(pri) Irgendwie kommt man sich heutzutage manchmal vor wie zu Kaisers Zeiten 1914. Damals rief Wilhelm II. pathetisch aus: »Ich kenne keine Parteien mehr. Ich kenne nur Deutsche.« Heute heißt es vom Bundespräsidenten: »Wir müssen unsere Anstrengungen im Kampf gegen die Pandemie dringend weiter verstärken. Das gilt für die politischen Entscheidungen auf allen Ebenen … Das gilt aber auch für unser persönliches Handeln. Jeder und jede muss sich fragen: Was kann ich tun, damit sich das Virus nicht noch weiter verbreitet?«
Der Kampf gegen den Feind – damals war es Russland, heute ist es die Pandemie – soll alle einen. Und tatsächlich: Wer die täglichen Zahlen über Neuinfektionen, den Notstand in Krankenhäusern, über die Todesfälle hört, scheut sich, dem Ruf nach einheitlichem Handeln zu widersprechen. Fast alle Parteien marschieren in einer Front, die Medien sind in diese längst eingebettet, und selbst die Gerichte verbergen ihre Bedenken mehr und mehr hinter der Losung: Wir sind alle Korona-Gegner.
Sie tun das, weil sie es müssen. Ihre Regierung hat sie in diese Lage gebracht. Diese hat – gewiss ungewollt, aber doch zumindest fahrlässig – buchstäblich einen Notstand organisiert, der den Lockdown unumgänglich machte. Sie hat alle rechtzeitigen Vorkehrungen gegen den Ausbruch einer solchen Seuche unterlassen – seit Jahren schon, aber auch noch angesichts der Gefahr in diesem Sommer. Zu aktiven Maßnahmen gegen Covid-19 konnte sie sich nie so recht aufraffen; folglich blieb nur die passive Vermeidungsstrategie mit ihrem derzeitigen Höhepunkt und ungewissen Aussichten.
Bereits 2012 wurde zwar unter Federführung des Robert-Koch-Instituts eine Risikoanalyse »Pandemie durch Virus Modi-SARS“, erarbeitet, die bis in fast alle Details das Geschehen des Jahres 2020 voraussagte, aber am Ende stuften die Wissenschaftler, die heute zu Recht in heller Aufregung sind, die Eintrittswahrscheinlichkeit nur in »Klasse C: bedingt wahrscheinlich« ein und hielten die Parlamentarier, für die sie das Szenario erstellt hatten, von den erforderlichen und gewiss kostenintensiven Vorsorgemaßnahmen durch die zusätzliche Interpretation der Risikoklasse C als »ein Ereignis, das statistisch in der Regel einmal in einem Zeitraum von 100 bis 1.000 Jahren eintritt«, ab. Folglich passierte acht Jahre lange wenig bis nichts; dann erwies sich die Schlussfolgerung des RKI plötzlich als total falsch, was eigentlich wenig überraschend war, wurde doch diese so weit entfernte Eintrittswahrscheinlichkeit in der Analyse selbst durch nichts untermauert, sondern eher aufgezeigt, wie häufig und nahe vergleichbare Ereignisse aufgetreten waren.
Die Fehleinschätzung traf die meisten Länder, das unsere eingeschlossen, wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Und entsprechend schlecht waren auch wir vorbereitet. Im Frühjahr folgte der erste Lockdown mit schweren Folgen, die sogar den sonst so selbstbewusst auftretenden Gesundheitsminister Jens Spahn zu dem Eingeständnis veranlassten, man werde »in ein paar Monaten einander wahrscheinlich viel verzeihen müssen«. Doch mit einer ausgeprägten Lernfähigkeit war dies nicht verbunden, sondern eher mit dem Prinzip Hoffnung, als die Infektionszahlen langsam wieder zurückgingen.
Denn in den Monaten danach wurde nur wenig Wirksames gegen das Virus unternommen. Schulen stattete man nicht so aus, dass beim Unterricht die Ansteckungsgefahr reduziert wurde. Die Corona-App erwies sich als wenig praktikabel. Alten- und Pflegeheime, in denen die Hauptrisikogruppe lebt, erhielten monatelang nicht ausreichend Schutzkleidung für das Personal, ebenso verzögerte sich die Durchführung von Tests der Beschäftigten wie Bewohner, die auch heute noch nicht Standard sind. So trugen die Beschäftigten das Virus ungewollt in die ansonsten hermetisch abgeriegelten Einrichtungen. Die Folge war, dass jeder dritte Corona-Tote in einem Heim gelebt hatte – eine Zahl mit eher steigender Tendenz, die nur ungern kommuniziert wird.
Es kann aber nicht genügen, solches Versagen nur »zu verzeihen«; vielmehr geht es darum, seine Ursachen aufzudecken, Verantwortlichkeiten festzustellen und konkrete Schlüsse zu ziehen. Immerhin geht es um Menschenleben, die aufs Spiel gesetzt wurden und werden. Doch die Regierenden sonnen sich angesichts der beginnenden Impfaktion bereits wieder in Selbstzufriedenheit, wecken Hoffnungen, versprechen faktisch die Rückkehr zu einer Art Status vor der Pandemie. Dabei sind Ablauf und Erfolg der Immunisierung noch lange nicht abzusehen. Und Maßnahmen gegen das Virus, seine Ausbreitung und Modifizierung bleiben ebenso auf der Tagesordnung wie Vorbeugung und Behandlung. Sie werden Geld und Kapazitäten kosten und den vollen Einsatz staatlicher Stellen erfordern – sonst ist der nächste Notstand nur eine Frage der Zeit.