Befreiung von der SPD ist ein Schritt dahin.