(pri) Angefangen hatte es mit dem von pseudodemokratischem Sendungsbewusstsein gespeisten Versuch der EU, nach umstrittenen Präsidentschaftswahlen in Belarus und einem gewaltsamem Vorgehen des zum Sieger erklärten Alexander Lukaschenko im Jahre 2020 einen regime change herbeizuführen. Geführt hat dieser Kurs zu einer Menschenrechtskatastrophe an der Außengrenze der EU zu Belarus, weil beide Seiten brutal ihre vermeintlichen Interessen vertreten – der eine wie die anderen auf dem Rücken von Flüchtlingen, die in diesem Konflikt förmlich zerrieben werden.
Diese Flüchtenden – überwiegend aus Afghanistan, Irak, Syrien und dem Iran – sind selbst das Resultat von westlichen Bestrebungen, Regimewechsel in ihren Ländern durchzusetzen, was zu Krieg, wirtschaftlichem Niedergang und Perspektivlosigkeit führte. Sie fliehen vor dem, was geopolitische Strategen in ihren Ländern hinterließen; sie suchen eine Zukunft, und natürlich richtet sich ihr Blick auf jene Nationen im Norden, die nicht zuletzt durch die Ausbeutung des Südens reich wurden – darunter auch jene, die ihr Flüchtlingselend verursachten.
Für all dies sind Belarus und Lukaschenko nicht verantwortlich, wohl aber die Gegenseite, EU und NATO, die sich nun als Moralapostel aufspielen und zugleich selbst nicht anders handeln als der Gegeißelte. Und das schon seit Jahren nicht nur an dieser Grenze der europäischen Festung, sondern überall, wo Flüchtende versuchen, sich durch Migration eine Perspektive zu geben. Im Mittelmeer werden Schiffbrüchige immer wieder ihrem Schicksal überlassen, obwohl das Gesetz anderes vorschreibt. In Griechenland, Kroatien, Ungarn werden Geflüchtete, die es trotz Mauer und Stacheldraht auf die EU-Seite geschafft haben, unter Missachtung des Asylrechts brutal zurückgetrieben. Angesichts dessen ist verständlich, dass Flüchtende jede Lücke, die ein Durchkommen verspricht, nutzen – ob bei spanischen Enklaven in Nordafrika, am Ärmelkanal oder eben jetzt in Belarus. Für die Flüchtlinge ist Lukaschenkos Land eine neue Chance, zumal es ihnen gegenüber eine Freizügigkeit praktiziert, die – obwohl diese zu den von der EU immer wieder beschworenen Menschenrechten zählt – bei der Europäischen Union schon lange nicht mehr zu haben ist.
Das tut der belarussische Diktator natürlich nicht aus Nächstenliebe, sondern mit klarem Kalkül, aber dabei muss man sich hier nicht lange aufhalten. Das Verbrecherische des Regimes Lukaschenko wird uns Tag für Tag von fast allen hiesigen Medien in bemerkenswertem Gleichklang, der fast schon an eine selbstverordnete Gleichschaltung denken lässt, nahe gebracht. Weitaus weniger jedoch thematisieren die Mainstream-Medien das ebenso Verbrecherische, das auf dem Boden der EU, in den baltischen Nachbarstaaten von Belarus, vor allem aber in Polen geschieht. Bezeichnend ist schon, dass sie authentische Bilder davon nicht etwa von der EU-Seite beziehen, sondern dafür auf die Medien von Belarus und Russland zurückgreifen müssen – so als würde dort jene Pressefreiheit praktiziert, an der es in den angrenzenden EU-Staaten mangelt.
Die EU hat sich zu einem Staatenbund entwickelt, in dem nicht nur die Interessen der Gemeinschaft gegenüber ihrer Umwelt Priorität haben, sondern in der auch die einzelnen Mitglieder ihre eigenen nationalistischen Interessen vertreten – und das mit wachsender Aggressivität. Dabei tun sich die östlichen Länder besonders hervor. Frustriert darüber, dass sich von all den hehren Versprechungen, mit denen sie in die EU gelockt wurden, nur wenig verwirklicht hat, verfolgen sie ihre eigene Agenda, die sich um Werte und Menschenrechte immer weniger schert, sondern den maximalen Vorteil im Auge hat. Flüchtende in Not sind da ein Störfaktor; von vornherein lehnten sie deren Aufnahme und Integration strikt ab – und das übrige Europa sah nachsichtig zu. Mehr noch: Es orientierte sich zunehmend an solcher Abschottungspolitik und übernahm sie sukzessive; Dänemark und Österreich sind da am weitesten, aber andere folgen ihnen Schritt für Schritt.
Mit Lukaschenkos Antwort auf die Sanktionen gegen sein Regime eskalierte diese seit langem bedrohliche Entwicklung, denn plötzlich erschienen die Flüchtlinge an der polnischen Grenze. Und die Warschauer Regierung, in der der Vorsitzende der PiS-Partei, Jaroslaw Kaczynski, stets das letzte Wort hat, reagierte so wie der östliche Nachbar Belarus – mit brutaler Gewalt. Mindestens neun Menschen sind an der polnischen Mauer bereits umgekommen, Tausende harren dort aus, weil sie in die EU wollen; diese aber lässt zu, dass die polnische Regierung sie rechtswidrig daran hindert, Asylanträge zu stellen, sie stattdessen nach Belarus zurücktreibt.
Und die EU ruft gar zur Solidarität nicht etwa mit den Flüchtenden, sondern mit Kaczynskis Administration auf, bietet zusätzliche Grenzwächter zur Abwehr der Migranten an. Sie wirft Lukaschenko mit Recht Erpressung vor, betreibt diese aber selbst, wenn sie Fluggesellschaften und Reisebüros unter Androhung von Sanktionen zur Einschränkung des freien Reiseverkehrs nötigt. Sie lässt nicht nur zu, sondern beteiligt sich an der Eskalation des Konflikts, indem er zunehmend mit militärischem Vokabular beschrieben wird. Dabei blendet sie weitgehend aus, dass sich Polen unter seiner jetzigen Regierung immer schneller in Richtung eines autoritären Staates entwickelt, der seinem Nachbarn Belarus mehr und mehr ähnelt. Schon sind die meisten Medien in der Hand der PiS. Um die Gleichschaltung des Justizwesens mit der Regierungspolitik tobt ein heftiger Kampf. Außer einem verschämt erhobenen Zeigefinger hat die Europäische Union gegen den Bruch ihr eigenen Regeln bisher nichts Wirksames unternommen.
Die EU hat auch keinerlei Konzept zur Bereinigung der vor allem für die Flüchtlinge katastrophalen Situation und lässt sich von Kaczynski-Polen immer tiefer in Unrechtshandlungen treiben. Einen direkten Kontakt zu Lukaschenko lehnt sie ab, nachdem sie ihn 2020 zur persona non grata erklärte. Wieder einmal hat sie sich übernommen und damit die tiefe Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit sichtbar werden lassen. Und schlimmer noch: Indem sie sich gemein macht mit Regierungen, die um des eigenen Vorteils willen Recht und Gesetz missachten, verliert sie jegliche Glaubwürdigkeit, wenn es um den Kampf für Demokratie und Menschenrechte geht. Sie scheitert schon an den Problemen im eigenen Haus, weil sie selbst Teil des Problems ist.