Im virtuellen Propagandakrieg sieht sich der Westen als Opfer. Dabei ist er aktiv daran beteiligt. Denn wer sein eigenes politisches System – wie aktuell das USA-Establishment – für unfehlbar hält, schiebt Mängel und Probleme bevorzugt auf böswillige Einflüsse von außen. Neu ist diese Methode nicht.
(pri) Das hatten wir doch schon einmal, dass ein System im unverbrüchlichen Glauben an die eigene Unfehlbarkeit nicht verstehen konnte, dass es da dennoch Widersprüche gab, Unzulängliches, Verbesserungswürdiges – und Leute, die Kritik übten, Veränderung einforderten und an diesen arbeiteten. Solche konstruktive Opposition, so glaubten die Führungen der sozialistischen Länder, könne doch gar nicht aus ihrem System hervorgehen. Sie konnten sich nicht erklären, so brachte es unlängst Florian Havemann, Sohn eines jener Oppositionellen, im Film »Familie Brasch« auf den Punkt, »dass es in ihrem Land Widersprüche gibt, die, wenn man sie wahrnimmt, einen zu einer kritischen, oppositionellen Haltung gegenüber der DDR bringt … Die dachten immer, es sind äußere Einflüsse«.
Man erfand für diese gefühlte Einwirkung von außen den Begriff der »politisch-ideologischen Diversion«, kurz PID, als einer Feindaktivität, die kompromisslos zu bekämpfen sei, auch und gerade in der DDR. In deren Ministerium für Staatssicherheit gab es folglich ein ganzes Lehrbuch dazu und eine Definition, der es an Deutlichkeit nicht mangelte: „Politisch-ideologische Diversion (PID) ist das subversive ideologische Einwirken des Imperialismus auf das gesellschaftliche Bewusstsein in sozialistischen Staaten und das individuelle Bewusstsein ihrer Bürger, insbesondere durch das planmäßige und systematische Verbreiten von Konzeptionen, Anschauungen, Wertungen und Grundsätzen, deren Inhalt sowohl von militant-grobschlächtigem als auch von flexibel-verschleiertem Antikommunismus geprägt ist … Mit ihr wird das subversive Ziel verfolgt, in den sozialistischen Staaten in einem langfristigen Prozess entscheidende ideologische Voraussetzungen für konterrevolutionäre Veränderungen zu schaffen.«
Die Zahl der Institutionen, die solcher Feindtätigkeit bezichtigt wurden, war groß. Sie reichten vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen und den Stiftungen der Parteien über kirchliche Einrichtungen, zeitgeschichtliche Forschungsinstitute, Kulturinstitutionen bis hin zu den Medien, vor allem Rundfunk und Fernsehen, und natürlich Organisationen, die sich speziell der Kontaktpflege in die DDR widmeten. Ständig kamen neue hinzu – gewissermaßen proportional zum Anwachsen der inneren Probleme.
Genützt hat der Kampf gegen die PID letztlich nichts, denn es waren eben doch eher hausgemachte Widersprüche als äußere Einflüsse, die den Sozialismus – nicht nur in der DDR – zum Einsturz brachten. Der Glaube an die Unfehlbarkeit des sozialistischen Systems erwies sich als Irrglaube. Man sollte meinen, eine systemübergreifende Lehre für die Politik, aber weit gefehlt. Heute, keine 30 Jahre später, erleben wir eine Renaissance der PID-Theorie, unter anderem Namen, aber dieser in Wesen und Erscheinung doch sehr ähnlich.
Jetzt heißt es »hybride Kriegsführung« und »Cyberwar«. Schon auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2015 beklagte Angela Merkel etwas kryptisch eine »Verunsicherbarkeit unserer Gesellschaften« und forderte: »Wir müssen uns damit auseinandersetzen, mit Misinformation, Infiltrierung und Verunsicherung.« Auch sie sah vor allem äußere Kräfte am Werk, namentlich aus Russland. Im 2018 erschienenen Buch „Cyberwar. Die Gefahr aus dem Netz“, folgen die Autoren Constanze Kurz und Frank Rieger im wesentlichen dieser Vorgabe, wenn sie schreiben: »Durch Desinformation und geschickte Auswahl der Bereiche, die zu zerfragen sind, und solcher, die von der Dekonstruktion verschont bleiben, soll eine Polarität von Chaos und Ordnung erzeugt werden. Auf der einen Seite steht der zerstrittene, von Korruption und Wohlstandsspaltung zerfressene Westen, auf der anderen Seite das ordentliche, planmäßig voranschreitende, rational-national handelnde Russland unter seinem großen Führer Putin.« Bereits 2016 war laut FAZ »aus Sicht deutscher Sicherheitskreise (…) das wichtigste Ziel ganz klar: die Schwächung Europas. Auf unterschiedlichen Wegen und Kanälen versucht die russische Führung dabei, Stimmungen und politische Kräfte in Europa zu fördern, die sich gegen die Europäische Union und gegen die euroatlantische Partnerschaft richten.« Wie etwa ein Kuckuck, der seine Eier heimlich in fremde Nester legt, was alsbald zur Schwächung, gar Eliminierung der eigenen Population führt.
Instrumente seien sowohl Medien wie der Auslandssender »Russia Today« (RT) oder das Internet-Portal »Sputnik« als auch die sozialen Netze, über die vor allem »Trolle« massenhaft Falschmeldungen verbreiteten. Die »offenen Gesellschaften« des Westens sehen sich dabei in einer Opferrolle. »Kann das Kanzleramt, das Weiße Haus ebenfalls Armeen von Bots und Trollen aufbieten, um sich »symmetrisch« zu wehren?« fragte die »Zeit« unlängst. »Oder einem russischen Propagandasender wie RT Deutsch den Stecker ziehen?« Verschwiegen wird dabei, dass der psychologische Krieg gegen den Sozialismus – ungeachtet seiner Überhöhung durch dessen Führungselite – nicht nur eine Jahrzehnte geübte Praxis des Westens war, sondern dass man sich auch gegenwärtig solcher Methoden intensiv bedient – überall dort, wo man die eigenen Interessen und Machtpositionen bedroht sieht. Selbst Kurz und Rieger gestehen ein »dass die gleichen Methoden, die man Russland zur Unterminierung des Westens vorwirft, auch von politischen Akteuren im Westen angewendet werden, um ihre Ziele zu erreichen«.
Und das seit langem. In dem 1965 in Bonn erschienenen Buch »Der verdeckte Kampf« wird er als eine Kampfform bezeichnet, die sich »im Friedensbereich zunächst als eine Verschärfung des kalten Krieges« entwickelt. In einem Land mit stabilen Verhältnissen sei dabei das Ziel, »einen psychologischen Erschütterungsprozess ein(zu)leiten, der die Autorität der legalen Regierung und die moralische Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung gefährdet«. Schon damals richteten sich solche Aktivitäten nicht nur gegen die Länder des sozialistischen Lagers; sie werden bei Bedarf weltweit angewandt.
Die Beeinflussung des Wahlverhaltens in anderen Ländern ist dabei ein besonders probates Mittel. James Woolsey, CIA-Direktor von 1993 bis 1995, gab später zu, dass sich die USA seit dem zweiten Weltkrieg mindestens 81 mal in Wahlen eingemischt haben. Natürlich, wie er hinzufügte, zum »Wohle des Systems«, also »für einen sehr guten Zweck«. Dass jetzt auch einstige Zielstaaten wie Russland solche Methoden anwenden, verunsichert den Westen. »Die allgegenwärtigen Widersprüche und Konflikte in den westlichen Demokratien, die Abwesenheit von großen politischen Visionen, die als Orientierungspunkt dienen könnten, bieten in Kombination mit der digitalen Medienwelt einen fruchtbaren Boden für Einflussnahme«, beklagen Kurz und Rieger. Gezielt würden »Themenfelder wie Polizeigewalt, Benachteiligung von Minderheiten, Ungerechtigkeiten und die immer weiter aufklaffende Schere zwischen Arm und Reich« aufgegriffen, »die in den westlichen traditionellen Medien wenig oder mit geringer Priorität diskutiert wurden«. Immerhin werden – anders als in den sozialistischen Ländern – hausgemachte Mängel eingestanden, wenigstens von Wissenschaftlern, aber auch die betrachten sie eher als Nebensache, als Begünstigung äußerer Einflüsse.
Auch deswegen stehen sie ziemlich ratlos der Tatsache gegenüber, dass solche Praktiken zunehmend bei ihnen selbst salonfähig werden. Ob beim Brexit-Referendum, bei der Wahlkampagne Donald Trumps und immer öfter im innenpolitischen Schlagabtausch stößt man auf im kalten Krieg entwickelte Instrumente psychologischer Kampfführung – so den »Verzicht auf den ausschließlichen Gebrauch nüchterner Vernunft und Skepsis«, um Menschenmassen in politisch nutzbare Erregung zu versetzen. Jetzt sind es die Schwachstellen und Defizite des innenpolitischen Gegners, an die angeknüpft wird, die jedoch von der einen Seite gleichzeitig aufgebauscht oder gar durch Lügen angereichert werden, während die Betroffenen bevorzugt mit dem Finger nach draußen zeigen.
Für die im Präsidentschaftswahlkampf 2016 in den USA unterlegenen Demokraten war es folglich außerhalb ihrer Vorstellung, sie könnten an der Niederlage vor allem selbst schuld sein. Vielmehr wurden die »Täter« sofort anderswo ausgemacht, bevorzugt beim noch immer als kommunistischer Feind wahrgenommenen Russland, mit dem der republikanische Gegner zudem enge geschäftliche Beziehungen unterhielt. Dass Trump die innerparteilichen Kämpfe in der Demokratischen Partei und die aus dem Email-Verkehr Hillary Clintons bekannt gewordenen schmutzigen Tricks gegen Bernie Sanders, ihren linken Rivalen um die Nominierung, zur Demotivierung der Wählerschaft der Demokraten nutzte, indem er Misstrauen gegen das Washingtoner Establishment schürte, war ihnen Beweis für dessen vorgebliche »Russland-Connection«. Sie strengten eine hochnotpeinliche Untersuchung durch Sonderermittler Robert Mueller an, die die Vorwürfe aber nicht zu belegen vermochte. Die Anklage gegenüber Moskau jedoch bleibt, ungeachtet dessen, dass die Offenlegung der Intrigen des demokratischen Wahlkampf-Teams durch das Hacken einschlägiger Emails – durch wen auch immer, vielleicht auch russische Spezialisten dann immerhin zu Transparenz vor der Wahlentscheidung beigetragen hätte.
Nicht nur wegen solcher Nebenwirkungen des »Cyberkrieges« können ihm einige, auch militärische Strategen einiges abgewinnen. Bereits 2010 sah der deutsche IT-Experte Sandro Gaycken in ihm eine sinnvolle Option, sei er doch »kostengünstiger, risikofreier, taktisch flexibler, er kostet weniger zivile Menschenleben und verursacht weniger irreversible Zerstörungen«. Auch der russische Generalstabschef Walerij Gerassimow konstatierte 2013, die Regeln des Krieges hätten »sich grundlegend geändert. Die Rolle nichtmilitärischer Mittel bei der Erreichung politischer und strategischer Ziele ist gewachsen, die in einer Reihe von Fällen in ihrer Effektivität die Kraft der Waffen übersteigen«.
Dazu kommt, wie Kurz und Rieger feststellen, dass solche Aktivitäten sich nur schwer als direkte Aggression interpretieren lassen. »Und da es keine internationalen Konventionen gegen solche Einflussoperationen gibt, bietet das Völkerrecht keine besonders brauchbare Handhabe für Gegenschläge.« Auch wenn es gegenwärtig keineswegs so aussieht, künftig könnten an die Stelle von klassischen Waffengängen mit »hardware« solche mit »software« treten. Gegen derartige Angriffe an der ideologischen Front hilft es eigentlich wenig, Feinde im virtuellen Raum zu suchen. Vielmehr sollte man die Bevölkerung durch vernünftige Politik im eigenen Land dagegen immun machen.