(pri) Einige Wochen lang hat man sich nun über das nassforsche Vorgehen der europäischen Regierungen, die sich arrogant über das Wahlversprechen hinwegsetzten, das EU-Führungspersonal von den Bürgern des Kontinents bestimmen zu lassen und stattdessen ihre eigenen Kandidaten aufs Podest hoben, empört – und doch war auch diese Erregung letztlich nicht mehr als ein Ablenkungsmanöver.
Denn so berechtigt die Kritik an der Missachtung des Spitzenkandidatenmodells und die Zweifel an den politischen Fähigkeiten einer Ursula von der Leyen auch sind; viel mehr fällt bei dieser Sache ins Gewicht, dass die Postenvergabe nach der Europawahl nicht im geringsten unter der Prämisse erfolgte, was für Europa das Beste sei, sondern als Kotau vor dem in fast allen Staaten des Kontinents obwaltenden Nationalismus. Doch dies wurde – wohl nicht zufällig – nur am Rande thematisiert.
Begonnen damit hatten, auch kaum zufällig, osteuropäische Länder wie Ungarn und Polen, deren derzeitige Regierungen die EU nicht als eine Gemeinschaft von Staaten mit einem gemeinsamen Wertesystem betrachten, sondern eher als ein Vehikel zur Durchsetzung eigener nationalistischer Ziele – und zwar nach außen wie im Inneren. Nach außen sind sie geradezu manisch bemüht, die EU – wie schon die NATO – gegen Russland in Stellung zu bringen, wobei ihnen andere Politiker, die sich offensichtlich in den Schützengräben des kalten Krieges am wohlsten fühlen, durchaus beispringen. Das gilt für die Regierungen baltischer Staaten ebenso wie für rechtsgerichtete Administrationen Nord- und Westeuropas.
Im Inneren betrachten diese osteuropäischen Potentaten die demokratischen Grundsätze der Europäischen Gemeinschaft als außerordentlich störend bei ihren Versuchen, sich die Macht über ihre Völker dauerhaft zu sichern und nicht einem unwägbaren Wechselspiel des Ausgleichs durch Wahlen, eine unabhängige Justiz und investigative Medien zu unterwerfen. Daher war für sie der holländische Kommissions-Vize Frans Timmermans ein rotes Tuch, hatte er doch energisch die europäischen Werte zu verteidigen versucht, wenn auch meist nur halbherzig von der EU-Kommission unterstützt. Auch jetzt fand er keine Unterstützung bei jenen, die längst ihr eigenes nationalistisches Süppchen kochten, vor allem Deutschland und Frankreich.
Bundeskanzlerin Merkel wie Präsident Macron ging es vor allem darum, tonangebend in der EU zu bleiben und ihre Agenda durchzusetzen. Der deutsche CSU-Kandidat Weber als Kommissionspräsident schien dafür beiden wenig geeignet, nicht zuletzt wegen der langen EU-skeptischen Position der Christsozialen. Merkel konnte das zwar nicht laut sagen; dafür tat dies Macron umso mehr, und beide ließen den Bayern denn auch schnell fallen. Inwieweit deren folgende Verständigung auf Timmermans ernst gemeint oder – in Anbetracht des zu erwartenden Widerstands aus dem Osten – nur eine taktische Finte war, werden dereinst die Historiker herauszufinden haben.
Jedenfalls kam der Widerstand Merkel wie Macron, die bis dahin die Kritik am Demokratieabbau in Ungarn und Polen, wenn auch nur zurückhaltend, geteilt hatten, sehr zupass. Zwar hätte jetzt die Chance bestanden, das Wertegerüst eines vereinigten Europa durch die Bestellung von Personal, das kompromisslos demokratische Prinzipien durchsetzt, konsequent zu verteidigen und seine Gegner in die Schranken zu weisen, aber wichtiger war den Deutschen wie den Franzosen die Verfolgung eigensüchtiger Ziele; letztlich handelten sie damit nicht anders als Ungarn, Polen und ihre Verbündeten der EU-kritischen Visegràd-Länder. Sie nahmen sogar hin, dass sich mit dem tschechischen Ministerpräsidenten Babis ein Mann als Visegrád-Wortführer profilieren konnte, für den die EU vor allem als melkende Kuh für die eigenen Unternehmen dient und gegen den und seine Geschäfte bereits mehrfach Hunderttausende Tschechen auf die Straßen gegangen waren.Dem polnischen Ministerpräsidenten Morawiecki, dessen Land besonders unsolidarisch auftritt, wenn Kompromissfähigkeit in der EU gefragt ist, ließen sie es durchgehen, dass er jetzt verlangte, die Interessen aller Mitgliedsstaaten gebührend zu berücksichtigen. Es störte sie auch nicht, dass der eigentliche starke Mann der italienischen Politik, der Chef der rechtsradikalen Lega, Matteo Salvini, auf ihre Seite trat, weil er wie Babis, Kaczynski, Orban und andere in Timmermans einen Verfechter eines solidarischen Umgangs der EU-Staaten bei der Integration Geflüchteter sieht – ein Anliegen, für das Merkel eigentlich stets kämpfte, das ihr aber nun plötzlich egal war, als es darum ging, den Kommissionsvorsitz für eine Deutsche zu retten. Sogar die Stimmen rechtsextremer EU-Abgeordneter würden dafür wohl in Kauf genommen.
Wichtige verbliebene Timmermans-Befürworter wie der sozialdemokratische spanische Ministerpräsident Sanchez wurden mit Posten wie dem des Außenbeauftragten ins Boot geholt. Die Sozialdemokraten sicherten sich dazu die Funktion des Parlamentspräsidenten. Und an Frankreich fiel die wohl einflussreichste Position in Europa, die des über den Euro herrschenden EZB-Chefs, die Macron für Christine Lagarde sicherte.
Dieser Triumph des Nationalismus in einer Organisation, die eigentlich um der Integration willen geschaffen worden war, fand denn auch den einhelligen Beifall der beteiligten europäischen Regierungen, die deutsche eingeschlossen, die sonst nicht laut genug die europäische Einheit preisen kann. Wer sich hingegen dem Postenschacher verweigerte, wie die SPD, wurde und wird wie ein vaterlandsloser Geselle behandelt. Besteht die Chance, dass eine mittelmäßige deutsche Politikerin ein wichtiges europäisches Amt bekommt, kennt die politische Klasse »keine Parteien mehr«. Und die sogenannten Leitmedien vorneweg, obwohl nicht wenige von ihnen bislang von der Leyen zum absoluten Schwachposten des Merkel-Kabinetts erklärt hatten. Nun aber droht die »Bild«-Schlagzeile »Wir sind Europa!«