Feuerland und Kap Hoorn

(pri) Eine Reise, schon vor einigen Jahren absolviert und hier in Teilen bereits beschrieben, führte rund um Südamerika und erreichte dabei auch die Südspitze dieses Kontinents mit Feuerland und Kap Hoorn. Der Text über diesen Teil der Ausfahrt blieb damals aus verschiedenen Gründen unvollendet; jetzt ist er zu Ende gebracht. Er vermittelt zumindest die Erkenntnis, dass es außerhalb unseres sehr abgeflachten Tellerrands auch anderswo Probleme gibt, oft solche ganz anderen Kalibers. Das relativiert die Wahrnehmung der eigenen Beschwernisse und fördert Gelassenheit bei ihrer Bewältigung. Machen wir uns also auf den Weg!

Damals starteten wir in Valparaiso, besuchten die sogenannte chilenische Schweiz und maßen schließlich die lange Strecke der chilenischen Fjorde aus. Dann lockte der südliche Scheitel des Kontinents …

 

Unterwegs nach Ultimo

Zwischen Feuerland und Kap Hoorn bekommt das Wort vom »Ende der Welt« einen bedenklichen Doppelsinn

Das Ende der Welt zeigte sich von seiner besten Seite, als wir bei Sonnenaufgang das südpazifische Inselgewirr hinter uns gelassen hatten und in den Westteil der Magellanstraße einfuhren – mit Ziel Punta Arenas. Über spiegelglattem Wasser malt die noch unsichtbare Sonne kräftige Farbstreifen an den dunkelblauen Himmel – mal in sattem Rot, dann in Blassrosa, ein Streifen Elfenbein – vielleicht ein Wolkenband, dann eher Gelb-Orange, das in Weinrot und schließlich Violett übergeht. Kleine Lotsenboote nähern sich und geben der Szenerie etwas Anheimelndes, Beruhigendes. Schließlich hebt sich die Sonne aus dem Meer, grellgelb im Zentrum, aber blutrot dort, wo sich die Strahlen übers Himmelszelt ergießen.

Anfahrt nach Punta Arenas

Wer dieses Bild sieht, kann sich gut vorstellen, dass es immer wieder Menschen hierher zieht. Dazu kommt der aufregende Gedanke, bis ans Ende der Welt vorgestoßen zu sein, denn hinter dem Horizont kommen nur noch Kap Hoorn und die Antarktis. Seefahrer hatten zudem ein ganz profanes Motiv; sie wollten den Weg ins sagenumwobene Indien finden, versprach es doch den einen unermessliche Reichtümer, den anderen die Erweiterung des Erkenntnishorizonts. Die amerikanische Landmasse ließ sie auf den Schiffsweg ausweichen. Heute kommen neben Globetrottern, die das Abenteuer lieben, immer mehr ganz normale Touristen bis zur Südspitze Amerikas. Sie blicken – eingehüllt in die wasserdichten Anoraks aus der Schiffsboutique – von der Reling der Kreuzfahrtriesen auf die schmelzenden Gletscher und die zerklüfteten Felsen im Meer, ertragen auch ein paar peitschende Regenschauer ins Gesicht, um alsdann in den wohltemperierten Deckbars und beim unterhaltsamen Bordleben einen kräftigen antiökologischen Fußabdruck zu hinterlassen.

Denn natürlich trügt das betörende Sonnenaufgang-Bild. Hier gibt es kein Urlaubsparadies mit Sonnenstränden und keine Ferienresorts, hier muss man sich auf das Einfache und Ursprüngliche einstellen und damit zufrieden geben. Die 300 spanischen Siedler, die sich im Gefolge Magellans 1584 hier, auf der Halbinsel Brunswick, 60 Kilometer südlich vom heutigen Punta Arenas, niederlassen wollten, fanden nicht einmal genug zum Überleben und verhungerten, so dass der Pirat Thomas Cavendish, der drei Jahre später die Überreste ihrer Kolonie fand, den grausigen Ort »Port Famine« (Hungerhafen) nannte und zu dem Schluss kam:

»Es kann keinen Grund irgendeiner Art geben, ganz gleich ob aus Nützlichkeit oder Zweckdienlichkeit oder aus taktischen Gründen, irgendjemanden dazu zu bewegen, sein eigenes Land aufzugeben und die harte Strafe auf sich zu nehmen, sich in der Magellan-Straße niederzulassen.«

Und tatsächlich bietet auch heute Punta Arenas nicht viel. Beiderseits der Bucht, die zum Hafen führt, die typischen Lagerhallen, Baracken und Krananlagen, nicht sehr ausgedehnt, denn die Stadt mit ihren etwa 115 000 Einwohnern ist nur von begrenzter wirtschaftlicher Bedeutung. Das war bei ihrer Gründung 1848 noch anders, denn damals gab es keinen Panamakanal, und der Handelsverkehr nach Asien verlief durch die Magellanstraße mit Punta Arenas als Anlaufpunkt. Schiffe mussten neu versorgt, vielleicht repariert werden, Seeleute waren zu betreuen. Die Stadt florierte und zog Auswanderer aus aller Welt an, die auch willkommen waren.

Die Öffnung des Seewegs durch die Karibik beendete solche Konjunktur, doch inzwischen hatten sich Briten angesiedelt, die auf den ausgedehnten Weideflächen Rinder, vor allem aber Schafe züchteten. Als die Bedeutung des Wollhandels mit dem Aufkommen synthetischer Garne sank, fand man Erdöl und Erdgas in Patagonien und damit wenigstens teilweise einen Ausgleich zu ausgefallenen Einnahmequellen.

Magellan-Denkmal in Punta Arenas

Von der einstigen Blüte Punta Arenas‘ zeugen noch heute die mitunter verblichenen, oft aber auch aufgemöbelten Prachtbauten im Zentrum, vor allem um die Plaza Mu?oz Gamero, wo neben der Kathedrale die Schafzüchter-Barone ihren Reichtum ausstellten. Hier steht auch ein Magellan-Denkmal, das den Eroberer mit frappierender Offenheit in Siegespose auf einem Kanonenrohr zeigt, während sich die Ureinwohner mit ihren Lanzen und Macheten unter ihm ducken. Heute ist der Platz von Touristen überlaufen, um deren Aufmerksamkeit und Freigiebigkeit unzählige Andenkenhändler, Folklorekünstler ohne oder mit Instrument – einschließlich Leierkasten – lautstark werben.

Denn inzwischen ist Punta Arenas vom Fremdenverkehr einschließlich der Ausrüstung und Organisation lukrativer Expeditionen in Richtung Südpol stark abhängig, muss sich dabei aber der wachsenden Konkurrenz argentinischer Städte, wie des noch weiter südlich liegenden Ushuaia erwehren. Schon wenige Schritte vom pompösen Zentrum entfernt ist der wirtschaftliche Niedergang der Stadt offen sichtbar. Denn hier sind neben der Kolonialarchitektur vermehrt hässliche Flachbauten, gesichtslose Wohnsiedlungen und auch armselige Hütten zu finden, und angesichts im Winter nicht seltener Temperaturen von minus 20 bis 30 Grad fragt man sich, wie das in Wellblechbauten und einfachen Holzhäusern auszuhalten ist. Wenigstens eine teilweise Antwort liegt in den niedrigen Preisen vor allem für Erdgas, das hier gefördert wird und den Bewohnern von Punta Arenas erlaubt, ihre Wohnungen sogar zu überheizen.

Den schönsten Blick auf die Stadt hat man von einem Hügel, dem Mirador. Dort sieht man fast nur die roten, blauen, grünen Dächer der sauber gestrichenen Häuser und einen riesigen Wegweiser, der in zahlreiche bekannte Städte dieser Welt verweist und dessen Schilder die Besucher von weither offensichtlich selbst angebracht haben – so verschiedenartig sind sie gestaltet.

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Aber Punta Arenas hat auch noch eine sehr dunkle Seite. Schon in seinen Gründerjahren gab es dort zeitweise eine Strafkolonie, und die etwa 100 Kilometer südlich, zwischen Brunswick und Feuerland liegende Insel Dawson, die wir in der Nacht auf dem Weg in die Stadt passiert hatten, diente zu Ende des 19. Jahrhunderts als Gefängnis-Eiland. Nachdem Augusto Pinochet am 11. September 1973 gegen die Regierung Allende geputscht hatte, belebte er diese unselige Tradition wieder und ließ hier ein Konzentrationslager und Folterzentrum einrichten, in dem unter anderem zahlreiche Politiker aus der Allende-Zeit einsaßen. Die von mehreren Reihen Stacheldraht umgebenen Baracken waren ähnlich wie jene in Auschwitz angeordnet – vielleicht kein Zufall, denn ein Deutscher, der nach dem Ende des Nationalsozialismus in Chile untergetauchte ehemalige SS-Standartenführer Walter Rauff, soll die chilenische Militärjunta beim Bau beraten haben. So schilderte es jedenfalls der Bildhauer Rodolfo Mansilla dem Fernsehjournalisten Klaus Bednarz, als der Patagonien und Feuerland bereiste; Mansilla nannte das Lager eine »Miniaturausgabe des KZ Auschwitz«.

Er war selbst zwei Jahre auf Dawson inhaftiert und hat das Martyrium nicht vergessen:

»Sie schlugen mich, sie hängten mich an den Armen auf. Sechs Soldaten banden ein Seil um meine Füße, schleiften mich nackt durch ein Feld mit Dornenbüschen. Es waren lange scharfe Dornen von Calafate-Sträuchern. Im Winter packten sie uns, warfen uns mit aller Wucht auf eine zugefrorene Lagune, bis die Eisdecke barst, und drückten unsere Köpfe unter Wasser. Und sie traktierten uns mit Stromstößen. Ich sollte zugeben, Waffen aus Kuba in die Universität geschmuggelt zu haben.«

Rauff hingegen hatte in Chile nichts zu befürchten. Er war zwar unter Hitler als Leiter der technischen Abteilung im Reichssicherheits-Hauptamtes für die Entwicklung mobiler Gaskammern verantwortlich, in denen 200 000 Menschen umkamen, und spielte nach dem Krieg bei der Flucht und dem Verstecken anderer Nazi-Größen eine unrühmliche Rolle, verkehrte aber nach Angaben des Nürnberger Menschenrechtszentrums schon bald nach seiner Übersiedelung nach Chile 1958 in höheren Offizierskreisen des Landes, wo er unter anderem Augusto Pinochet kennenlernte. 1961 ließ er sich in der Kleinstadt Porvenir auf Feuerland nieder, »weil ich jeden sehen kann, der kommt und geht. Niemand würde versuchen, mich hier zu kriegen«, wie er später eingestand. Zudem hatte ihn der BND als Agenten angeheuert. Dennoch wurde er von Antifaschisten aufgespürt und 1962 ein Haftbefehl gegen ihn erwirkt. Doch zu einer Auslieferung in die Bundesrepublik kam es nicht, weil Mord in Chile nach 15 Jahren verjährt war. Auch die spätere Regierung Allende hielt sich daran, obwohl sie intern die Überstellung befürwortete.

Nach Pinochets Militärputsch war Rauff nicht nur aller Sorgen ledig, sondern stellte sich in den Dienst der Diktatur. Auch an Folterverbrechen soll er beteiligt gewesen sein, wie der chilenische Schriftsteller Leon Gomez an Eides statt erklärte:

»Ich sah vor meinen Augen einen meiner Folterer, den ich wegen seines ausländischen Akzentes (von den anderen) unterscheiden konnte, und ich konnte glaubwürdig feststellen, dass es sich um den deutschen Nazi Walter Rauff handelte.«

1975 war Rauff in die Hauptstadt Santiago zurückgekehrt, wo er 1984 im Alter von 77 Jahren starb.

An seinem Grabe sollen einige Trauergäste »Heil Hitler« und »Heil Rauff« gerufen haben. Das KZ auf der Insel Dawson blieb bis zum Ende der Pinochet-Diktatur 1989 in Betrieb. Die Schatten des damaligen blutigen Terrors reichen also bis hierher, und in Punta Arenas wohnen jetzt wohl Täter und Opfer Straße an Straße.

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Als der britische Admiral und Weltentdecker John Byron gute 250 Jahre nach Magellan Feuerland umsegelte, hatte er bereits für jenen Punkt auf der Halbinsel Brunswick, an dem sich heute Punta Arenas befindet, einen Namen – Sandy Point, was sandiger Ort heißt. Vielleicht liegt darin einer der Gründe dafür, dass nur anderthalb Autostunden entfernt, am Otway-Fjord, am ausgedehnten Sandstrand eine große Pinguin-Kolonie entstand, die natürlich für jeden Besucher von Punta Arenas ein Muss ist. Der Weg dorthin führt durch flaches, ziemlich ödes Land, die Straße wird schon bald zu einer Schotterpiste. Vereinzelt zeigen sich Rinder und Schafe, aber auch Nandus, die südamerikanischen Strauße. Dann ein Schild vor abgezäuntem Gelände. Ein vorgeschriebener Weg führt zum Fjord, und zunächst sieht man nichts als eine Menschenschlange.

Pinguine, die auf Menschen schauen

Tatsächlich vollzieht sich die »Reise der Pinguine« bei weitem nicht so ungestört wie in jenem grandiosen französischen Naturfilm aus dem Jahre 2005 in der Antarktis. Gewiss, die Temperaturen sind ungleich angenehmer jetzt hier im südamerikanischen Sommer, deutlich über 20 Grad Celsius. Die Sonne scheint, der Wind ist erträglich; dieses schöne Wetter hat jedoch für die Pinguine eine Kehrseite: Es lockt Touristen an, die hier nun auf einem eineinhalb Meter breitem Weg, rechts und links begrenzt durch Holzlatten und ein stabiles Seil, dem Wasser zustreben, das schon bald unter den Füßen gluckst. Immer öfter unterbrechen Sumpfstellen und kleine Tümpel das spärliche Gras; schließlich verhindern Holzplanken, dass die neugierigen Besucher nasse Füße bekommen. Und die Planken werden dann immer öfter zu Brücken über Rinnen und Gräben. Und da sieht man plötzlich auch den einen oder anderen Pinguin, der auf dem Weg von seiner Bruthöhle zum Wasser den Menschenpfad unterquert.

Er schaut fast so interessiert zu den großen Zweibeinern auf wie diese auf ihn herab. Denn auch er steht auf zwei Beinen und watschelt behende voran. Er hat gelernt, dass er die Menschen nicht fürchten muss, aber ein wenig Respekt bleibt dennoch. Vor der kleinen Brücke hält er an, wenn dort einer gar zu lange verharrt, um ein ausdrucksvolles Foto zu schießen oder gar ein Video aufzunehmen. Erst wenn die Luft über ihm frei ist, eilt er weiter. Er will zum See, um Fische zu fangen, denn in der Bruthöhle wartet der hungrige Nachwuchs, sorgsam bewacht vom anderen Elternteil.

Der etwa 70 Zentimeter große Magellan-Pinguin ist ein Vogel, der jedoch nicht fliegen kann, denn sein Flügel ist, wie Alfred Brehm es beschrieb,

»so verkümmert, dass er wirklich eher eine Flosse als einem Fittiche gleicht, da seine Federn sich fast zu Schuppen umgebildet haben. Auch das Gefieder erinnert durch die Bildung und dachziegelartige Lage der Federn an die Schuppen der Fische, und somit darf man die Flossentaucher in der Tat Fischvögel nennen«.

Ihr natürlicher Lebensraum ist das Meer, aber zur Fortpflanzung und Brutpflege gehen sie an Land. Im südamerikanischen Sommer zwischen September und März graben die Männchen flache , selten bis zu einem Meter in die Erde reichende Bruthöhlen. Dann werben sie um eine Partnerin oder rufen nach jener, mit der sie schon im Jahr zuvor Nachwuchs gezeugt haben. Selbst wenn sich die Weibchen in ganz anderen Regionen aufgehalten haben, kehren sie zum angestammten Brutplatz zurück und erkennen die Rufe des Partners. Nach Balz und Paarung legen sie in der Regel zwei Eier. Männchen und Weibchen wechseln sich bei der Bewachung der Höhle und der Nahrungssuche ab. Nach etwa 40 Tagen schlüpfen die Küken und entwickeln sofort einen beträchtlichen Appetit, der die Eltern ziemlich fordert.

Und so sehen die Touristen, je näher sie dem Wasser kommen, immer mehr Pinguine, oft ganze Gruppen, die eilig den Fischgründen zustreben. Sie kommen jedoch nur langsam vorwärts, weil lediglich kleine Schritte möglich sind. Oft müssen sie von Abhängen hinab springen oder rutschen. So mühsam das ausschaut, lässt es die Pinguine nicht erlahmen. Mit den Erwachsenen gehen auch schon viele Jungtiere diesen Weg, denn es ist Februar, und bald kommt hier der Winter, der die Pinguine in wärmere Gefilde treibt.

Im Meer sind die »Fischvögel« ganz in ihrem Element. Während die Alten jagen, genießen die Jungen das Planschen, lernen schwimmen und selbst auf Nahrungssuche zu gehen. Zu ihren Eltern finden sie immer wieder zurück, denn jeder Pinguin hat seinen eigenen Ruf und die Fähigkeit, jene der Verwandten unter Tausenden anderen herauszuhören. Und das ist auch nötig, denn jährlich kommen bis zu 50 000 Pinguine zum Brutplatz am Otway-Fjord.

Ganz so viele Touristen sind es vermutlich nicht, aber in dem halben Jahr Brutzeit ist auch der menschliche Zulauf groß, der die Pinguine augenscheinlich wenig beeindruckt, der Tourismus-Branche jedoch bei wenig Investitionsaufwand erhebliche Mittel in die Kassen spült. Sechs Dollar kostet der etwa einstündige Rundgang auf dem gut zwei Kilometer langen Parcours, der an einigen Stellen von Aussichtstürmen und am Wasser von einer großen Plattform ergänzt wird. Ein kurzweiliges Spektakel, aber immer noch besser als die lange geübte, auch jetzt noch nicht ganz ausgestorbene Praxis, Pinguine abzuschlachten und als Köder für den Fang der begehrten Königskrabben zu benutzen.

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Dass Pinguine immer wieder an die vertrauten Brutstellen zurückkehren, liegt in ihren Genen, weniger an der Attraktivität der Örtlichkeit. Bei Menschen ist das mitunter anders; sie können sich in eine Gegend, eine Landschaft verlieben und dort eine Heimat finden, auch wenn das Leben vor Ort manchmal mühsam und entbehrungsreich ist. In und um Punta Arenas begleitete uns Michelle, in ihrem Äußeren kaum von Einheimischen zu unterscheiden, aber doch eine Deutsche, die Hotelkauffrau gelernt und auf dem Frankfurter Flughafen gearbeitet hatte. Hier lernte sie einen Chilenen kennen und lieben, der sie mitnahm in sein Land, an dessen südlichste Spitze, die sie – im Unterschied zum Freibeuter Cavendish – ebenfalls lieben lernte.

Sie blieb hier, kaufte einen Kleinbus und organisiert Ausflugsfahrten für Touristen, die auf eigene Faust das »Ende der Welt« erkunden wollen. Nebenher kauft sie den Ureinwohnern kunsthandwerkliche Gegenstände wie Ponchos, Pullover, Mützen, aber auch Körbe und Nachbildungen von Schiffen und Tieren ab. Denn wenn im April der südamerikanische Winter beginnt, zieht es sie zurück nach Deutschland, und dann nimmt sie diese Sachen mit, um sie als Originalware der Mapuche-Indianer anzubieten. Das steht nun bald wieder bevor, und sie, die perfekt Spanisch und auch sehr gut Englisch spricht, ist froh, eine deutsche Gruppe zu führen, denn da kann sie ihre Muttersprache auffrischen, die ihr nicht mehr sehr geläufig ist. Oft muss sie nach dem richtigen Wort suchen und weicht auch gern ins Englische aus.

Während sich Michelle auf den Weg gen Osten freut, fahren wir jetzt von Punta Arenas zunächst in Richtung Süden und schwenken damit auf die gleiche Route ein, die vor exakt 500 Jahren der Portugiese Fernão da Magalhães nahm. Er, dessen Name eingedeutscht Ferdinand Magellan lautet, hatte aus Karten von früheren Reisen herausgelesen, dass es einen Durchgang vom Atlantik zum Pazifik geben müsse und wollte ihn finden, um auf diese Weise zu den Molukken, den sagenhaften Gewürzinseln, zu gelangen. Mit fünf Schiffen machte er sich am 10. August 1519 auf den Weg; am 21. Oktober 1520, dem Tag der Heiligen Ursula und der elftausend Jungfrauen, erreichten sie ein Kap, das Magellan deshalb »Cabo Vírgenes« (Kap der Jungfrauen) taufte. Südlich davon tat sich eine Bucht auf, die er erkunden ließ – und sie war tatsächlich das Eingangstor, von dem aus der Pazifik erreicht werden konnte. Mit dreien seiner Schiffe wagte er die Tour, von der er damals nicht wissen konnte, wo sie enden würde.

Auf der Magellan-Straße

Ohne solches Risiko machen auch wir uns nun auf den Weg zwischen Dawson und Feuerland, der größten Insel des südamerikanischen Archipels, und sehen schon bald die ganze Pracht der schneebedeckten Gipfel, die sich backbords aufreihen. Magellan nannte dieses Land »Feuerland«, weil – wie sein Chronist Antonio Pigafetta berichtetesie »des Nachts viele Feuer erblickten«, hinter denen sie Lager der Eingeborenen vermuteten. Eine andere Deutung bezieht sich auf den höchsten Berg der Insel, den 2246 Meter hohen Sarmiento, dessen zerklüfteter Gipfel wie eine Fackel aussieht, über die der beinahe ständige Wind Schneefahnen wehen lässt, die man auch für Rauchwolken halten kann.

Dann biegen wir westwärts in den schmalen, an seiner engsten Stelle nur etwa 300 Meter breiten Gabriel-Kanal ein, um gleich darauf die Magellanstraße wieder zu verlassen. Der Portugiese hingegen setzte seinen Weg nach Westen – vorbei an zahlreichen kleinen Inseln und Seitenkanälen – fort und erreichte nach 670 Kilometern am 28. November 1520 den Pazifik. Er nannte diesen großen Ozean den friedlichen, weil er auf dem Weg hierher immer wieder in heftige Stürme geraten war, nun aber eine ruhige See vorfand.

Unser Ziel ist jedoch der südlichste Punkt Südamerikas, Kap Hoorn, weshalb wir steuerbords den Magdalena-Kanal befahren, dann den Cockburn-Kanal und von da aus – nun schon in der Nacht – auch zum Pazifik gelangen, jedoch viel weiter südlich als Magellan. Am Ballenero-Kanal kehren wir ins Inselgewirr zurück und erreichen über den O‘Brien-Kanal gegen sechs Uhr in der Frühe den Garibaldi-Fjord, den unser Kapitän für eine besondere Überraschung ausgewählt hatte – freilich ohne zu ahnen, dass auch die Natur mit einer kleinen Bescherung aufwartete.

Der Garibaldi-Fjord liegt lang und schmal zwischen den hohen Gipfeln der Bergkette der Cordillera Darwin, mit der die Anden vor dem Südpol noch einmal Höhen bis zu 2500 Metern erreichen; der höchste Berg, der Monte Darwin, misst 2488 Meter. Die steil abfallenden Felsen teils kahl, teils begrünt, jetzt, da der südamerikanische Sommer sich neigt, auch da und dort in den Farben des Herbstes. Dazwischen die silbrigen Bänder der Wasserfälle, die – teilweise wolkenkratzerhoch – herabstürzen, zwischen den Bäumen verschwinden und wieder auftauchen, den Fjord auffüllen, der aber auch vom gewaltigen Gletscher, der ihm seinen Namen gibt, gespeist wird.

Garibaldi-Gletscher

Der Eispanzer ganz am Ende, eingezwängt zwischen zwei Bergrücken, die er wohl vor einiger Zeit noch bedeckte; sie sind nackt und schrundig. Auch hier geht die Gletscherschmelze voran, Eisschollen treiben im Wasser. Der Kapitän manövriert dicht an die Gletscherzunge heran; man kann die Abbrüche sehen, auch wenn uns der Gletscher nicht den Gefallen tut, das Schauspiel des »Kalbens« zu erleben. Dafür bietet er uns etwas, das er noch besser kann und mit dem er klarmacht, dass wir uns nicht auf einer Vergnügungsfahrt befinden, sondern doch irgendwie in den Abgrund des Weltendes schauen.

Der Kapitän hat inzwischen gewendet und für sein Manöver den verdienten Beifall der Schaulustigen empfangen, die nun langsam zurückkehren und sich an Deck, wo gerade zum Frühstück eingedeckt wurde, einen Platz suchen. Zum Hinsetzen kommen sie jedoch nicht, weil plötzlich eine heftige Sturmböe das Schiff ergreift und alles, was sich ungeschützt an Deck befindet, hinwegreißt. Die leichten Korbsessel rutschen wie auf einer Bobbahn zur Reling, stapeln sich dort auf und werden vom nächsten Windstoß über Bord gewirbelt. Blaue Tischtücher reißen sich los und vereinigen sich zum Tanz mit dem aufgescheuchten Personal, das zu retten versucht, was noch zu retten ist – und sich selbst kaum auf den Beinen halten kann. Um das Schiff schäumen die Wellen, auch im kleinen Swimmingpool inmitten der Frühstückstische ist plötzlich Wellengang, eine Woge peitscht sich auf und regnet zwei Stockwerke höher die Aussichtsplattform ein – samt den Neugierigen, die sich dort oben sicher wähnten. Ein Lautsprecher warnt die allzu Abenteuerlustigen, sich doch lieber vom Deck zurückzuziehen, da flaut der Wind auch schon wieder ab, und wir können den Fjord sicher verlassen, um die Gordon-Insel zu passieren – und an der ihr gegenüberliegenden Seite die »Gletscher-Allee«, eine Perlenkette (vermeintlich) ewigen Eises im Vorfeld des Beagle-Kanals.

Auch das Eis dieser Gletscher stammt aus der Cordillera Darwin. 1882/83 hatte eine französisch geführte Expedition mit Teilnehmern verschiedener Länder sie entdeckt und sogleich besitzergreifend benannt – nach der Nationalität der Seefahrer und ihrem Schiff. So findet man hier den Gletscher »Romanche« sowie den spanischen, den deutschen, den französischen, den italienischen und den holländischen Gletscher. Danach ist der Beagle-Kanal erreicht – und um die Mittagszeit die Grenze zwischen Chile und Argentinien. Ein Inselchen in der Mitte des Kanals – mit einem einfachen Grenzpfahl. Ein Patrouillenboot legt bei uns an, und die Beamten erledigen geräuschlos ihre Arbeit, obwohl es über den Verlauf dieser Grenze, die hier in einem wie vom Lineal gezogenen Rechteck verläuft, durchaus geteilte Meinungen zwischen beiden Ländern gibt. Über all dem die Erhabenheit der Andengipfel, und zwei Stunden später taucht Ushuaia auf, die südlichste Stadt Argentiniens und – wie sie nirgends vergisst zu betonen – der ganzen Welt.

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Ushuaia liegt malerisch vor hohen, schneebedeckten Berghängen und überrascht durch die Farbigkeit seines Panoramas. Blau, Gelb, Grün, Rot, Violett, Orange – der gesamte Farbkasten scheint bemüht worden zu sein, um die kleinen, allenfalls wenige Stockwerke hohen Häuschen so auszustatten, dass sie in der langen dunklen Jahreszeit ein aufheiterndes Bild abzugeben vermögen. Die lebhafte Hauptstraße zieht sich am Ufer entlang, von ihr gehen es aufwärts zu den Wohnhäusern; auch hier werden die besseren Quartiere bald von Holz- und Wellblechhütten abgelöst. Wie schon Punta Arenas wurde auch Ushuaia von Sträflingen erbaut, und das Gefängnis ist noch heute der repräsentativste Bau der Stadt. Er beherbergt das Marine- und natürlich das Gefängnismuseum und zieht gewöhnlich mehr Interessenten an als das am Hafen 1979 in einem ehemaligen Bankgebäude eingerichtete Heimatmuseum, das man pompös »Museum des Weltendes« genannt hat.

Der exotische Name des Ortes stammt ausnahmsweise einmal nicht von einem europäischen Eroberer, sondern geht auf die Sprache der Ureinwohner, der Yamana, zurück. Er bedeutet soviel wie »Bucht, die nach Osten schaut«. Aus vielmehr als dem Gefängnis bestand Ushuaia am Anfang des vorigen Jahrhunderts nicht, und als die Strafanstalt 1947 geschlossen wurde, schien das tatsächlich ihr Ende am Ende der Welt. Alles, was die Menschen brauchten, musste hierher geschafft werden, was das Leben teuer machte. Anfang der 1980er-Jahre hatte Ushuaia gerade einmal 5000 Einwohner. Aber mit dem weltweit aufkommenden Tourismus fand die Stadt eine neue Bestimmung. Sie erklärte sich eben zur südlichsten der Welt, und die argentinische Regierung erließ allen, die sich hier engagieren wollten, Steuern und Zölle. Das zog viele aus dem von Wirtschaftskrisen gebeutelten Argentinien und von weiter her an; schon 2001 ergab eine Volkszählung 46 000 Bewohner. Deren Zahl ist seitdem ständig gestiegen; offiziell werden jetzt mehr als 60 000 genannt, aber mancher meint, man hätte die bereits die 100 000 überschritten. Verbunden ist der Aufschwung mit architektonischem Wildwuchs und einer Umtriebigkeit des öffentlichen Lebens, die man am »Ende der Welt« nicht erwartet hätte. Schon hat man dort einen neuen Werbeslogan erfunden: Ushuaia als »Davos des Südens«.

Die Grenzbeamten veranlasst das freilich nicht zu Nachlässigkeit; äußerst penibel prüfen sie mit Metalldetektor und Taschenkontrolle jeden Einreisenden, ehe wir zu einem Bootstrip auf dem Beagle-Kanal aufbrechen können. Ziel sind kleine Inselchen, auf denen Seelöwen, Pinguine und unzählige Vogel um einen Rastplatz kämpfen. Lange bevor wir dort ankommen, begleiten uns Kormorane, Wildgänse, Möwen und nicht zuletzt Albatrosse, die gern Schiffen folgen, um deren Aufwind bei ihrem Gleitflug zu nutzen. Sie bleiben auch ständig in der Luft und machen Ruhepausen in der Regel auf dem Wasser. Andere Vögel verteilen sich über die Inseln, finden immer wieder einen Platz. Pinguine jedoch haben es schwerer und drängen sich auf größeren, oft grün bewachsenen Felsen – vor allem jetzt im Spätsommer, wo sich auch die Jungtiere auf die Reise ins Meer machen, das ihr natürlicher Lebensraum ist. Da müssen die Elterntiere in ihrem eleganten schwarz-weißen Frack den Platz mit dem Nachwuchs im pummeligen, grau-braunen Wollkleid teilen.

Seelöwen-Insel im Beagle-Kanal

Noch größer ist das Gedränge auf den glatt-grauen Eilanden, die die südamerikanischen Seelöwen als ihr Revier erkoren haben. Sie gehören zur Gattung der Mähnenrobben, werden bis zu zweieinhalb Meter groß und 500 Kilogramm schwer. Man sollte meinen, dass diese schweren, unbeholfenen Tiere träge in der Sonne liegen; tatsächlich aber wuseln sie unaufhörlich herum, sind ständig damit beschäftigt, ihre Liegestatt zu wechseln, wobei sie auch schon mal über ihre Artgenossen hinwegrobben, was diese unwirsch, nicht selten mit einem Biss beantworten. Die Männchen sind schwarzbraun gefärbt, die kleineren Weibchen mit einem helleren Tabakbraun ausgestattet. Erstere achten darauf, dass keiner der Rivalen seinem Harem zu nahe kommt; auch dadurch sind die Seelöwen in dauernder Bewegung

Was außer dem vielfältigen Getier noch auffällt, sind die scharfkantigen schwarzen Felsen, die allenthalben nur wenig aus dem Wasser ragen und die wir mit unserem Katamaran gekonnt umschiffen. Einem Kreuzfahrtriesen könnte das schon schwerer fallen – und tatsächlich, im Jahre 1930 versank hier, bei den Islas Les Eclaireurs, das deutsche Passagierschiff »Monte Cervantes«, das auf dem Weg nach Kap Hoorn war. Um die Mittagszeit, als den Kreuzfahrern gerade ein erlesenes Mahl aufgetragen wurde, lief der 14000-Tonner mit 1372 Menschen an Bord auf eine Klippe und kippte nach Backbord. Zwar gelang es, die Schotten und Luken zu schließen und alle Passagiere mit den Rettungsbooten an Land zu bringen, aber das Schiff selbst sank am folgenden Tag völlig, nachdem der Kapitän noch versucht hatte, es aus der Gefahrenzone zu manövrieren. Er selbst konnte sich nicht mehr retten, das Schiff liegt heute noch im Beagle-Kanal; lediglich einige Ausrüstungsgegenstände, die Taucher aus 133 Metern Tiefe bargen, kann man jetzt im Weltende-Museum von Ushuaia bestaunen.

Es gab also schon vor 90 Jahren ein Problem, das jetzt immer drängender wird – das der Kreuzfahrten in ökologisch sensible Zonen. Damals stellte es sich vor allem als Gefahr für die Passagiere dar, verfügte doch das Personal oft nur über ungenügende Kenntnis der Beschaffenheit des Meeresbodens. Der Lotse auf »Monte Cervantes« jedenfalls hatte die dunkle Masse im Wasser für Tang gehalten, ein fataler Irrtum, wie der Gebietsgouverneur später in seinem Bericht feststellte:

»Ich hatte Einsicht in alle örtlichen Berichte; der Unfall war darauf zurückzuführen, dass man die Tatsache ignoriert hatte, dass die Durchfahrt mit einem Schiff dieses Tiefgangs viel zu gefährlich war.«

Zwar kommt auch heute noch derart menschlichen Versagens vor, wie erst vor sieben Jahren die Havarie der »Costa Concordia« vor der Insel Giglio im Mittelmeer mit 32 Todesopfern zeigte, doch sind inzwischen die Risiken für die Natur weitaus größer. Denn der Tourismus an die Südspitze Amerikas und von dort weiter in die Antarktis nimmt beständig zu. Waren es in der 1980er-Jahren nicht mehr als 2000 Reisende, lag diese Zahl in der Saison 2007/08 bereits bei 46 000. Zwar ging sie dann infolge der argentinischen Wirtschaftskrise zurück, erreichte aber schon 2012/13 wieder 35 000. Fünf Jahre später waren es 51 000 Touristen in der Saison. Allein diese Masse an Besuchern führt nach einer Studie des Umweltbundesamtes zu Veränderungen in den Habitaten von Pflanzen und Tieren und trägt so zu deren Gefährdung bei. Deshalb sei es wichtig, »alle Störungen der Flora und Fauna sowie Schäden des empfindlichen Ökosystems der Antarktis so gering wie möglich zu halten oder ganz zu vermeiden.«

Obwohl selbst die Veranstalter die Gefahren eines derartigen Massentourismus für die Umwelt nicht leugnen können, werben sie kräftig für Abenteuerreisen auch ans südliche Ende der Welt und erweitern ständig die Palette der Möglichkeiten. So sind inzwischen Wasserski, Tauchen, Fallschirmspringen, Touren ins Landesinnere möglich geworden. Und sie behaupten dabei sogar eine das Umweltbewusstsein stärkende Funktion solcher Ausflüge. Normale Reisende würden in leidenschaftliche Verfechter des Klimaschutzes verwandelt, heißt es auf der Website des zu den Marktführern zählenden Erlebnisreisen-Veranstalters Intrepid, der dort zum Beweis die Meereswissenschaftlerin Charlotte Caffrey zitiert:

»Für viele Reisende ist die Reise in die Antarktis ein einschneidendes Erlebnis. Wir hatten schon Reisende an Bord, die direkt nach ihrer Rückkehr nach Hause auf Elektroautos umgestiegen sind. Und sogar welche, die ihren Beruf gewechselt haben.«

Das klingt sehr nach jenen Kaufangeboten im Versandhandel, die behaupten, man könne »sparen«, weil ja ein Rabatt gewährt werde, und bei denen man angesichts des letztlich zu überweisenden Preises dann doch ständig draufzahlt. Denn gleichzeitig mit solchen Verheißungen verhindern die Reiseveranstalter konkrete Maßnahmen zum Schutz der Umwelt. Zwar wurde den Schiffen in Richtung Antarktis verboten, ihre Maschinen mit Schweröl zu betreiben, doch auch eine Havarie mit Leichtöl wäre mit irreversiblen Folgen für die ökologischen Systeme verbunden. Eine Reduzierung der Passagierzahl auf den Kreuzfahrtschiffen und eine Versicherungspflicht für Umweltschäden, die die Reisen verteuern würde, kamen bisher trotz aller Bemühungen ebenfalls nicht wesentlich voran. Deshalb rät der österreichische Schriftsteller und Musiker Harald Friedl, sich ernsthaft die Frage zu stellen: Ist es mir das wert? Und er gibt darauf seine Antwort: »Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass jeder Mensch ein Anrecht auf jede Reise hat …«

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Auch ohne Tourismus hinterließ allein die »Kultivierung« des Gebietes um Feuerland und Kap Hoorn bereits bleibende Schäden. Wir konnten das zum Beispiel im Nationalpark Tierra del Fuego beobachten, der heute über weite Strecken nicht von der ursprünglichen Flora und Fauna, sondern den Hinterlassenschaften der Kolonisierung geprägt ist. An der Lapataia-Bucht endet einerseits die von Alaska über den gesamten Kontinent führende und nur selten unterbrochene Panamericana, mit etwa 30 000 Kilometern, die längste Autostraße der Welt; andererseits stoßen wir von dort schon nach kurzer Zeit auf »Wälder« aus dürrem Trockenholz, die über glucksenden Mooren wahre Geisterszenerien entstehen lassen. Sie sind das Resultat der Zerstörung der ursprünglich dichten Baumbestände, vor allem verschiedener Buchenarten, durch die Ansiedlung von zunächst nur 25 Bibern vor etwa 70 Jahren. Mit ihnen wollten Siedler ähnlich gute Geschäfte machen wie mit deren Artgenossen in Kanada, doch das mildere Klima ließ ihr Fell nicht so dicht und weich wachsen; die mindere Qualität drückte den Preis. Also ließ man die Tiere wieder frei, und ohne natürliche Feinde vermehrten sie sich in rasender Geschwindigkeit – und veränderten fast ebenso schnell die Landschaft. Ihre Dämme und der Kahlschlag der Wälder ließen neue Bäche und Seen entstehen, was Naturschützer wiederum nicht schlecht finden. Heute leben nach Schätzungen 150 000 bis 200 000 Biber in der Region, und allmählich werden sie zur Landplage, gegen das noch kein wirksames Mittel gefunden wurde.

Es gibt weitere Beispiele für die Veränderung von Flora und Fauna am Ende der Welt, wenn auch nicht immer so folgenreich. 50 Millionen Guanakos, mit den Kamelen verwandte Huftiere, lebten in Südamerika, ehe die spanischen Eroberer kamen. Man jagte sie wegen ihres Felles, mehr aber noch um Nahrungskonkurrenten der später auf den weiten Grasflächen angesiedelten Schafe auszuschalten. Heute gibt es nur noch 600 000, und nur wenige bekommen wir zu Gesicht, selbst im Nationalpark – dafür hoppeln Kaninchen furchtlos über den Wanderweg, und eine Magellan-Gans verlässt mit drei Jungen einen Teich; für sie sind außer Menschen allenfalls Füchse eine Gefahr.

Inzwischen sind auch die Königskrabben bedroht, wollen doch norwegische Unternehmen im Beagle-Kanal Zuchtfarmen für Lachse einrichten, und die derzeitige chilenische Rechtsregierung mit dem knallharten wirtschaftsliberalen Präsidenten Sebastián Pi?era an der Spitze unterstützt dies uneingeschränkt. Sollten diese Raubfische, die hier ebenfalls keine natürlichen Feinde haben, ins offene Wasser gelangen, wäre der Krabbennachwuchs eine leichte Beute, ebenso wie viele Fische und andere Meerestiere.

Letztes Postamt am Roca-See

All das wird einem kaum bewusst, wenn man um den Roca-See wandert, so malerisch ist und so unberührt erscheint die Landschaft. Sanfte Hügel, immer wieder von Wasserläufen durchzogen, vielfältiger Bewuchs mit Gräsern und Schilf. In gemäßigter Ferne Berge, die sich allmählich auftürmen zu schneebedeckten Gipfeln. Und darüber ein Kunstwerk aus Wolken, das sich jeder adäquaten Beschreibung entzieht. Und als ironischer Kontrapunkt schließlich ein Steg mit Bootshaus, das sich selbst als »südlichstes Postamt der Welt« bezeichnet, in dem ein mürrischer Vollbart einen Stempel auf jedes Papier drückt, das man ihm hinhält – für jeweils einen Dollar. Will man eine wirkliche Postsache auf den Weg bringen, dann kostet das mit Briefmarke und je nach Zielort 13 bis 18 Dollar, und wer weiß schon, ob das kostbare Stücke tatsächlich ankommt.

Auf dem Rückweg nach Ushuaia passieren wir einen Steinbruch, eine Pferdekoppel, einen Golfplatz, eine Station der Kleinbahn, die früher Sträflinge zur Arbeit brachte und heute Touristen befördert, den Flughafen, an dessen Erweiterung ständig gearbeitet wird – also das gesamte Programm menschlicher Unrast, die eben auch am Weltende nicht aufhört. Und wir – als Teil dessen – können am Hafen nicht einmal mehr so lange warten, bis das bunte Schild mit der Aufschrift »Ushuaia – fin del mundo« als Beweis unseres Hier-gewesen-Seins unverstellt zu fotografieren ist; es sind zu viele mit der gleichen Absicht am Ort.

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Beagle-Kanal zwischen Argentinien und Chile

Am Abend legen wir in Ushuaia ab, die Fahrt geht den Beagle-Kanal hinab in östlicher Richtung. Die Wasserstraße ist nach dem Schiff benannt, mit dem ein Europäer sie erstmals im Jahre 1835 befuhr und das eine besondere Bedeutung dadurch erlangte, dass der junge Charles Darwin an Bord war und bei dieser Reise, die ihn auch auf die Galapagos-Inseln führte, wesentliche Erkenntnisse für seine Evolutionstheorie gewann. Da im Kanal die Grenze zu Chile verläuft, machen wir im südlichen Grenzort Port Williams kurz Station und sind nun offiziell wieder in diesem Land, zu dem auch die Wollaston-Inseln gehören. Deren südlichste ist Kap Hoorn, das zugleich als der Südpunkt Amerikas gilt, obwohl es weitere chilenische Inselchen gibt, die noch südlicher liegen. Aber wichtiger als alle Geographie ist der Mythos, der mit einem Ort verbunden ist. Und Kap Hoorn umwehen von Anfang an die Erzählungen der Seefahrer, bedeutete doch dieser 425 Meter hohe Felsen für sie nicht selten Leben oder Tod. Denn hier, wo das Land zu Ende ist, können sich die Winde frei entfalten – und tun es auch oft, werden zu Stürmen, Orkanen, die das Wasser peitschen und die Schiffe, fast jeder Größe, tanzen lassen. Bis zu 265 Stundenkilometer Geschwindigkeit können die Stürme hier erreichen.

Der Holländer Willem Cornelisz Schouten gilt als der erste, der das Kap im Jahre 1616 umrundete und nach seinem Geburtsort Hoorn benannte. Nach ihm kamen Tausende andere – und wohl Zehntausend blieben vor Kap Hoorn, im eiskalten Wasser, als Gestrandete, in die Tiefe Gerissene, Ertrunkene. Man schätzt, dass 800 Schiffswracks hier auf dem Meeresboden liegen. Ganz entsprechend die Schilderungen der Davongekommenen. Darwin war 1832 einer der ersten und anfangs noch angetan:

»Der Abend war ruhig und klar, und wir genossen einen schönen Blick auf die umgebenden Inseln.«

Dann aber die Wende:

»Kap Horn indes forderte seinen Tribut und schickte uns noch vor der Nacht einen Sturm gerade in die Zähne … Große schwarze Wolken rollten über den Himmel, und Regen und Hagel stürzten mit solcher äußersten Heftigkeit auf uns herab, dass der Kapitän sich entschloss, in Wigwam Cove einzulaufen.«

Aber selbst in dieser kleinen Bucht

»alle Augenblicke ein heftiger Windstoß vom Berge, welcher das vor Anker liegende Schiff rollen ließ«.

Das Fazit des Weltumseglers:

»Kap Hoorn reicht aus, um eine Landratte eine Woche lang von Schiffswracks, Gefahren und Tod träumen zu lassen.«

Schriftsteller fügten einiges aus ihrer Phantasie hinzu, so Herman Melville 1855:

»Bei Kap Horn gerieten wir in schweren Sturm. Bei Nacht verlor ich auf einen Schlag drei meiner besten Offiziere und fünfzehn Mann mit der Großrah: die Spiere krachte mitsamt den Stroppen durch, als sie versuchten, das vereiste Segel mit Hievern einzuholen. Um das Schiff zu erleichtern, warfen wir die schwereren Matesäcke über Bord, ebenso die meisten Wasserschläuche, die auf Deck verzurrt lagen.«

Oder Jules Verne 1906:

»Die Meere um Kap Horn, nun ja, die stehen verdientermaßen in schlechtem Ansehen. Dass man die Schiffbrüche an diesen Küsten gar nicht mehr richtig zählt, und dass Seeräuber sich gar kein besseres Feld für ihre verbrecherische Tätigkeit wählen können, das will ich auch ohne Widerrede zugeben.«

Oder gar Jack London 1914:

»Eine graue Finsternis lag über dem Universum. Die Wolken grau, die großen, anstürmenden Seen bleigrau. Die rauchenden Wellengipfel eine kochende, graue Masse. Die Gesichter der Matrosen waren voller Schrammen und Beulen, und die Leute litten furchtbar. Es waren die reinen Schatten von Männern.«

Kap Hoorn mit Leuchtturm und Militärposten

Nun, heute muss man all dies nicht mehr fürchten; dennoch ist die Umrundung des Kaps kein reines Vergnügen. Als wir in der Morgenstunde das Archipel erreichen, weht ein steifer Wind, der Schaumkämme entstehen lässt, aber eben nur Kämme und keine steilen aufpeitschenden Wogen. Gleichzeitig regnet es – so wie hier an 280 Tagen im Jahr. Im trüben Grau taucht das Kap auf, ein gewaltiger Keil, der sich nach den Seiten verjüngt und wie ein toter Mann im Wasser liegt – mit markantem Kinn und flachem Brustkorb. Links vom Gipfel ein Leuchtturm, einige barackenartige Gebäude, eines, die Militärstation, mit heftig wehender chilenischer Flagge, das andere zivil und das wohl wirklich südlichste Postamt der Welt, denn hier stempelt der Wachtposten auch Karten und Briefe ab, eher pro forma, denn die meisten nehmen sie gleich wieder mit; ihnen genügt das Siegel als Andenken, und sie fürchten, es könne auf dem weiten Postweg nach Hause verloren gehen. Man kann, wenn die See es zulässt, unterhalb des 250 Meter hohen Plateaus anlegen und über eine Holztreppe hinauf gelangen – für den Diensthabenden und seine Frau weniger eine Belästigung als Abwechslung, die schon wetterbedingt nicht allzu häufig vorkommt. Der Posten hat wenig zu tun. Er muss vorüberfahrende Schiffe registrieren, mitunter auch an seine Vorgesetzten melden, mehr nicht.

Unser Kapitän schickt zwar auch ein Beiboot aus, um den Landeplatz zu erkunden, aber das Urteil ist negativ, und so bleibt uns nur der Blick hinauf und der Trost, dass dort eigentlich wenig zu sehen ist. Einer, der oben war, beruhigt uns mit seiner Schilderung im Internet:

»Wir steigen tausendundeine knarzende Holzstufen hinauf und erreichen schließlich die mit struppigem Gras und Flechten bewachsene Hochebene, von der man einen genialen Panoramablick hat. Ein ausgelatschter Pfad führt zu einem einstöckigen Wellblechhaus … Leben auf einem Mythos? Ich denke mir, dass Kap Hoorn … schnell wieder zu dem schrumpft, was es eigentlich ist: ein Felsklops am Ende der Welt. Ohne Kino.«

Wir umrunden die Insel mit dem spanischen Namen »Cabo de Hornos« von Norden erst nach Westen und dann um die Südspitze herum gen Osten. Dabei kommt auch das stilisierte stählerne Albatros-Denkmal in Sicht, das den Gipfel des Kaps ziert. Der Sturmvogel, der sich von den Winden kilometerweit übers Meer treiben lässt, steht besonders für den Mythos, der sich mit Kap Hoorn verbindet. Für die Seeleute leben in ihm die Seelen der vielen Toten zu Füßen des Felsens weiter; die chilenische Dichterin Sara Vial hat den Vers zum Mahnmal verfasst:

Abschied von Kap Hoorn

»Ich bin der Albatros, der am Ende der Welt auf dich wartet.

Ich bin die vergessene Seele der toten Seeleute,

die Kap Hoorn ansteuerten von allen Meeren der Erde.

Aber sie sind nicht gestorben im Toben der Wellen.

Denn heute fliegen sie auf meinen Flügeln in die Ewigkeit

mit dem letzten Aufbrausen der antarktischen Winde.«

Die Winde sind stärker geworden, der Regen peitscht uns immer stärker ins Gesicht, und die fotografische Ausbeute leidet unter diesen Bedingungen, aber so ist es nun einmal bei Kap Hoorn. Und all das ist natürlich nichts im Vergleich zu dem, was die Pioniere erleiden mussten, die sich schon vor Jahrhunderten hier auf den Weg gemacht hatten. Und was die Umwelt jetzt täglich erleidet, weil sich immer mehr Neugierige wie wir dorthin aufmachen. Wir verlassen das »Ende der Welt«, nicht ohne Sorgen um jene faszinierende Naturwelt, die nicht zuletzt durch menschliche Achtlosigkeit selbst in Teilen zu Ende gehen könnte.

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