(pri) Die Politiker sind unzufrieden mit ihrem Volk. Es folgt nicht, denn es fühlt sich gegängelt. Und das mit Recht: Bundesregierung und Landesregierungen beschränken seit Beginn der Corona-Pandemie ihre Aktivitäten im wesentlichen darauf, Forderungen an die Bürger zu richten, Verbote zu erlassen, Gebote auszusprechen – und damit ihren Freiraum einzuschränken, ihre Rechte zu beschneiden, sie zu reglementieren.
Und das bis heute. Im Katalog der Maßnahmen, die die Runde der Bundes- und Landespolitiker diese Woche beschlossen, fehlt es nicht an Vokabeln des Forderns, Befehlens, Verweigerns: Pflicht, Begrenzungen, Beschränkungen, Sperrstunde, Verbote. Was man jedoch vergeblich sucht, sind Worte, die das Handeln der Regierenden beschreiben, ihre Bemühungen, der Pandemie etwas entgegenzusetzen, Konzepte personeller und materieller Aufrüstung gegen das Virus, vielleicht Ideen, wie man mit Covid-19 leben kann, indem man seine Freizügigkeit einschränkt und nicht die der Bürger. Dass es derartiges Regierungshandeln nicht sofort bei Ausbruch der Seuche gab, ist vielleicht noch verständlich, wenngleich kompetente Warnungen schon vor Jahren zu hören waren, die man jedoch in den Wind schlug. Inzwischen ist aber mehr als ein halbes Jahr vergangen, und es fehlt noch immer an entschlossenem Handeln aus den Staatskanzleien der Länder wie dem Bundeskanzleramt.
Man tat zwar allerhand, um die existentiellen Folgen des Lockdowns für Tausende Bürger zu begrenzen – was wichtig und richtig war, doch dies ficht natürlich das Virus nicht an. Es breitet sich dennoch weiter aus, wenn ihm nicht aktiv entgegengetreten wird, sondern allein passiv. Denn die Bürger registrieren natürlich die mangelnden Aktivitäten der Politik und ziehen daraus Schlüsse fürs eigene Verhalten. Dass die Bereitschaft sinkt, sich den Vorgaben der Tatenlosen zu fügen, ist die logische Folge. Insofern haben sich die Regierenden die Entwicklung der letzten Wochen selbst zuzuschreiben. Und Angela Merkels Klage »Es reicht einfach nicht, was wir hier machen.« war letztlich Selbstkritik, auch wenn sie das so nicht meinte.
Eine der größten Sorgen der Politiker ist, dass die Kapazitäten der Krankenhäuser bei einem weiteren Anstieg der Infektionen nicht ausreichen könnten. Zwar stehen mittlerweile genügend Betten und auch Beatmungsgeräte zur Verfügung, doch beruhigend ist das nur, wenn auch fachkundiges Personal in ausreichender Zahl vorhanden ist. Daran jedoch mangelt es, wie die Berliner Charité und die Universitätsklinik Frankfurt/Main warnten. Schlechte Bezahlung und unzureichende Arbeitsbedingungen in der Vergangenheit trugen dazu bei, aber daran hat sich substantiell bisher kaum etwas geändert. Vielmehr müssen die Betroffenen mit Warnstreiks darauf aufmerksam machen, dass ihnen Beifall vom Balkon nicht genügt, sondern dass sie in Tarifverhandlungen etwas erstreiten wollen. Gesundheitsminister Jens Spahn jedoch sucht in Mexiko und Kosovo nach billigen Pflegekräften, weil den Krankenkassen das Geld fehlt, sie angemessen zu bezahlen.
Als neuer Engpass erweisen sich inzwischen auch die Gesundheitsämter, die bei der Nachverfolgung der Infektionsketten nicht mehr nachkommen. Zwar wurde Personal gewonnen, nicht zuletzt durch Unterstützung der Bundeswehr, aber oft fehlen Büroräume und Arbeitsmittel, um die Arbeit aufnehmen zu können – ein weites Feld für die Politik, konkrete Unterstützung zu leisten.
Ähnlich unbefriedigend ist das Engagement beim Kampf gegen Covid-19 vor Ort, zum Beispiel durch eine durchdachte Teststrategie, die vor allem Risikogruppen zugute kommt. Lange Zeit wurden weder die Beschäftigten in Krankenhäusern und Pflegeheimen noch Patienten oder Heimbewohner zureichend getestet; der Grund war vor allem ein Streit darüber, wer die Kosten tragen soll. Während in finanzstarken Institutionen wie dem Profi-Fußball, schnell Geld für umfassende Tests aller Beteiligten verfügbar war, wurden anderswo erst einmal Verfügungen erlassen, wer alles nicht unbedingt getestet werden müsse. Und in Bayern, wo Ministerpräsident Söder den Balltretern gern nacheifern wollte, scheiterte er an der eigenen Verwaltung, die nicht gut genug aufgestellt war, um die Testergebnisse auch zeitnah zu übermitteln. Und wann die vollmundig von Spahn angekündigten Schnell-Tests tatsächlich Kliniken und Altersheimen zugute kommen, muss wohl noch abgewartet werden.
Ein weiteres Beispiel für das Versagen der Exekutive sind die Schulen, bei denen rechtzeitig klar war, dass Unterricht nur bei ausreichender Belüftung und funktionierenden Hygieneeinrichtungen möglich sein würde. Doch die langen Sommerferien wurden nicht genutzt, um dafür auch in alten und maroden Schulgebäuden die technischen Voraussetzungen zu schaffen. Gewiss liegen Handwerkerkapazitäten nicht auf der Straße, aber vielleicht wäre es möglich gewesen, unter den Firmen des Messe- und Veranstaltungsbaus mit ihren zahlreichen Kurzarbeitern einige zu finden, die in die Bresche springen – vor allem dann, wenn sie dabei von der Politik tatkräftig und unbürokratisch unterstützt werden. Auch Theatern, Kinos und anderen Kulturstätten könnten sie vielleicht nützlich sein, zum Beispiel beim Einbau moderner Wärmetauschanlagen – mit Zuschüssen aus den Haushalten des Bundes und der Länder.
Man könnte diese Liste (noch) fehlender Konzepte und Ideen bei den politisch Verantwortlichen getrost fortsetzen. Statt aktiv zu werden, um Covid-19 die Entfaltungsmöglichkeit zu nehmen, beschränkten sie sich zumeist auf den Appell an die Bevölkerung, das ihre zu tun, was in aller Regel auch erfolgte und erfolgt. Doch mit einer allein passiven Haltung kommt man einer solchen Herausforderung nicht bei; sie verlangt schon den ganzen Einsatz – von oben nach unten. Wenn es aber daran weiter mangelt, ist das Unheil – so Merkel – tatsächlich nicht abzuwenden.
(Eine leicht gekürzte Fassung dieses Textes ist am 23. Oktober 2020 in »Neues Deutschland« erschienen.)